Natan Sznaider sollte als zeitgenössischer Denker bekannter sein, findet Joachim Valentin und stellt mit ihm einen bemerkenswerten Denker und Zeitgenossen vor.
Am Sonntag den 26. Mai 2024 hat Natan Sznaider in Frankfurt für sein literarisches, publizistisches und kulturelles Werk der mit 50.000€ dotierte Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung verliehen bekommen.
Aber an wen geht dieser renommierte Preis, den vor ihm Schimon Peres (2001), Amos Oz (2003), Daniel Barenboim und Edward Said (2006), Avi Primor (2012), Tom Segev (2015), die israelische Autorin Lizzie Doron mit ihrer Übersetzerin Mirjam Pressler (2018) und der deutsch-israelische Publizist Joseph Croitoru (2021) erhalten haben?
Sznaider wurde 1954 als Sohn von aus Polen stammenden Überlebenden des Holocaust in Mannheim geboren. Im Alter von 20 Jahren ging er nach Israel. Dort studierte er an der Universität Tel Aviv Soziologie, Psychologie, Philosophie und Geschichte. 1984 wechselte er an die Columbia University in New York und wurde dort 1992 mit einer Arbeit über die „Sozialgeschichte von Mitleid“ promoviert. Von 1994 bis 2023 lehrte er als Soziologieprofessor an der Akademischen Hochschule Tel Aviv.In Juli erscheint sein jüngstes Buch im Hanser Verlag: „Die jüdische Wunde: Leben zwischen Anpassung und Autonomie“.
Die Shoah als singuläres Ereignis?
Seine wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten, um die es im Folgenden in der gebotenen Kürze gehen soll, sind alle von großer Präzision und großem Engagement geprägt. Fixpunkte sind dabei die begriffliche Fassung des Holocaust und Beiträge zur Debatte um eine neue Erinnerungskultur, wie sie aktuell um das Arbeitspapier der Kulturstaatsministerin Claudia Roth geführt werden. Ob die Shoah ein singuläres Ereignis ist oder im allgemeinen postkolonialen Diskurs eingeebnet werden soll, ist nach den Einlassungen von Michael Rothberg, A. Dirk Moses und Aleida Assmann in einem „Historikerstreit 2.0“ zu einer zentralen Frage geworden. Hier ist auch die Katholische Theologie betroffen und zwar gleich doppelt: In ihrer Verantwortung gegenüber der Wurzel, die uns trägt (Röm 11,18 / nostra aetate 4) – dem Judentum und den heute lebenden jüdischen Menschen einerseits, aber auch in der zunehmend sichtbar werden Verantwortung von Theologie und Kirche im Kolonialismus und dieser stützenden und von ihr profitierenden Mission andererseits.
Auseinanderentwickelte Diskurse
Auch die Frankfurter Preisgeber:innen loben Sznaider besonders dafür, dass er den Begriff der „kosmopolitischen Erinnerung“ im globalen Zeitalter geprägt habe. Damit treffen sie den vermutlich wichtigsten und originalsten Beitrag, den Natan Sznaider 2022 zu den seit dem 7. Oktober in bedrohlicher Weise aktuell gewordenen Debatten geliefert hat, und den ich jedem Theologen und jeder Theologin zur Lektüre empfehlen möchte. Was heißt das genau? In Fluchtpunkte der Erinnerung beschreibt Sznaider in präzisen Analysen wie sich zwei Diskursgruppen, die eine Partikularität für sich beanspruchen und europäisch-universalistische Weltsichten kritisieren, die linke kolonialismuskritische und die jüdische antisemitismukritische, die einmal gemeinsam angetreten waren gegen die Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, sich auseinanderentwickelt haben.
Strategischer Universalismus
Zugleich plädiert er mit Verweis auf die gemeinsamen emanzipatorischen Wurzeln von Denker:innen wie Hannah Arendt, Claude Lanzmann, Edward Said und Frantz Fanon für eine Erinnerung an diese Wurzel. Zum Kronzeugen wird der US-amerikanische schwarze Soziologe Du Bois (1868-1969), einer der frühen Begründer der postkolonialistischen Debatte, die „historisch gesehen eine Debatte über Rassismus und Antisemitismus […] und zugleich eine Debatte über Aktivismus“ war. „Da geht es um den inklusiven Blick auf die Verbrechen und Gräuel der Welt, auch nicht um eine Relativierung der Übel, sondern eher um eine historische Einbettung“ (199). Und weiter: „Wie beim jüdischen Zionismus, der aus den verschiedensten jüdischen Menschen eine Nation schaffen wollte, sah der schwarze Zionismus in allen schwarzen Menschen eine große einheitliche Gruppe.“ (201) Sznaider verweist auf die Begriffe „strategischen Universalismus“ und „radikalen Humanismus“ von Paul Gilroy, die ebenfalls ein Gegeneinander-Ausspielen von Kolonialismus- und Antisemitismuskritik vermeiden: „Schwarz-Sein und Judentum werden aufgehoben, der Nationalstaat wird abgelehnt und […] mit Faschismus in eins gesetzt.“
Dieser „Universalismus verbindet alle Opfergruppen. Der Völkermord an den Herero 1905, die Vernichtung der Juden in Europa, die Apartheidpolitik Südafrikas und die israelische Besatzungspolitik müssen nicht unbedingt im kausalen Zusammenhang stehen, aber sind alle miteinander durch Kolonialismus und Ausbeutung verflochten.“ (207) Uns allen schreibt er gerade heute ins Stammbuch, dass es nicht um „Dialog“ oder „Versöhnung“ gehe, denn die Untaten seien geschehen und könnten nicht wieder gutgemacht werden, sondern es geht „um die gemeinsame Verantwortung für den öffentlichen Raum, auch wenn er durch unüberbrückbare Gegensätze gekennzeichnet ist.“ (212)
Probleme einer
globalen Empathiefähigkeit
Darüber hinaus reflektiert Natan Sznaider seit seiner Dissertation die Vermarktung des Mitgefühls im Kapitalismus (Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie, Weinheim 2021). Sznaider zeigt hier, von einer Vielzahl von poetischen und künstlerischen Zeugnissen unterfüttert, dass die Aufklärung keineswegs gescheitert ist, sondern die wachsende Reichweite demokratischer Staaten und der iconic turn das Mitgefühl sogar befördert. Er fokussiert auf „öffentliches Mitgefühl“, also organisierte Kampagnen zur Verminderung des Leidens von Fremden (35). Er deckt dabei sämtliche Epochen von der Antike bis zur Gegenwart ab und nimmt auch Bezug auf den Holocaust als Urszene des modernen ethischen Bewusstseins und der Kodifizierung der Menschenrechte. Die Bilder um den Mord an George Floyd sind für ihn exemplarisch: „Die Eindringlichkeit dieser Bilder entkoppelte das Ereignis von dem spezifischen Ort und der Zeit und sie bringen auf diese Weise – wenigstens einen historischen Augenblick lang – die nationalen Mauern der globalen Apathie zum Einsturz, die nach innen Räume des Mitfühlens und Mitleidens und nach außen Räume der Mitleidlosigkeit schaffen und aufrechterhalten“ (36f). Sznaider hat hier zentrale Probleme einer globalen Empathiefähigkeit benannt, die uns nach dem 7. Oktober weit unmittelbarer betreffen als je zuvor und die zugleich Viele mit Pessimismus erfüllen.
Unlösbare Spannungen
der Gesellschaften in Israel
Allen, die am 7. Oktober aus einem Schlaf des Halbwissens über Israel und den Nahen Osten aufgewacht sind und nach belastbarer Information suchen, bietet Natan Sznaider aber auch eine genaue soziologische Analyse des Landes Israel und seiner Perspektive auf den Nahostkonflikt zur internationalen Debatte. So vor allem in seiner umfänglichen Monographie Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern. (Berlin 2017/Tb 2024): Angesichts der Krise, die das Land derzeit durchlebt, stellt sich Sznaider immer wieder neu die Frage, ob man die israelische Gesellschaft überhaupt mit den klassischen Methoden bewerten kann. Der Zionismus sollte die Juden aus ihrer Weltlosigkeit befreien und ihnen eine ‚normale‘ territoriale Souveränität geben, sie durch einen ‚normalen‘ Staat mit seinen Institutionen und staatsbürgerlichen Kriterien zu einem Teil der Weltgemeinschaft machen. Aber genau das ist eine der unlösbaren Spannungen, die die Gesellschaften in Israel durchziehen. Es ist daher schwierig, allgemeingültige historische und soziologische Modelle und Kriterien auf Israel anzuwenden. In Gesellschaften in Israel offenbart sich also ein Widerspruch zwischen dem theoretischen Anspruch auf eine „normale“ Gesellschaft und der israelischen Realität. Durch ikonische Ereignisse und Bilder zeigt Sznaider, wie die Gesellschaften in Israel sich ständig gegenseitig herausfordern und um eine Definition israelischer Identität ringen.
Gestörtes Verhältnis zur
internationalen Gemeinschaft
Bereits 2002 haben sich Natan Sznaider und Navid Kermani in einem Mailwechsel Gedanken zur Situation in Israel gemacht, die sehr persönlich-freundschaftliche, in wesentlichen Punkten aber bis zur letzten Seite streitbare Korrespondenz (Israel – eine Korrespondenz, München 2023) haben sie nun unverändert, aber durch den Kontext beunruhigend angeschärft, veröffentlicht. Sznaider schreibt tatsächlich bereits 2002:
„Israel ist in einer prekären Lage und bewegt sich fast schon geistesgestört auf einen Abgrund zu. Teils bewegt sich das Land selbst dorthin, teils wird es von den gleichfalls gestörten Palästinensern dorthin getrieben. Die Rechnung der Wahnsinnigen geht auf: Israel wurde durch die voraussehbare Reaktion auf den Terrorismus dazu gebracht, international zu einem Pariastaat zu werden. Jetzt stehen wir da als Kriegsverbrecher, Anti-Demokraten, Rassisten, sogar Faschisten.“ Und auch das gestörte Verhältnis Israels zur internationalen Gemeinschaft hat eine lange Vorgeschichte: „Wir laden die UNO aus und behaupten, dass die internationale Moral eine antisemitische Konspiration sei. Wenn man dabei bedenkt, dass es ohne diese internationale Moral und ohne die UNO vielleicht keinen Staat Israel gäbe, wird das noch verrückter.“ Eine Aporie, die bis in die komplexe Entstehungsgeschichte des Staates Israel zurückgeht: „Ohne internationale Moral und auch ohne das schlechte Weltgewissen für das Verbrechen, das an den Juden begangen worden ist, gäbe es gar keine internationale Legitimität für Israel, denn die Welt hat berechtigte Probleme damit, Gottes Versprechen an uns als politische Legitimation anzuerkennen.“ (56)
Die Zeit der Shoah ist nie „danach“.
Sznaider ist bei alldem ein israelischer Wissenschaftler, der Deutschland und die deutschen Diskurse aus eigener Anschauung bestens kennt. „Der selbstlose Universalismus, der sich für die meisten Deutschen und Europäer in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat, kann für Israelis nach 1945 nur noch als ideales Bild existieren, nicht als Lebenswelt“, schrieb Sznaider in einem Essay auf SpiegelOnline, in dem er die unüberwindbare Kluft“ zwischen den Juden in Israel und den Deutschen darlegt: „Für uns Juden und insbesondere Israelis gab und gibt es keine Nachkriegszeit. Die Zeit nach der Schoa ist nie ‚danach‘, sie ist immer im Jetzt. Wenn man das nicht verstehen und erkennen kann und sich der Illusion des einfachen Menschseins hingibt, dann können die Konsequenzen prekär sein, das ist unsere Erfahrung. Das Bestehen auf dieser nicht universellen Haltung zur Welt ist eine schwer erträgliche Zumutung in einer Gesellschaft gleicher Freiheits- und Rederechte, die ja darauf aufbaut, dass alle Menschen gleich sind.“ Die politische Konsequenzen dieses unausweichlichen israelischen Partikularismus stehen heute mehr denn je in der Debatte: „Das erklärt auch die israelische Entschlossenheit, sich zu verteidigen und sicherzugehen, dass so ein Angriff nie wieder geschehen wird. Selbst wenn der moralische und politische Preis sehr hoch sein wird.“
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Titelbild: Yaroslav Lutsky / unsplash.com
In deutscher Sprache zugängliche Werke von Natan Sznaider:
Zusammen mit Daniel Levy: Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt, 2007.
Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern. Berlin 2017.
Hg zusammen mit Christian Heilbronn und Doron Rabinovici, Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin, 2019.
Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. Weinheim/Basel 2021.
Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. München 2022.
Israel – eine Korrespondenz (mit Navid Kermani) München 2023.