Ottmar Fuchs sucht nach einem Weg, um im Nahost-Konflikt zweiseitig auf der Seite der Opfer zu stehen und würdigt die darin liegende, konstitutive und zugleich zu riskierende Überforderung.
Was am 7. Oktober 2023 durch die Hamas geschah, ist durch nichts zu relativieren. Hier sind Menschen nicht „nur“ getötet, sondern im Ermordet-Werden noch bis zum Äußersten entwürdigt worden. Schon die Berichte davon kann man nicht aushalten. Selbstverständlich gibt es eine Vorgeschichte in der Okkupation, Unterdrückung und Aussperrung palästinensischer Menschen, aber niemals kann das alles auch nur im Hauch eine Relativierung dessen sein, was am 7. Oktober geschehen ist, schon gar nicht für diese irrsinnige Lust an der Grausamkeit.
Kein „Ja-aber“
Die von palästinafreundlicher Einstellung kommende Rede des oft hörbaren „Ja-aber“ ist also völlig unangebracht: „Ja, das war schlimm, aber schlimm ist auch, was vom Staate Israel aus palästinensischen Menschen angetan wurde und wird.“ Wenn in dieser, wenn auch nur hintergründig rechtfertigenden Weise der 7. Oktober relativiert wird, steht dann auch von der anderen Seite einer ähnlichen Relativierung dessen, was der Staat Israel in seinem Krieg gegen den Gazastreifen tut, nichts im Weg. Denn auch hier ist eine ähnliche Redeweise zu hören: „Ja, es ist schlimm, dass nun über 30.000 Menschen und darunter ca. 15.000 Kinder vom israelischen Militär getötet wurden (und dass dies den Kindern gegenüber ein tausendfacher Kindermord[1] ist)“, was aber mit dem berechtigten Anliegen in rechtfertigender Weise relativiert wird, dass sich Israel schützen und das Existenzrecht verteidigen dürfe und müsse.
Leiderfahrungen sind immer individuell
Es verändert nicht das Grauen des Leidens, wenn man den von der Hamas vergewaltigten und getöteten Frauen sagt, dass dahinter eine Vorgeschichte ist und es verändert auch nicht das Grauen der Leiderfahrung der palästinensischen getöteten Kinder und ihrer Eltern, dass am 7. Oktober Menschen in Israel derart vernichtet wurden. Solche Leiderfahrungen sind immer individuell, nie allgemein, sie haben ihre eigene Wucht, die keiner Verzweckung oder Legitimierung ausgesetzt werden kann.
Mehrseitige Einseitigkeit
Es gibt eine Möglichkeit, diesem Dilemma gegenseitiger Rechtfertigungsversuche nicht zu rechtfertigender Handlungen zu begegnen, nämlich die beiden Orte der Leidzufügung nicht mit einem Ja-aber, sondern mit einem Und zu verbinden. Dies ist absolut keine ausgewogene Position, sondern behält in sich die paradoxe Einseitigkeit, in jedem Fall auf der Seite der Opfer zu sein.
Einseitig auf der Seite der Opfer
Es ist immer einseitig, sich gegenüber den Gewalttätern auf die Seite der Opfer zu begeben und dafür kann, jedenfalls in entsprechenden Texten, auch der biblische Gott beansprucht werden.[2] Aber leider gibt es auch biblische Texte, die auf einer Seite bleiben und den Erwählten selbst das Recht geben (und dabei auch Gott das Recht geben), gegnerischen Menschen Leid zuzufügen und sie zu vernichten,[3] vor allem wenn die Bedrängten selbst Oberhand gewinnen.
Siegerphantasien von Minoritäten
Das Ja-aber steuert meist auf ein Entweder-oder zu und es gibt ja auch akute Gefährdungen, in denen es nur ein Entweder-oder gibt: in der Notwehr und in der Existenzsicherung. Wenn solche Situationen aber überwunden sind, geht es darum, möglichst schnell in den anderen Modus des Sowohl-als auch zu wechseln, damit es nicht wieder zu den akuten Situationen kommt. Dies gilt auch für den Wechsel vom Opfer- in den Herrschaftsstatus. Siegerphantasien von Minoritäten sind ebenso verständlich wie gefährlich, wenn sie zu Majoritäten werden.[4] Und: Menschen müssen nicht unschuldig sein, um den Opferbegriff beanspruchen zu dürfen, wenn ihnen grauenvolles Leiden zugefügt wird. Umso mehr gilt das, wenn sie selbst nicht an Gewalttaten beteiligt waren und sind.
Mehrfache Solidaritäten
In einem Konflikt „von außen“ zweiseitig auf der Seite derer zu stehen, denen Leid zugefügt wird, ist alles andere als eine ausgewogene Position, sondern realisiert die einseitige Parteinahme (wenn man so will auch Gottes) für alle Leidenden auf der einen wie auf der anderen Seite. Auch das Leid der anderen zu sehen, ist keine Ausrede derer, „die sich scheuen, klipp und klar auf der Seite der Opfer von Gewalt zu stehen“,[5] sondern riskiert die Zerrissenheit, für die Leidenden auf der einen wie auch auf der anderen Seite die Empathie und Solidarität nicht aufzugeben.[6] Die Intensitäten solchen wechselseitigen „Auf der Seite der einen und der anderen Stehens“ verändern sich, je nachdem in welchen Zeiten es besonders die eine oder andere Seite trifft.
Akute Situationen
verschärfen die Parteinahmen
Und so verstehe ich, wenn sich Wolfgang Beck in einer Sendung des „Wort zum Sonntag“ in der ARD wenige Tage nach den Anschlägen der Hamas auf israelische Menschen und damit unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens vom 7. Oktober für die Einseitigkeit auf der Seite der Menschen in Israel ausspricht und dafür auch Gott selbst in Anspruch nimmt. Akute Situationen verschärfen die Parteinahmen. Nur gilt dies auch für andere akute Situationen, in denen man ebenfalls klipp und klar an der Seite der Opfer von Gewalt stehen sollte. Ich weiß: beides ist oft nicht auszuhalten und bringt gerade in der deutschen Konfliktlage enorme Verwerfungen, Unterstellungen und massive Vorwürfe ein, nur für die eine Seite sensibel und für die andere unsensibel zu sein.[7] Weil das Ganze offensichtlich nicht ohne die Unterstellungen abläuft, man würde sich nur für die Gegenseite engagieren, weil man auch diese andere Seite sieht.[8]
keine neutrale Position
Wenn empathiefähige Menschen das „Und“ gelten lassen und ernst nehmen, sind sie immer hoffnungslos überfordert. Denn es gibt eine Ubiquität des Leidens, der Kriege, der Naturkatastrophen auf dieser Erde, der man diesbezüglich nur nachhinken kann. Und es gibt akute Situationen, in denen man mit einer Seite bereits übervoll mit Mitschmerz ist. Wichtig ist aber, dass dies dann nicht zu Vergleichgültigung oder gar Verachtung des Leidens auf der anderen Seite führt. In Wirklichkeit ist das immer sehr kompliziert, hin- und herreißend, nervenaufreibend und im Diskurs konfliktverschärfend. Wer sich um „ausgleichende“ Wahrnehmung von leidenden Menschen bemüht, kann gar nichts mehr ausgleichen. Gegenüber Leidzufügung gibt es jedenfalls keine neutrale Position: dieser Satz gilt immer und kann schnell von der einen Seite auf die andere Seite und wieder zurück wechseln.
In der Schwebe halten
Solche Einsichten kann ich gut ins Gespräch bringen, z. B. mit dem Konzept der „Multidirektionalen Erinnerung“ des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg.[9] Rothberg wurde allerdings vorgeworfen, dass er die Singularität von Auschwitz in seinem Konzept der Multiperspektivität und damit der gegenwartsbezogenen Multiwahrnehmung von Leiden auflöse. Als Mensch, der zur Schicksalsgemeinschaft des Volkes mit deutscher Sprache und deutscher Kultur gehört und der von Jugend an in dieser „Betroffenheit“ existiert, kann ich dieses Argument sehr gut verstehen. Wie viele aus meiner Generation habe ich die palästinensische Seite erst viel später in meinem Leben wahrgenommen.[10] Andreas Wirsching schreibt hier: „Unübersehbar aber bringt die postkoloniale Komparatistik erinnerungskulturelle Risiken … leicht kann die postkoloniale Globalperspektive dazu missbraucht werden, die deutschen Verbrechen unter der NS-Herrschaft in ein universalistisches Entlastungsnarrativ einzuordnen.“[11] Dem stimme ich zu und möchte diese Aussage zugleich generativ verstehen, insofern andere genozidale Katastrophen demgegenüber ihre eigene, dann auch andere Singularität behaupten dürfen. Kein Leidensbereich muss sich selbst relativieren und ist auch nicht gezwungen, die eigene Singularität auf Kosten der Relativierung anderer Leidensräume herzustellen.[12]
Das Singuläre der Shoa
Die Singularität von Auschwitz darf allerdings nicht so erinnert werden, dass sie, weil die Shoa singulär war, nicht mehr geschehen könne. Aller Ruf „nie wieder!“ hat ja die tiefsitzende Befürchtung, dass so etwas wieder geschehen kann. Man darf ihre Singularität nicht derart in der Geschichte isolieren, dass all das, was im Holocaust geschehen ist, nicht überall auf der Welt in verschiedenen Partialitäten geschieht und in massiver Konzentration wieder geschehen könnte. Die spezifische Konzentration ist das Singuläre, nicht alles, was in der Shoa zusammengeballt war. Zudem sind die „kleinen“ Anfänge zu solchen entsetzlichen „Konzentrationen“ als solche, nämlich im Horizont eines darin möglicherweise beginnenden „Holocaust“ für bestimmte Menschen und Menschengruppen zu identifizieren und zu bekämpfen.
Radikale Eigenwertigkeit jedes Leidens
Und vor allem hilft es nichts, die von Israel unternommenen Leidzufügungen gegenüber dem palästinensischen Volk im Horizont des Holocaust zu relativieren.[13] Es hatte und hat nichts damit zu tun. Jedes Leid, jeder Schmerz und jeder Tod haben ihre eigene Tiefe und damit Singularität. Manche Vogelperspektive kann Unterscheidungen einbringen, muss sich aber der je persönlichen Grundsingularität allen Leidens aussetzen. Es geht dabei nicht um Analogien, sondern um die jeweilige radikale Eigenwertigkeit jedes Leidens.[14]
Nie mit Zufriedenheit abzuschließen
So schlage ich vor, dass deutsche Shoa-Erinnerung und rechtverstandene postkoloniale Einstellung sich gegenseitig die Waage halten und kritisch „ergänzen“, wobei dieses letztere Wort völlig unzureichend ist. Es handelt sich um eine oft schmerzhafte Schwebe und gegenseitige Kritik dieser Haltungen, die nie mit Zufriedenheit abgeschlossen werden kann.[15]
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Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
Titelbild: Artem Maltsev / unsplash.com
[1] Dieser Analyse darf man selbstverständlich nicht damit über den Mund fahren, dass es sich hier um ein antisemitisches Stichwort handele. Dies würde bedeuten, mit Erinnerungen ideologisch umzugehen, und sie dafür zu benutzen, gegenwärtige Wirklichkeit zu verschleiern und ihre Benennung als Antisemitismus zu kriminalisieren.
[2] Vgl. Wolfgang Beck, Den inneren Kompass nicht verlieren, in: „Das Wort zum Sonntag“, in: https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/wort-zum-sonntag/videos/spricht-pfarrer-wolfgang-beck-hildesheim-video120.html. (28.11.23)
[3] Zur entsprechenden Ambivalenz biblischer Texte vgl. Ottmar Fuchs, Nichts ist unmöglich. Gott! Aspekte einer postkolonialen Bibelhermeneutik, Würzburg 2023
[4] Vgl. Musa W. Dube, “What is the Truth” (John 18,38), in: Theologische Quartalsschrift 202 (2022) 2, 254-273, 269, auch 272.
[5] Vgl. Beck, Den inneren Kompass nicht verlieren.
[6] Vgl. Charlotte Wiedemann, Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Berlin 2022. Um es etwas einfach zu sagen: Mir tut es weh, und wenn ich daran denke, kann ich nicht einschlafen, was Menschen am 7. Oktober zugefügt wurde, und mir tut es weh und ich kann ebenfalls nicht einschlafen, wenn ich daran denke, was seit Wochen in Gaza den Menschen angetan wird. Und beides macht mich bis in körperliche Reaktionen hinein „fertig“.
[7] So Benedikt J. Collinet mit seinem diesbezüglichen Vorwurf der Unsensibilität in seiner teils missverstehenden Besprechung meines Buches: Nichts ist unmöglich, in: Bibel und Kirche 79 (2024) 3, 114-115, 115. Aber mag die interessierte Lektüre selbst entscheiden, wie weit seine Einschätzungen meinem Text tatsächlich entsprechen.
[8] Vgl. eindrucksvoll Viola Raheb, Nächstes Jahr in Bethlehem; Berlin 3/2021, 224-226.
[9] Vgl. Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2012: vgl. dazu Micha Brumlik, Gedenken ohne zu verrechnen, in: Theologische Quartalschrift 202 (2022) 2, 175-186. Ähnlich mit seinem Konzept eines universalistischen Humanismus der jüdische Philosoph Omri Boehm, Die Würde der Menschheit, in Süddeutsche Zeitung Nr. 265 vom 17.11.2023, 9: ders., Niemand hat das Recht auf „Terrorismus“, in Süddeutsche Zeitung Nr. 239 vom 17.10.2023, 9.
[10] Vgl. Ottmar Fuchs, Jüdische Klagepsalmen in Palästina – eine Herausforderung auch für die praktische Bibelhermeneutik, in: Ulrike Bechmann, Ottmar Fuchs (Hg.), Von Nazareth bis Bethlehem: Hoffnung und Klage, Münster 2002, 259-290; ders. Kontextuelle Theologie in Palästina, in: Israel und Palästina II-III, 2020, 59-74.
[11] Andreas Wirsching, Ist der Tod kein Meister aus Deutschland mehr?, in: DIE ZEIT Nr. 19 vom 5. Mai 2022, 17.
[12] Sehr fein bringt die Geschichte vom „Marsch der Lebenden“ im Jahr 2022 (erzählt in: Fuchs, Nichts ist unmöglich 50) die Kompliziertheit des Ebengesagten und dann aber auch die Einfachheit der Solidarisierungen zum Vorschein.
[13] Auch noch in fataler Weise theologisch begründet bei Friedrich-Wilhelm Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürfen, Bd.2, Gütersloh 1994, 275-285.
[14] Vgl. Alexander Estis, Man wird ja wohl noch vergleichen dürfen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 299 vom 29.12.2023, 9.
[15] Vgl. Ottmar Fuchs, Momente einer Mystik der Schwebe, Ostfildern 2023, 123-141; vgl. dazu das Themenheft „Konfliktzonen postkolonialer Theologie“ der Theologischen Quartalschrift 202 (2022) Heft 2, hg. von Michael Schüßler und Sebastian Pittl.