Matthias Remenyi blickt anlässlich des Todes von Jürgen Moltmann auf Leben und Werk des prägenden Theologen.
Am Montag dieser Woche, am 03. Juni 2024, ist Jürgen Moltmann im gesegneten Alter von 98 Jahren in Tübingen gestorben. Ein großer Theologe des 20. Jahrhunderts ist gegangen, und zu Recht wird seiner gerade in vielen Beiträgen gedacht. Auch ich gehöre zu denen, die durch ihn geprägt wurden. Ich habe so viel von ihm gelernt: von seiner Theologie der Hoffnung und seiner eschatologischen Theologie insgesamt, aber auch vom Gedanken des leidenden Gottes und der daraus sich entwickelnden panentheistischen Gott-Welt-Relation. Vor allem aber hat mich seine weltzugewandte, erfahrungsgesättigte und existenziell dichte Art und Weise des Theologietreibens fasziniert.
Theologie ist Biografie
Das mag daran liegen, dass für nur wenige in höherem Maße zutrifft als für Jürgen Moltmann: Theologie ist immer auch Biografie.[1] Aufgewachsen in einem liberalen, großbürgerlichen und eher religionsfernen Elternhaus, erfährt er als junger Mensch die Schrecknisse des Zweiten Weltkriegs am eigenen Leib. Ende Juli 1943 überlebt er nur knapp die Zerstörung seiner Heimatstadt Hamburg. Der Freund neben ihm wird durch die Bombe getötet, er überlebt. Das ist die alles umstürzende Grunderfahrung, die ihn dann in der Kriegsgefangenschaft zum Theologiestudium führen und die seine gesamte Theologie fortan prägen und durchdringen wird: Warum habe ich überlebt und nicht er? Und vor allem: Wo ist Gott angesichts des abgründigen Leids in der Welt? Das Thema wird ihn nie mehr loslassen, und sein ganzes Schaffen ist als ein einziger großer Antwortversuch auf diese Frage zu lesen.
Die Theologie der Hoffnung und Der gekreuzigte Gott
1964 erscheint seine Theologie der Hoffnung, die den damals noch in Bonn lehrenden Theologieprofessor mit einem Schlag weltberühmt macht. Mit ihr trägt er die Geschichtlichkeit des Glaubens wieder neu in die Theologie ein. Doch anders als z. B. Wolfhart Pannenberg versteht er Geschichte ganz aus der raum- und zeitumspannenden, messianischen Verheißung heraus, die aus der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel und aus der Auferweckung des Gekreuzigten erwächst: „Die Hoffnungssätze der Verheißung […] wollen […] die Wirklichkeit, die da ist, in die Veränderung hineinführen, die verheißen ist und erhofft wird. Sie wollen der Wirklichkeit nicht die Schleppe nachtragen, sondern die Fackel voran“[2]. Acht Jahre später folgt, nicht minder programmatisch, Der gekreuzigte Gott (1972). Hier stellt Moltmann das Ganze des christlichen Glaubens unter die Perspektive des Kreuzes. Das Buch steht nicht im Gegensatz zur Theologie der Hoffnung, sondern will diese mithilfe einer theologia crucis vertiefen und angesichts der Leiden der jeweiligen Gegenwart auch erden. Mit dem Motiv des leidenden Gottes bietet es die wohl wichtigste Theodizeefigur der Theologie Moltmanns. Wenn aber Gott nur als ein (mit-)leidender Gott zu denken ist, das Kreuz auf Golgota mithin als ein „Geschehen zwischen Gott und Gott“[3] und der Tod Jesu zwar nicht undifferenziert als Tod Gottes, wohl aber als „Tod in Gott“[4] zu verstehen ist, dann steht das Kreuz „mitten im trinitarischen Sein Gottes“[5]. Auf diese Weise wird die Trinitätslehre zur „Kurzfassung der Passionsgeschichte“[6]. So weitet sich die hier skizzierte innertrinitarische Dialektik ihrerseits bereits in diesem frühen Stadium seines Schaffens hin zur Herzmitte der weitergehenden, daraus erwachsenden trinitarischen Geschichte Gottes mit der Welt.
Systematische Beiträge zur Theologie
Die Programmschriften Theologie der Hoffnung (1964) und Der gekreuzigte Gott (1972) werden im Jahr 1975 mit der Kirche in der Kraft des Geistes abgeschlossen. Daran schließt sich eine zweite werkgenetische Phase bei Moltmann an, die Zeit der Systematischen Beiträge zur Theologie, beginnend mit der Gotteslehre, von ihm bezeichnenderweise Trinität und Reich Gottes betitelt (1980), sodann einer ökologischen Schöpfungslehre (Gott in der Schöpfung: 1985), einer Christologie in messianischen Dimensionen (Der Weg Jesu Christi: 1989) und einer ganzheitlichen Pneumatologie (Der Geist des Lebens: 1991). Für mich persönlich besonders wichtig wurde die 1995 erschienene Eschatologie Das Kommen Gottes. Dies nicht nur, weil sie Anlass und Materialobjekt meiner eigenen Dissertation wurde,[7] vielmehr tröstet und trägt mich deren Kernsatz: „im Ende – der Anfang!“[8] seither durch viele der Untiefen hindurch, die das Leben bereithält. Abgeschlossen wird die Reihe im Jahr 1999 durch eine höchst eigenständige und kreative Methodenlehre, die den biografischen Ansatz Moltmanns schon im Titel prägnant auf den Punkt bringt: Erfahrungen theologischen Denkens – und die eben das bietet, was Moltmanns Werk insgesamt auszeichnet: ein großes und inspirierendes „Abenteuer der Ideen“[9].
Die trinitarische Geschichte Gottes mit der Welt: Gott alles in allem
Was in den Programmschriften grundgelegt wurde, wird in den systematischen Beiträgen weiterentwickelt und vertieft: die trinitarische Geschichte Gottes mit der Welt. Von Anfang an ist dabei jene Stelle aus dem Ersten Korintherbrief leitend, die sich wie ein roter Faden durch Moltmanns Werk zieht und die auch die panentheistische Gott-Welt-Relation, die Moltmann in dieser zweiten Schaffensphase breit entfaltet, als große Zielvision perspektiviert: dass am Ende Gott „alles in allem“ (1 Kor 15,28) sei. Ein Zitat aus der Gotteslehre von 1980 mag das verdeutlichen: „Die Hoffnung, die sich an der Erfahrung des einwohnenden Geistes entzündet, erfasst darum die Zukunft mit panentheistischen Visionen. Alles endet damit, dass ‚Gott ist alles in allem‘ (1 Kor 15,28). Gott in der Welt und die Welt in Gott, das ist mit der Verklärung der Welt durch den Geist gemeint. Das ist die Heimat der Trinität“[10].
Das protologische Pendant zu dieser eschatologischen Schöpfungsvision ist die aus der jüdischen Kabbala stammende Vorstellung des Zimzum, einer Selbstkontraktion oder Selbstlimitation Gottes am Anfang seines Schöpfungswirkens. Gleichwohl gilt, dass Gott in seiner welttranszendenten Schöpferkraft die Welt nicht nur umfasst und trägt und im Sein erhält, sondern dass er sie auch im Geist zuinnerst durchdringt: „Die Schöpfung existiert im Geist, ist geprägt durch den Sohn und geschaffen vom Vater. Sie ist also aus Gott, durch Gott und in Gott. Der trinitarische Schöpfungsbegriff verbindet die Welttranszendenz Gottes mit seiner Weltimmanenz“[11]. Moltmann spricht in diesem Zusammenhang immer wieder von einer Perichorese, einer wechselseitigen Einwohnung oder Durchdringung nicht nur der trinitarischen Personen, sondern auch von Gott und Welt. Weitere zentrale Metaphern, um das zu illustrieren, sind die Schechina, das Zelten Gottes auf seiner Erde als Bild für die Realpräsenz Gottes im Raum, und der Sabbat, Sinnbild für die Gegenwart göttlicher Ewigkeit in der Zeit.
Alles aber bleibt ausgespannt auf die eschatologische Selbsterlösung und Selbstrechtfertigung Gottes in seiner neuen Schöpfung, wenn alle Tränen abgewischt, alles Leid und alle Not verschwunden sind und kein Tod mehr ist – kurz: wenn Gott wirklich und endlich „alles in allem“ (1 Kor 15,28) sein wird. Das kann mit Fug und Recht als eschatologische Theodizee bezeichnet werden. Sie geht einher mit chiliastischen Denkfiguren, die eine eschatologische Hoffnung für diese Erde und auf eine leibliche Auferweckung in somatischer Identität stark machen, und ist getragen von der Erwartung einer Allerlösung bzw. Allversöhnung von Opfern und Tätern (Apokatastasis panton).
Auferstanden in das ewige Leben
Jürgen Moltmann war ein ungeheuer produktiver Denker, dessen Schriften in viele Sprachen übersetzt wurden, ein Mitbegründer der Neuen politischen Theologie, der Generationen von Theologinnen und Theologen über alle Konfessionen hin geprägt hat und der weltweit höchstes Ansehen genießt. Bis ins hohe Alter hinein war er publizistisch tätig und erschloss sich auch immer neue Themenfelder. Pars pro toto sei an sein erst im vergangenen Jahr erschienenes, letztes Buch erinnert: Weisheit in der Klimakrise.
Allerdings darf eine Würdigung Jürgen Moltmanns nicht schließen ohne eine Referenz an seine Frau, die feministische Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel. Sein Werk und noch mehr seine Person wären ohne diese annähernd sieben Jahrzehnte dauernde Weggemeinschaft nicht verstehbar. Kennengelernt haben die beiden sich 1948 im Studium in Göttingen, 1952 haben sie dann geheiratet. Aus der Ehe sind vier Kinder hervorgegangen. Der Tod Elisabeths im Jahr 2016 war für ihn Anlass, so schreibt er im Vorwort zu Auferstanden in das ewige Leben, einem eschatologischen Essay aus dem Jahr 2020, noch einmal neu über die Bedeutung der Auferweckung Jesu Christi für unser Leben und die Theologie der Hoffnung nachzudenken. Diese letzten Zeilen des Vorworts sind nicht nur eine berührende Liebeserklärung an die geliebte Partnerin, sondern auch ein Vermächtnis, das seine ganze Theologie zusammenfasst: „Ich habe versucht zu lernen, was Trauer ist. Ich habe auch versucht zu lernen, was das gemeinsame Glück ist, das nicht vergeht, und ich habe versucht, mir vorzustellen, wie die Auferweckung des ganzen Lebens nach dem Sterben aussieht. Ich habe dem Sterben und Erwachen einer lebendigen Seele nachgedacht. Wir sterben in die Auferstehung hinein und das ewige Leben ist das Leben der kommenden Welt.“[12]
Möge sich nun ihm und ihnen bewahrheiten, was er Zeit seines Lebens bedacht und in unzähligen Formen stets aufs Neue neu beschrieben hat: dass Gott „alles in allem“ (1 Kor 15,28) ist, dass Heimat ist für Mensch und Welt im weiten Raum der Trinität. Möge er, mögen sie beide in der Fülle dessen leben, der so für alle, für Mensch und Welt, alles in allem sein will und sein wird.
Matthias Remenyi, Dr. theol. Dipl. päd., geboren 1971, hat in Freiburg über die eschatologische Theologie Jürgen Moltmanns promoviert und sich später dann in Innsbruck über personale Eschatologie habilitiert. Nach beruflichen Stationen in Aachen und Berlin ist er seit 2017 Professor für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg, deren Dekan er außerdem seit 2021 ist.
Beitragsbild von Maeterlinck, CC BY-SA 4.0
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[1] Im Folgenden übernehme ich Formulierungen aus der deutschen Vorlage für M. Remenyi, Jürgen Moltmann, in: M. Grebe / J. Grössl (Hrsg.), T&T Clark Companion to Suffering and the Problem of Evil. London/New York 2023, 199-203.
[2] J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen christlicher Eschatologie. Gütersloh (1964) 1997, 13f.
[3] J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie. Gütersloh (1972) 1993, 231.
[4] Ebd., 192.
[5] Ebd.
[6] Ebd., 232.
[7] Vgl. M. Remenyi, Um der Hoffnung willen. Untersuchungen zur eschatologischen Theologie Jürgen Moltmanns. Regensburg 2005.
[8] J. Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie. Gütersloh 1995, 12.Vgl. ebenso: J. Moltmann, Im Ende – der Anfang. Eine kleine Hoffnungslehre. Gütersloh 2003.
[9] J. Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie. Gütersloh 1999, 11.
[10] J. Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre. Gütersloh (1980) 1994, 119.
[11] J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. Gütersloh (1985) 1993, 109.
[12] J. Moltmann, Auferstanden in das ewige Leben. Über das Sterben und Erwachen einer lebendigen Seele. Gütersloh 2020, 8.