Am vergangenen Samstag, 1.6.2024, waren Mitglieder der feinschwarz-Redaktion zu Gast auf dem 103. Deutschen Katholikentag und diskutierten über Erfahrungen von Freiheit und Unfreiheit in Gesellschaft, Kirche und Theologie. Die Statements der Redaktionsmitglieder können Sie hier in gekürzter Form nachlesen.
Freiheit feinschwarz
Birgit Hoyer
Vor fast 10 Jahren entstand aus einer Erfahrung der Unfreiheit und den Freiheitsgedanken der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils die Idee für ein frei zugängliches theologisches Online-Feuilleton: Feinschwarz. Unter dem Stichwort „Freiheit“ finden sich 794 Beiträge – angefangen von 2015 bis heute. Feinschwarz will ein Ort der Freiheit sein, an dem auch Unfreiheiten in – und damit der – Kirche zum Ausdruck kommen, die sie auf die Theologie überträgt, in dem sie darauf besteht, sie zu genehmigen und damit zu beschränken. Feinschwarz ist finanziell und strukturell von Kirche unabhängig.
Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? — Sich nicht mehr vor sich selber schämen.
Ausgehend von dem Nietzsche-Aphorismus: „Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? — Sich nicht mehr vor sich selber schämen.“1 haben wir die Veranstaltung am Katholikentag geplant, um mit Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern über Freiheit und Unfreiheit ins Gespräch zukommen. Das Spektrum des Themas „Freiheit“ auf feinschwarz zieht sich von Bibelauslegung in der DDR über Porträts kämpferischer Frauen bis zu Erfahrungsberichten wie dem von Thérèse Mema Mapenzi zu ihrer Arbeit in der psychosozialen Betreuung von Frauen im Kivu/Ostkongo, die von Gewalt traumatisiert wurden.
Der Beitrag „Frauen zahlen einen hohen Preis, um ihrer Berufung zu folgen“ von Max Josef Schuster am 29.5.2024 lädt z.B. ein, über Freiheit und Berufung nachzudenken. Berufung – so der Eindruck – macht unfrei. Berufung könnte auch Vertrauen in die eigene Freiheit bedeuten. Berufungen werden nicht gesehen – eingekürzt, in dem Freiheit vergeben wird, Unfreiheit der Freiheit vorgeschaltet wird, um Freiheit unter Kontrolle zu halten. Sich diese Freiheit nehmen zu können, auch dafür dient Berufung.
In die Nachfolge Jesu berufen zu sein, heißt Zeuge/Zeugin zu sein. Das „bedeutet ja nicht, gelernte fromme Sätze über längst vergangene Ereignisse zu wiederholen, sondern ‚Zeuge ist, wer sieht‘ – und zwar hier und jetzt. Das haben die Künstlerinnen der Ausstellung „Frauen.Taten.Werke“ beispielhaft gezeigt, indem sie die Aktualität biblisch-kirchlicher Tradition(en) gesehen haben: mit ihrer ‚Witterung für das Aktuelle‘ haben sie mutig den ‚Tigersprung ins Vergangene‘ gewagt. […] Ganz ähnlich, scheint mir, müsste heute evangelisiert werden.“2
In diesem Sinne porträtierte Li Hangartner Dorothee Sölle am 13.5.2021: „Es gibt kaum eine Theologin, deren Werk so eng mit ihrer Gegenwart verknüpft ist. […] Nichts lag ihr ferner als eine Theologie im Elfenbeinturm, ein Glasperlenspiel fernab von Schmerz und Ungerechtigkeit der Welt. […] Von ihr zu lernen heisst, ganz gegenwärtig zu sein. […] Und schliesslich: im Augenblick gegenwärtig sein und Gott darin finden, verbunden sein mit allem.“
Ina Praetorius erinnerte am 19.2.2016, dass die „Wiege der westlichen Demokratie […] in einer patriarchalen Sklavinnen- und Sklavenhaltergesellschaft“ stand. „Aus dem Herrn [der Antike], der sich von seinen lebendigen Besitztümern versorgen lässt, ist die moderne Idee – und Norm – des unabhängigen „Menschen“ hervorgegangen.“ Mit Hannah Arendt löst sie die Polarität der Freiheit der Herren und der Abhängigkeit der für den Herrn Sorgenden auf und sieht menschliche Freiheit als geburtliche Freiheit, als Freiheit in Abhängigkeit: „Vom ersten bis zum letzten Lebenstag ist sie einem Faden zu vergleichen, den ‚man in ein Gewebe … (schlägt), das man nicht selbst gemacht hat.’“ „Religiös sein“ heißt für Ina Praetorius „Abhängigkeiten kultivieren“.
Menschen sind zu dieser Freiheit berufen: in Gesellschaft, Kirche und Theologie! Sie müssen sich ihrer nicht schämen.
Kirche als Raum der Freiheitsbildung
Kerstin Menzel
Ich spreche als evangelische Christin und als Ostdeutsche, geboren 1981. Kirche war Freiheitsraum für meine Eltern, die nicht besonders religiös sind, aber wach dafür, dass es in Kirche immer noch mal etwas mehr gibt als Alltagssprache, Alltagsthemen, Alltagswissen und Alltagsdenkmuster. Dass die biblischen Texte einen Sprachraum eröffnen, der anderes, weiteres, tieferes thematisieren lässt. Der Sprache gibt, wo einem sonst die Worte fehlen. In Situationen von Ohnmacht, am Grab, an den Grenzen der eigenen Kraft. Dass Kirche eine weltweite Vernetzung hat, auch wo die Grenzen geschlossen sind.
Sie haben mich als Kind dorthin geschickt, weil sie mir das mitgeben wollte. Einen Ort in der DDR-Gesellschaft, der diesen Freiraum des Denkens und der Sprache ermöglicht. Nicht zu den Pionieren, sondern in die Christenlehre. Ein anderes Menschenbild kennenlernen, das mit Freiheit zu tun hat und weniger mit Einfügung ins Kollektiv, und das doch auf Gemeinschaft aus ist, aber eine Gemeinschaft der Unterschiedlichen, nicht der Gleichgemachten.
Für die Freiheit sind meine Eltern dann im Herbst 1989 auch auf die Straße gegangen. Am 9. Oktober ging nur mein Vater, damit wir als Kinder nicht alleine wären, falls etwas geschieht. Für die Freiheit einzustehen, das ist manchmal gefährlich. Das habe ich damals irgendwie mitbekommen. Ich denke, dass es auch die Beziehungen aus dem Kreis Junger Ehepaare waren, die meinen Eltern diesen Mut gegeben haben.
Kirche – das war nach der Konfirmation dann über längere Zeit v.a. meine Evangelische Schule, das Schulzentrum in Leipzig. „Nur lebendige Fische schwimmen gegen den Strom.“ Das war irgendwie Motto und geteilte Haltung. Individualität wurde groß geschrieben, schräge Vögel durften sein. Dafür wurde sie als erste Evangelische Schule nach der Friedlichen Revolution 1991 gegründet, erdacht als Ort der Freiheit im gleichgeschalteten Bildungssystem der DDR.
Was ich biografisch erleben durfte, ist für mich auch heute Anspruch und an vielen, vielen Orten auch Realität – mitten in einer nach rechts driftenden, sich anschreienden, homogene Kollektive imaginierenden Gesellschaft. In Gemeinden, in Schulen, in diakonischen Einrichtungen: Kirche als Ort, an dem Vielfalt wertgeschätzt und eingeübt wird. In dem das je eigene Sein vorbehaltlos akzeptiert wird. In dem man respektvoll das Miteinander in Vielfalt aushandelt. In dem Ermutigung geschieht, für die Freiheit auch mal etwas zu riskieren.
(Un-)Freiheitserfahrungen in der Kirche?
Wolfgang Beck
Freiheit und katholische Kirche, das dürfte in der Wahrnehmung vieler Menschen eine paradoxe Kombination sein. Vielen Menschen gilt die katholische Kirche als restriktives System, das mit problematischen Strukturelementen in der Vormoderne festzustecken scheint und mit ihrer erkennbaren Rückständigkeit gegenüber den Freiheits-Errungenschaften moderner, demokratischer Gesellschaften für diese wenig bieten könne, sofern sie nicht sehr schnell und sehr gründlich aufhole, ihre Ungerechtigkeiten und Defizite abräume. Man kann sich auf diese Wahrnehmung und die natürlich nicht von der Hand zu weisenden Problemfelder und Defizite fokussieren: wenn Theolog:innen durch restriktive kirchliche Vorgaben bestimmte Themen in ihrer Arbeit meiden (müssen); wenn kritische Stimmen mit machtvollem Gestus an den Rand gedrängt werden.
Man kann aber auch einen anderen, vielleicht etwas subversiven Weg einschlagen und die freiheitlichen Potenziale im Bestand katholischer Theologie und christlicher Traditionen identifizieren und würdigen: Dazu gehören biblische Überlieferungen, die die Machtlogiken der Herrschenden unterwandern. Und biblische Erzählungen, in denen sich Andeutungen dafür finden, dass das Leben und der Glauben vielfältig und ganz und gar nicht einheitlich und eindeutig ist. Manches davon ist in Facetten kirchlicher Traditionen und Theologien eingegangen – führt dort aber meist ein Schattendasein. Das gilt für die paulinische Charismenlehre oder den breiten geschichtlichen Entstehungsprozess von Ritualen und Sakramenten.
Ein theologisches Element ist mir besonders wichtig, weil es viel mit meiner Tätigkeit in der Pastoralheologie und in Bereichen der kirchlichen Verkündigung zu tun hat. Ich predige als Priester nicht nur regelmäßig in Gottesdiensten, sondern halte in der ARD seit 2012 als einer im Team der Sprecher:innen das „Wort zum Sonntag“. Mit durchschnittlich 1-1,5 Mio. Zuschauer:innen könnte man sich ja leicht vorstellen, dass es bei so einem Tätigkeitsfeld restriktive Vorgaben gibt. Aber das ist überhaupt nicht der Fall. Da gibt es weder Zensur noch irgendwelche thematischen Vorgaben, durch die so eine Sendezeit als Kirchenwerbung genutzt werden könnte. Nichts! Da gibt es insgesamt eine Menge Vertrauen. Und es hat damit zu tun, dass es theologisch eine wichtige Tradition der „Parrhesia“ gibt, also der freien Rede. Das ist ein Motiv der griechischen Antike, ein Bürgerrecht, um in der Versammlung aufzustehen und frei das Wort zu ergreifen – auch wenn es unbequem wird. Der evangelische Kollege Hartmut Leppin hat vor kurzem eine schöne historische Einordnung der „Parrhesia“ publiziert.3 Dass diese Tradition eine wechselvolle Geschichte hat, ist klar. Denn wenn alle Getauften dieses Rede-Recht haben, entsteht eine maximale Dezentralität. Und es verunmöglicht ein „Durchregieren“; es ist ein Mittel gegen Machtmissbrauch.
In einer hochkomplexen, schwer zu durchschauenden Gegenwartsgesellschaft erscheint mir kaum etwas sinnvoller als diese Freiheit der Parrhesia und die daraus entstehende Vielstimmigkeit. Sie ist eine Form der „kooperativen Kompetenzaneignung“, wie es der Politikwissenschaftler Rames Abdelhamid mal genannt hat. Wenn viele in Freiheit mitdenken und zum Mitreden ermutigt werden, erhöht das die Chance auf Verbundenheit, auf ein „Wir“.
Freiheitsgewinne in der Gesellschaft?
Rainer Bucher
Wir genießen enorme Freiheitgewinne, von denen unsere Großeltern nur träumen konnten. Deren Biographien waren durch Herkunft, Geschlecht und Geographie weitgehend vorherbestimmt. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und die strukturelle Individualisierung der Biographien befreite von alten religiösen, familiären und sozialen Vormundschaften und setzte zu einem „eigenen Leben“ frei – und das auf breiter Front. Das ist weltgeschichtlich ebenso singulär wie noch immer recht neu.
Normativ werden diese Freiheitsgewinne durch den liberalen Verfassungsstatt gesichert, der individuelle Schutzrechte des einzelnen gegenüber dem Staat und anderen gesellschaftlichen Akteuren garantiert und eine zentralperspektivische Machtinstanz, früher die Religion, später totalitäre Ideologien, kategorisch ausschließt. Die zentrale Stelle der Macht ist in einer Demokratie leer, die Individuen sind in ihrer Lebensgestaltung sehr weitgehend frei.
Es gibt aber auch spezifische Freiheitsgefährdungen. Da ist zum einen das „stahlharte Gehäuse des Kapitalismus“ (Max Weber), der (fast) alle in Konkurrenz, Wettbewerb, Leistung und viele alltägliche Disziplinierungen zwingt und manche so arm und beschädigt zurücklässt, dass sie kaum mehr wirkliche Freiheitsoptionen wahrnehmen können. Als „kulturell hegemonialer Kapitalismus“ hat er sich über die ökonomische Sphäre in praktisch alle Lebensbereiche hinein ausgebreitet, auch übrigens ins religiöse Feld.
Das Freiheitsgewinne immer auch Freiheitszumutungen sind, gewinnen zudem unterschiedlichste autoritäre Retro-Utopien an Attraktivität, es drohen aber auch autoritäre Zukunftsszenarien, wenn etwa die lange verdrängten ökologischen Gefahren rettende Öko-diktaturen provozieren könnten. Und es gibt spezifische neueste gesellschaftliche Entwicklungen, in denen die Balance von Freiheit des einzelnen gegenüber Freiheit der anderen noch nicht gesichert, ja noch nicht einmal genau verstanden ist: etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz oder auch der sog. Sozialen Medien.
Was bedeutet das für ChristInnen? Erst einmal schlicht: den Einsatz für die im Kapitalismus sozial Gefährdeten in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die Wachsamkeit gegenüber den „weichen“ Versuchungen des kulturell hegemonialen Kapitalismus im eigenen Leben, und den Kampf gegen autoritärer Retro- wie gegen freiheitgefährdende Rettungsutopien und für die liberale menschenrechtsbasierte Demokratie.
Es bedeutet aber vor allem geistlich: die Freiheit – neben der schieren Existenz – als Kern des Geschenks Gottes an die Menschen zu begreifen.
Von der Freiheit überfordert
Teresa Schweighofer
In der Regel denkt man bei Freiheit an die positiven Seiten und Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit sind allesamt große Errungenschaften der letzten Jahrhunderte. Zugleich sind sie in vielen Teilen dieser Welt alles andere als selbstverständlich. Freiheit ist kein Selbstläufer – auch in unseren europäischen Gesellschaften nicht, geschweige denn in weiten Teilen der Erde.
Doch trotz Wertschätzung dieser freiheitlichen Situation begegne ich immer wieder Menschen, die das Gefühl haben an der Freiheit zu verzweifeln, ihr ausgeliefert zu sein. Es sind Menschen, die einen inneren Kampf gegen die Freiheitsüberforderung und das damit einhergehenden Gefühl des ständigen Scheiterns, der Scham und der Angst führen. Vor allem nachdem von bisherigen Wertgaranten und moralischen Markierungen „der Lack weitgehend abgeplatzt sei“ und für eine fundierte eigene Positionsbestimmung sowohl die Zeit als auch die mentale Kapazität fehle, zumal in Zeiten der Dauerkrise, der Unübersichtlichkeit und der Unabsehbarkeit von Folgen des aktuellen Verhaltens.
Dass Freiheit etwas hochambivalentes ist, das ist eine alte Wahrheit: Wahlmöglichkeiten und Handlungsmacht bedeuten immer zugleich unabsehbarer Verantwortlichkeiten und den Zwang zur Wahl. Auch, dass Freiheitserfahrungen überfordern können ist keine neue Einsicht. Und dennoch: Wenn wir heute von Erfahrungen der Freiheit und der Unfreiheit sprechen, dann dürfen diese Erfahrungen der Scham und Angst angesichts großer Freiheit nicht fehlen.
Die Scham angesichts der ehrlichen Antwort auf die Frage: Zu was bin ich fähig? Was kann ich schaffen und was damit auch alles anrichten? Das Erschrecken vor der eigenen Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung. Die Frage, ob man diese angesichts komplexer Zusammenhänge übernehmen kann.
Diese Erschütterungen über die eigene Fähigkeit die geschenkte Freiheit zu missbrauchen, ist eine menschheitsalte Erfahrung. Biblisch spiegelt sie sich in Kains Erschrecken über den Brudermord, im Zorn Davids auf sich selbst, als er Urija opferte um Batseba zur Frau nehmen zu können und im Erschrecken der Salome mit dem Kopf des Johannes in Händen.
Ein bekanntes Reaktionsmuster ist es, die Situation durch strengere Regeln zu entschärfen, Freiheiten eben wieder einzuschränken. Eindeutigkeiten zu schaffen. Dota Kehr besingt das in einem Lied einmal so: „So viel Freiheit – ich bin überfordert, was mach ich daraus? Ich such‘ mir einen Yogalehrer, der mir sagt, wann ich einatmen soll – und wann aus.“4 Auch in Kirche und Theologie kennen wir diesen Impuls zum „Yogalehrer“ zu werden.
Aus christlicher Perspektive gibt es aber noch eine zweite mögliche Reaktion: zu Lernen mit den Ambivalenzen von Freiheit zu leben. Das „Sowohl-als-Auch“ der Schöpfung anzuerkennen, sich auf die Ambiguitätsfähigkeit der christlichen Botschaft zu besinne, auf das „Dazwischen und Darüber hinaus“ Gottes. In der Hoffnung, dass so die Erstarrung, die Scham und die Angst und damit die Freiheitsüberforderung ein wenig an Bedrohlichkeit verlieren.
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Beitragsbild: Madeleine Helbig-Londo, der wir auch von Herzen für ihre organisatorische Unterstützung bei der Veranstaltung danken.
- Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 275. ↩
- Max-Josef-Schuster in seinem Beitrag für feinschwarz am 29.5.2024. ↩
- Vgl. H. Leppin: Paradoxe der Parrhesie. Eine antike Wortgeschichte, Mohr Siebeck 2022. ↩
- Vgl. Dota Kehr: Freiheit. ↩