Für ein geeintes Europa haben die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Vergangenheit und Zukunft eine wichtige Bedeutung. Lilly Schaack schildert Einsichten aus Brüssel.
„Das ist aber schön, dass auch jemand von meiner Kirche hier ist!“, strahlt mich die die Parlamentsmitarbeitende an, als ich mein Namensschild abhole, und wechselt für einen Small-Talk vom Französischen ins Deutsche.
Es ist ein für Brüsseler Verhältnisse ungewöhnlich milder Tag im Februar. Der Winter war grau, nass und ungemütlich wie eigentlich immer in der europäischen Hauptstadt. Da tut ein bisschen blauer Himmel gut. Vor dem Eingang zum Spinelli-Gebäude des EU-Parlaments mischen sich die Tourist*innen mit Parlamentsmitarbeitenden, Lobbyist*innen und Gästen. Heute gehören auffällig viele Geistliche dazu. Man kennt und grüßt, scherzt und vernetzt sich. Denn der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas, hat zum so genannten Artikel-17-Dialog geladen.
Religions- und weltanschauliche Gemeinschaften haben Bedeutung für die Europäische Einheit
Der Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise des Europäischen Union (AEUV), der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt wurde, verpflichtet die Union zum einen, den Status zu achten, den Kirchen, religiöse Vereinigungen und weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten genießen. Zum anderen legt er die Rechtsgrundlage für den „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ zwischen eben diesen Kirchen und Gemeinschaften auf der einen und den europäischen Institutionen auf der anderen Seite. Artikel 17 AEUV betont damit die Bedeutung der Religions- und weltanschaulichen Gemeinschaften für die Europäische Einheit.
Konkret geht es an diesem Tag um die Rolle von Kirchen und anderen weltanschaulichen Gemeinschaften im Kampf gegen Desinformation – 2024 natürlich im Blick auf die anstehenden Europawahlen. „Der religiöse und nicht-konfessionelle Dialog ist entscheidend für den demokratischen Diskurs und damit für Frieden, Zusammenhalt und gemeinsame Lösungen“, erklärt Karas in seiner Begrüßungsansprache den anwesenden Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften und weltanschaulichen Vereinigungen, die sich nun in einem der Plenarsäle des Gebäudes versammelt haben. All diese Werte stünden auf dem Spiel im Super-Wahljahr 2024.
Fast die Hälfte der Weltbevölkerung in über 80 Ländern ist 2024 zur Wahl aufgerufen, unter anderem in Russland, Indien, den USA und der EU. Freilich handelt es sich dabei nicht immer um „echte“, demokratische Wahlen mit einer wählbaren Opposition. Umso bedeutsamer sind die Europawahlen, bei denen vom 6.-9. Juni 350 Millionen wahlberechtigte Bürger*innen zur Wahl von insgesamt 720 Abgeordneten aufgerufen sein werden. Es ist damit nach der Wahl in Indien die zweitgrößte demokratische Wahl weltweit. Und es ist die einzige Wahl weltweit, in der eine transnationale Versammlung direkt von den Bürger*innen gewählt wird.
die zweitgrößte demokratische Wahl weltweit
Eine Eurobarometer-Umfrage des Europäischen Parlaments vom März zeigt, dass das Bewusstsein der EU-Bürger*innen für die Bedeutung der Europawahlen in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. 60% der Befragten sagen, sie seien an den Wahlen interessiert; 71% würden mit hoher Wahrscheinlichkeit wählen gehen – deutlich mehr als noch 2019. Die EU hat in den letzten Jahren in der europäischen Öffentlichkeit an Sichtbarkeit gewonnen, und das Bewusstsein für die Tragweite der Entscheidungen, die in Brüssel und Straßburg gefällt werden, ist gestiegen.
Umso beängstigender empfinden viele die Wahlprognosen, die der extremen Rechten einen starken Zuwachs an Mandaten vorhersagen. Den Umfragen zufolge könnte gerade die rechtsextreme Fraktion Identität und Demokratie (ID), der aus Deutschland bis vor kurzem die AfD angehörte, massiv an Sitzen hinzugewinnen. Die Europawahl wird damit zur Richtungswahl, die die Zukunft der EU und ihrer Demokratien grundlegend bestimmen wird.
Es ist schwer, wenn das grundlegende Einverständnis über den Wert der Demokratie und der Europäischen Union nicht mehr gegeben ist.
Denn die Politiker*innen der ID vertreten nicht einfach nur „andere“ politische Philosophien und Meinungen. Mit den Abgeordneten der ID sitzen Menschen im europäischen Parlament, die die Europäische Union und ihre demokratischen Prozesse an sich untergraben. Es ist schwer, in einem Parlament effektiv zusammenzuarbeiten, wenn das grundlegende Einverständnis über den Wert der Demokratie und der Europäischen Union nicht mehr gegeben ist. Das macht sich schon jetzt im Europäischen Parlament bemerkbar. Die Europawahl im Juni wird die Situation voraussichtlich noch verschärfen.
In Deutschland steht seit ein paar Wochen ferner der dringende Verdacht im Raum, dass Europa und ihre Demokratie manchen Abgeordneten des Europäischen Parlaments so wenig bedeuten, dass sie bereit sind, sie zu verkaufen. Die populistischen Parteien bieten zudem einfache Antworten auf die komplexen Probleme der Zeit. Bedenkt man noch den Einfluss der so genannten FIMI – Foreign Information Manipulation and Interference – wird deutlich, wie herausfordernd es für demokratische Kandidat*innen ist, ihre Standpunkte so zu kommunizieren, dass sie bei den Bürger*innen ankommen und sie überzeugen.
Keine der Krisen lässt sich allein auf nationaler Ebene lösen.
Das ist bitter und gefährlich. Umso mehr ist es das in einer Zeit der „Poly- und Permakrisen“, die die Welt beschäftigen. Die Klimakrise, die Situation an den Außengrenzen, die verschiedenen Kriegs- und Konfliktherde der Zeit – sie alle hängen zusammen und bedingen sich. Nichts davon lässt sich schnell lösen, nichts allein auf nationaler Ebene. Es braucht europäische Lösungen, um den Herausforderungen dieser Zeit effektiv zu begegnen.
Und die Kirchen? Welche Rolle spielen sie in alledem? Schon bei der Europawahl 2019 war ein Rechtsrutsch prognostiziert worden, der in seiner Härte noch einmal durch die damals hohe Wahlbeteiligung abgefedert werden konnte. Am 7. Mai haben daher die Vorsitzenden der christlichen Kirchen in Deutschland in einer ökumenischen Stellungnahme zur Teilnahme an der Europawahl aufgerufen. Darin heißt es: „Die EU basiert auf Werten und Prinzipien, die im Christentum vor- und mitgeprägt wurden: Als christliche Kirchen fordern und engagieren wir uns für eine EU, die sich zur unveräußerlichen, gleichen Würde aller Menschen bekennt. Dem Schutz dieser Würde dienen der Einsatz für Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.“ Bereits im Februar hatte zudem erst die Deutsche Bischofskonferenz und dann auch die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs erklärt, dass sich die Wahl von Parteien mit völkisch-nationaler Gesinnung wie der AfD nicht mit dem christlichen Glauben vereinbaren ließe. Neben der Bitte zum Wahlaufruf durch den Rat hat die Synode der EKD im November 2023 in Ulm zudem dafür plädiert, dass Kirchen Foren zur Diskussion schaffen. So sollen mehr Menschen über gesellschaftlich relevante Themen wie Asyl und Migration, Nachhaltigkeit, Rechtstaatlichkeit und Sicherheit und Verteidigung miteinander ins Gespräch kommen.
Neben dem Wahlaufruf plädiert die Synode der EKD an Kirchen, Foren zur Diskussion zu schaffen.
Zurück zum Artikel-17-Dialog im Europäischen Parlamentsgebäude in Brüssel: dort treffen Vertreter*innen der christlichen Kirchen auf Juden, Muslime, Buddhisten, organisierte Freidenker*innen und Humanist*innen. Eine bunte Gruppe, denen klar ist, dass der Artikel-17-Dialog keine Selbstverständlichkeit ist. Zum einen, weil die gesellschaftliche Relevanz von Religion nicht allen Politiker*innen einleuchtet. Aber auch, weil den Religionen nicht nur ein Ruf der Versöhnung anhängt. Religionen können auch zu Spaltungen beitragen. Derzeit lässt sich unter anderem in Russland beobachten, wie Religion für politische Interessen instrumentalisiert werden kann. So kann Putin auf die treue Unterstützung durch den Moskauer Patriarchen Kyrill zählen, der dem russischen Angriffskrieg eine christliche Legitimation und Notwendigkeit attestiert.
Auch in der EU gibt es politische Themen, bei denen sich rechtsextreme Parteien und manche christliche Gruppen nahezustehen scheinen. Das betrifft besonders den Kontext der Sexualethik mit Themen wie Schwangerschaftsabbruch, gleichgeschlechtliche Ehe und Leihmutterschaft. Hier sind die Brandmauer, die Abgrenzung und inhaltliche Unterscheidung – die zumindest in der Begründung der eigenen Haltung möglich wäre – nicht immer klar erkennbar.
Man habe der „Ideologie des Weltuntergangs“ etwas entgegenzusetzen.
Wahlaufrufe, Bildungsangebote, klare kirchliche Stellungnahmen – all das nennen die eingeladenen Gäste an diesem milden Februartag in Brüssel. Es gibt aber etwas anderes, das auf berührende Weise buddhistische, christliche, muslimische und nicht-konfessionelle Voten an diesem Tag verbindet. Man habe der „Ideologie des Weltuntergangs“ etwas entgegenzusetzen, erklärt der Buddhist Stefano Bettera. Religionen seien Quellen von allerlei Konflikten, aber eben auch von Hoffnung und Phantasie – so der Brüsseler Rabbi Albert Guigui. Glaubensgemeinschaften müssten ihre „prophetische Stimme“ erheben, sagt Hillie van de Streek, die die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) vertritt.
In aller ethischen und dogmatischen Unterschiedlichkeit herrscht ein Einvernehmen an diesem Tag, dass Angst und Vereinzelung nicht gewinnen dürfen, sondern Hoffnung und Gemeinsamkeit. Es sind keine „harten Fakten“ über Kapitalunion und Bürokratieabbau, die am Ende auf dem Tisch liegen. Sondern es sind Worte wie „Geist“ und „Mut“ und „Vision“. Europa ist eine Idee. Es ist die Verheißung einer Weltregion, in der nach Jahrhunderten der Kriege und Konflikte Menschen in Frieden leben, arbeiten, lieben und Zukunft gestalten. In aller Unterschiedlichkeit. Klingt utopisch, klingt unmöglich. Aber mit Verheißungen und trotziger Hoffnung kennen wir Religionsvertreter*innen uns wohl aus. Und den Hoffnungssinn stärken, das ist vielleicht unsere vornehmste Rolle.
Worte wie „Geist“ und „Mut“ und „Vision“
Weiterführende Infos:
Handreichung des EKD-Büros Brüssel mit Informationen zu den Europawahlen und der EU
Kampagne der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e.V. (aej), die sich besonders an junge Wähler*innen richtet
Eurobarometer Umfrage zu den Europawahlen aus dem März 2024
Ökumenischer Aufruf zur Europawahl
Eine Videoaufzeichnung des Artikel-17-Dialogs am 13. Februar 2024 in Brüssel
Lilly Schaack war 2023-2024 Auslandsvikarin im EKD-Büro Brüssel und in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Brüssel. Seit Mai 2024 ist sie Pastorin an der Kultur- und Hochschulkirche St. Petri zu Lübeck.
Bild: Lilly Schaack