Der Slogan „C the unseen“ der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 inspiriert Johannes Köhler SDB zu neuen Perspektiven auf seine sozialpastorale Arbeit.
Es mag überraschen, dass Chemnitz 2025 eine der beiden „Kulturhauptstädte Europas“ sein wird. Viele bringen die Stadt doch eher mit Problematiken wie Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Verbindung. Jedoch sind es nicht immer Städte wie Weimar – bei deren Namen „Kultur“ geradezu mitschwingt –, die Kulturhauptstadt werden. Immer wieder sind es eben auch Orte, die Potential haben – das aber noch nicht gesehen wird. So präsentiert sich auch Chemnitz als Kulturhauptstadt 2025 mit dem Slogan: „C THE UNSEEN“.
Und damit ist es für mich ausgerechnet das säkulare Chemnitz, die ehemalige Karl-Marx-Stadt, die sich einen Slogan gegeben hat, der wohl christlicher nicht sein könnte: „C THE UNSEEN“. Für mich ist das eine starke spirituelle, christliche Aussage: Die „Ungesehenen sehen“. Wird also ausgerechnet „Karl-Marx-Stadt“ für mich zum theologischen Erkenntnisort und zum Ort geistlichen Wachstums?
Christliches Chemnitz?
Wer den Hauptbahnhof Chemnitz in Richtung Dresdener Straße verlässt, die Stufen Richtung Ausgang hinaufsteigt und dabei den Blick nach oben wendet, der wird mit etwas Überraschendem konfrontiert: „Siehe deine Mutter!“ Nur wer weiß, dass hier direkt am Bahnhof die Missionarinnen der Nächstenliebe (Mutter-Teresa-Schwestern) leben und wirken, wird nicht irritiert sein über das Wort aus dem Johannes-Evangelium (Joh 19,27) und die Statue der Gottesmutter, die einem da so unvermittelt begegnen.
Wer also mit offenen Augen durch die Stadt geht, wird nicht bloß mit sozialistischer Kunst konfrontiert, sondern begegnet immer wieder auch christlichen Gemeinschaften, ihrem Wirken und ihren Zeichen. Da ist beispielsweise die freikirchliche Gemeinde „BLessing“ am Lessing-Platz, die unter anderem gemeinsam mit der Heilsarmee jeden Donnerstag nicht nur Spiele für die Kinder vom Sonnenberg anbietet, sondern auch eine Suppe. Da sind die landeskirchlichen und römisch-katholischen Gemeinden. Da ist aber auch das Don Bosco Haus in der Ludwig-Kirsch-Straße, wo ich selbst im Rahmen meines sozialpädagogischen Praktikums mitwirken darf.
Geistliche Erfahrung in Ostdeutschland
Als Salesianer Don Boscos soll diese Erfahrung für mich aber mehr sein als ein Pflichtpraktikum für das Studium der Sozialen Arbeit. Daher begann ich das Praktikum mit dem großen Ziel, das zu verwirklichen, was unsere Konstitutionen „unione con Dio“ nennen, also in allem aktiven Tun, sich mit Gott vereinigt, verbunden zu wissen. Aber so schön wie es klingt, so wenig einfach ist das. Ich arbeite im Offenen Kinder- und Jugendclub, wo Kinder und Jugendliche einfach kommen dürfen. Mitten im Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg, der als sozialer Brennpunkt gilt. Die Neonazi- und Skinhead-Szene waren hier richtig groß, rechtsextremes, fremdenfeindliches Gedankengut ist immer noch stark, die Arbeitslosigkeit und Kriminalität hoch. Chemnitz ist führend in Deutschland, was den Cristal-Meth-Konsum angeht. Sachsenweit vorne, was die Schulabbrecherquote betrifft. Wo Don Bosco hier präsent ist, ist wirklich einer der „Ränder“, an denen Papst Franziskus die Kirche gern verorten will[1].
Suche nach chrsitlicher Präsenz
Aber ist das kirchlich oder christlich, was ich hier tue? Oder nicht einfach Soziale Arbeit? Und daneben gehe ich dann halt jeden Tag in die Kirche, bete, meditiere, empfange die Heilige Kommunion. Aber eben daneben. Vielleicht die wichtigste Frage, nicht nur für mich als Ordensmann: Was hat mein Gebet, mein Glaube mit meinem Alltag, meinem Leben zu tun? Berühren sie einander? Oder sind es Parallelwelten? Und warum fällt mir das jetzt erst hier im Praktikum im Osten Deutschlands auf?
C THE UNSEEN
Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr fasziniert mich der Slogan der Kulturhauptstadt: „C THE UNSEEN“. Er provoziert mich, mich darum zu bemühen in den Kindern und Jugendlichen, die hierherkommen, Jesus Christus sehen zu wollen. Von der Gesellschaft werden sie zuerst als problematisch wahrgenommen. Weil sie in der Schule stören, weil sie auf dem Lessing-Platz randalieren, weil sie ihre Ausbildung abbrechen… Und manchmal auch, „weil sie Ausländer sind“.
Ehrlicherweise fällt es mir nicht bei jedem Kind, Jugendlichen oder jungem Erwachsenen gleich leicht, in ihm oder ihr – wie Don Bosco sagte – den „guten Kern“ zu sehen. Manche, die kommen, sind mir gleich sympathisch. Aber gerade die, die stören, sind vielleicht die, bei denen ich noch besser lernen muss (und kann), den ungesehenen „guten Kern“ zu sehen. Jedoch auch diejenigen Kinder, die oft untergehen, weil sie so still und unauffällig sind – die Ungesehenen – fordern mich als Ordensmann und Erzieher.
Wer sind die Ungesehenen?
Chemnitz hat mich mit diesem Slogan – C THE UNSEEN – wirklich zum Meditieren gebracht. Die „Ungesehene“, das ist nicht bloß Chemnitz, das man nicht als erstes als Stadt der Kultur auf dem Schirm hat. Ungesehen sind viele Menschen. Und vieles in den Menschen. Oder an ihnen. Manchmal kommt es zum Vorschein, wie die Armut mancher Kinder: Als ich am Gründonnerstag den Kindern die Füße gewaschen habe, konnte ich sehen, wie durchgelaufen und kaputt Schuhe und Socken von manchen waren. Bei einem waren es mehr Stofffetzen als Socken.
Wahrscheinlich stimmt, was mein Novizenmeister sagte: Dass die Jugendlichen unser Heil sind, dass sie es sind, die uns ausbilden. Ja, sie sind es, die mich evangelisieren. Ich bekomme bei meiner Arbeit im Offenen Kinder- und Jugendclub eine Ahnung davon, was Evangelisierung in einer säkularen Umgebung heißen kann. Ich muss Jesus gar nicht hierhertragen. Er ist schon da. Und zwar nicht nur an den vielen Orten kirchlichen Lebens, die man auch an einem Ort wie „Karl-Marx-Stadt“ entdecken kann. Ich meine, dass Christus mir in den vielen Menschen begegnet, die hier leben – und die nichts von ihm wissen wollen.
Natürlich ist das „C“ im Slogan der Kulturhauptstadt ein Wortspiel mit „SEE“ und dem „C“ für „Chemnitz“. Aber ich lese es auch als „C“ für „Christus“: Christus, der Ungesehene. Christus, der die Ungesehenen sieht. Und Christus, der mir hilft, die Ungesehenen zu sehen. Vielleicht hilft mir die Erfahrung hier in Chemnitz, IHN immer mehr zu sehen. Ich will es hoffen.
Johannes B. M. Köhler SDB hat katholische Theologie und Philosophie in Frankfurt/Main und München studiert. Nach dem Vornoviziat in Würzburg und Noviziat in Turin ist er Salesianer Don Boscos. Er studiert an der KSH München, Campus Benediktbeuern Soziale Arbeit, ist Priesterkandidat und absolviert derzeit ein Praxissemester im Don Bosco Haus Chemnitz.
Beitragsbild: Johannes Köhler SDB
[1] vgl.: Papst Franziskus, Gaudete et exsultate, 135.