Heute startet die Fußball-Europameisterschaft der Männer. Ein Monat lang dreht sich für viele wieder alles um das runde Leder. Thomas Gremsl zeigt, welche Rolle dabei der „Spirit of the Game“ spielt.
Fußball hat eine bewegende (Erfolgs-)Geschichte. Dieses komplexe Gefüge aus einzelnen Akteur:innen, Vereinen, Verbänden erlebte im Lauf seiner bisherigen Geschichte viele Höhen und Tiefen, viele Innovationen und Veränderungen. Und trotz dieser bewegenden Geschichte spricht man immer wieder von der Tradition, die den Fußball ausmache, wenngleich sich in den letzten Jahren viel geändert hat: die Einführung der Goal Line Technology (GLT) und des Video Assistant Referees (VAR), die Vergabe von Fußballgroßereignissen – wie etwa die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 –, an autokratisch regierte Staaten[1] oder die Diskussionen um eine neue Super League in Europa. Im steten Wandel der Fußballwelt zeigen sich die Dynamiken und Beschleunigungsprozessen unserer Gesellschaften und die darin enthaltenen sozialen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Implikationen.[2] Diese Einflüsse sind in nahezu allen Bereichen des Fußballs festzustellen; egal ob im modernen Stadion in der Stadt oder auf einem zweckmäßigen Fußballplatz in einem kleinen Dorf.
Spirit of the game?
Wenn man darüber nachdenkt, wie nun Ethik im Fußball ins Spiel kommt und was sie mit ihm zu tun hat, treten vermutlich vordergründig Werte wie Fairness und Fairplay oder Respekt und Teamwork in Erscheinung. Und damit sind auch zweifelsfrei zentrale sportethische Werte angesprochen, die besonders auch im Fußball eine entsprechende Relevanz genießen. Diese Werte stehen in enger Verbindung mit dem Spirit of the game. Hierbei handelt es sich um „The main/essential principles/ethos of football as a sport but also within a particular match.”[3] Dieser Spielgeist ist für das International Football Association Board[4] scheinbar derart bedeutungsvoll, dass die offiziellen Fußballregeln gleich mit einem Verweis auf diesen Spirit eingeleitet werden („The philosophy and spirit of the Laws“[5]) und dieser Spirit auch danach an einigen Stellen referenziert wird.
Spielgeist als ideeller Kern des Fußballs
Mittlerweile wird der offizielle englische Regeltext auch in mehrere Sprachen übersetzt. Neben Übersetzungen ins Deutsche, Französische oder Spanische existieren auch offizielle Übersetzungen ins Arabische, Russische oder ins Chinesische.[6] Während etwa die Übersetzungen ins Französische oder Spanische die Wortwahl und auch die im Text enthaltene Semantik des englischen Originaltextes berücksichtigen, wurde dem in der deutschen Version das letzte Mal bei der Übersetzung der Spielregeln für die Saison 2018/19 Rechnung getragen. Seither wird die deutschsprachige Übersetzung des Regelwerks mit der Überschrift „Philosophie und Zweck der Regeln“ eingeleitet und der deutsche Terminus Spielgeist kommt ab der Saison 2019/20 im Regelwerk nicht mehr vor, obwohl der englische Originaltext – wie auch andere Übersetzungen – vom Spirit of the game nicht abgerückt sind.
Feiner aber relevanter Unterschied: Spielgeist oder Zweck?
Und auf den ersten Blick mag der Verweis auf diese neue Übersetzung womöglich als marginal und wenig relevant betrachtet werden; doch darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass damit Entscheidendes verloren geht. Gleichwohl für Regelexpert:innen klar ist, dass im Zweifel der englische Originaltext herangezogen wird und Gültigkeit hat, so ist ebenso klar, dass sich die große Mehrheit im deutschen Sprachraum zuerst am deutschen Regeltext orientieren wird, wenn überhaupt. Meine Erfahrung aus mehr als 15 Jahren im Schiedsrichterwesen zeigt: Die große Mehrheit von Spieler:innen, Trainer:innen, Funktionär:innen und auch Zuschauer:innen setzt sich nicht oder nur sehr basal mit dem Regelwerk des Fußballs auseinander. Seit einigen Jahren frage ich bei verschiedensten Gelegenheiten Personen aus all diesen Gruppen, ob sie bereits einmal einen Blick in das Regelwerk – des für viele ja einen durchaus lebensbestimmenden Faktor einnehmenden Fußballs – geworfen haben. Die Antworten sind mit Ausnahme einiger weniger bedauerlicherweise äußerst ernüchternd. Die meisten am Fußball beteiligten Menschen setzen sich nicht mit der konstitutiven Basis ihres Lieblingssports auseinander.
Ohne Idealfaktor fehlt dem Fußball etwas Zentrales.
Nun ist in der deutschen Version des Regelwerks nicht mehr von einem gehaltvollen Spirit, sondern von einem nüchternen Zweck die Rede. Die Absenz dieses konkreten Idealfaktors[7] als eine Art handlungsleitenden Referenzpunktes ist für den Fußball als Ganzes[8] problematisch. Ohne ihn fehlt der konkrete Bezugspunkt, der viele Werte vereint wie etwa Respekt, Achtung, Fairness, Toleranz, Teamgeist, Inklusion und Verantwortung. Er vereint sie aber nicht nur, sondern er verweist auch auf den Anspruch diese Werte stets aktiv zu leben, sie im eigenen Handeln zu berücksichtigen und zu versuchen sie in den eigenen Zuständigkeitsbereichen wirken zu lassen – zum Wohle aller Beteiligten und zum Wohle des Fußballs. Während Schiedsrichter:innen in Ihren Entscheidungen neben den Regeln – die bewusst viel Interpretationsspielraum zulassen – diesen Spirit of the game als weiteren wesentlichen Bezugspunkt mitberücksichtigen sollen, wird von den Spieler:innen, Trainer:innen wie auch von den Funktionär:innen mit Blick auf den Spielgeist erwartet, Entscheidungen von Schiedsrichter:innen zu akzeptieren, Gegenspieler:innen und Spieloffizielle zu respektieren und sich fair zu verhalten.[9]
Der Spirit of the Game vereint Werte wie Respekt, Achtung, Fairness, Toleranz, Teamgeist, Inklusion und Verantwortung.
Und wenn man vor diesem Hintergrund auf die gelebte fußballerische Praxis blickt, merkt man, wie groß die Notwendigkeit eines Bewusstseins für diesen Spielgeist ist. Natürlich gibt es immer wieder Vorbilder für besonders sportliches Handeln – und damit meint man im Fußball besonders fair und respektvoll zu agieren. Dieses gilt es auch entsprechend zu würdigen. Doch bedauerlicherweise zeigt die tägliche Praxis im Profi- wie im Amateurfußball, dass hier noch großes Potenzial vorhanden ist. Man denke etwa an Situationen – und die eigene Erfahrung zeigt: es sind oft gar keine spielentscheidenden –, in denen Spieler:innen und auch Trainer:innen mit maßlos überzogener Kritik in Richtung Schiedsrichter:innen stürmen, an respektloses Verhalten zwischen den Spieler:innen oder an besonders unsportliches Verhalten wie etwa das Vortäuschen eines Vergehens im Strafraum (Schwalbe), um einen Strafstoß herauszuholen. All diese Handlungen widersprechen dem Spirit of the game.
Um solch ein Verhalten zu reduzieren und bei allen Akteur:innen ein Bewusstsein für Werte wie Fairness, Respekt, Toleranz und Achtung zu fördern, ist es erstens wichtig, den Spielgeist auch in für den Fußball konstitutiven Dokumenten (Spielregeln) klar zu benennen und darzulegen. Zweitens müssen von Seiten der Vereine und Verbände Maßnahmen gesetzt werden, die den Spirit of the game auf möglichst vielen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen wirken lassen.
Ethik und soziale Verantwortung im Fußball: Mehr als nur ein Spiel
Wie bereits angedeutet, bietet der Spirit of the game nicht nur Orientierung für tugendhaftes Verhalten am Platz für Spieler:innen, Schiedsrichter:innen oder Trainer:innen, sondern zeigt sich auch als gehaltvoller Orientierungspunkt für (Gestaltungs-)Fragen abseits des Rasens. Im Fußball geht es zwar besonders, aber eben nicht nur, um das konkrete Spiel. Es geht – mit Blick auf das Ganze des Fußballs[10] – auch um seine soziale Dimension. Damit ist etwa seine sinn- und gemeinschaftstiftende Funktion für die vielen beteiligten Akteur:innen und Fans gemeint. Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilbereichen und sozialen Schichten treffen hier aufeinander. Manager:innen, Diplompflegepersonen, Lehrer:innen und Bauarbeiter:innen, sie alle stehen Seite an Seite am Spielfeldrand oder auf den Rängen und tauschen sich aus, fiebern mit ihrem Team mit und feuern es an, oder machen sich durch mehr oder weniger (un)sportliches Verhalten in Richtung Gegner:innen und Schiedsrichter:innen bemerkbar.
Fußball zwischen sozialem Kohäsionsfaktor und Sportswashing
Fußball hat zudem vielfache Verflechtungen mit der Wirtschaft und eine darüber hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung, z.B. durch sein Verhältnis zur Politik – was besonders kritisch zu betrachten ist.[11] Diese Dimension wird besonders auf Ebene der Vereine und Clubs oder auch auf Ebene der Verbände sichtbar. Die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar ist ein gutes Beispiel für ein politisches Prestigeprojekt der Marke Sportswashing und die Rolle der FIFA als Institution, mit einem besonderen Verhältnis zu Politik und Wirtschaft. Massive Menschenrechtsverletzungen (v.a. mit Blick auf Arbeitsmigranten), eine neu gebaute (und vermutlich wenig nachhaltige) Stadionlandschaft mit ungewisser Zukunft in einem kleinen Wüstenstaat, Korruptionsvorwürfe bei der FIFA im Zusammenhang mit der WM-Vergabe oder schlicht der Bruch mit der Tradition und den damit verbundenen Implikationen für die Sportler und Clubbewerbe (Stichwort: Winter-WM), sie alle zeugen von notwendigem Handlungsbedarf im Sinne des Spirit of the Game.[12]
Es braucht mehr Aufmerksamkeit für Gewalt – auch für verbale Gewalt.
Herausforderungen existieren aber nicht nur im Rahmen solcher Großevents: Auch der zunehmende Einfluss der digitalen Transformation auf den Fußball, Rassismus, Diskriminierung oder die immer wieder sichtbare Gewalt bedürfen kritischer Reflexionen und auch nachhaltiger Maßnahmen. Gerade was Gewalt im Zusammenhang mit Fußball angeht, darf diese nicht einfach auf physische Gewalt enggeführt werden. Verbale Gewalt als gelebte, nahezu unhinterfragte Praxis auf sehr vielen Fußballplätzen benötigt deutlich mehr Aufmerksamkeit und aktive Gegenmaßnahmen – besonders im Kinder- und Jugendfußball. Sie alle sind Teile einer noch längeren Liste, einer Liste die deutlich macht, wie wichtige es wäre, dass der Spirit of the game als Ethos des Fußballs eben nicht nur am Platz, sondern geradezu notwendigerweise auch darüber hinaus wirkt und gelebt wird, auch abseits des Rasens und zwar von allen Beteiligten.
Fußball bewegt, er bewegt die Massen und der Spirit of the game bietet die Chance, den Fußball insgesamt besser zu machen. Er könnte das fördern, was dem Fußball insgesamt oft attestiert wird: zu verbinden.
Thomas Gremsl ist Professor für Ethik und Gesellschaftslehre und Leiter des gleichnamigen Instituts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz sowie Vorsitzender der Ethikkommission der Technischen Universität Graz. Zudem engagiert er sich ehrenamtlich als Schiedsrichterbeobachter, Kommissions- und Vorstandsmitglied beim Steirischen Fußballverband.
[1] Wobei gerade bei diesem Aspekt betont werden muss, dass auch bereits in der Vergangenheit solche Fußballgroßereignisse an Autokratien vergeben wurden und es sich hierbei um keine wirkliche Veränderung der Tradition des Fußballs handelt. So fand etwa die Fußballweltmeisterschaft 1978 im diktatorisch regierten Argentinien statt. Gleichwohl ist m. E. aber der Hinweis wesentlich, dass gerade in der jungen Vergangenheit gerade von autokratisch regierten Staaten Tendenzen stärker sichtbar werden, solche Events im Sinne eines Greenwashings auch politisch und wirtschaftliche zu instrumentalisieren. Vgl. Th. Gremsl, Zwischen Ethos und Profit. Sportethische Perspektiven auf die Kommerzialisierung im Profifußball, in: Iber/Gießauf/Knoll/Mauritsch (Hrsg.), Sport, Prestige, Profit. Historische Betrachtungen zum Run auf Ruhm und Reichtum, Stadion Sonderband 3 (2024), 83-100.
[2] Vgl. D. Mieth, Schneller, höher, weiter! Fortschritt im Sport – Rückschritt in der Moral? in Heeg/Lücke (Hrsg), Gelbe Karte! Ethische Fragen an den Sport (2012) 27–45.
[3] IFAB, Laws of the Game 23/24 (2023), 172.
[4] Hierbei handelt es sich um jenes Gremium, das sich für die offiziellen – weltweit gültigen – Spielregeln und Veränderungen in diesem Bereich verantwortlich zeichnet.
[5] IFAB, Laws of the Game 23/24 (2023), 11.
[6] IFAB/ GUARDIANS OF THE LAWS OF THE GAME, https://www.theifab.com/ (10. 6. 2024).
[7] Vgl. Th. Gremsl, Ethik 4.0? Der „Faktor Mensch“ in der digitalen Transformation 21 (2022).
[8] Vgl. Th. Gremsl, Zwischen Ethos und Profit, 83-100.
[9] Vgl. IFAB, Laws of the Game 23/24 (2023). Es bedarf hier der Anmerkung, dass in der deutschen Übersetzung zumindest die hier angeführten Aspekten wie Fairness und Respekt trotz terminologischer Abwesenheit des Spielgeists berücksichtigt werden.
[10] Vgl. L. Neuhold, Schlaglichter zum Thema Fußball und Ethik, in Neuhold/Neuhold (Hrsg), Fußball und mehr. Ethische Aspekte eines Massenphänomens (2003), 305–326.
[11] Vgl. Th. Gremsl, Die groben Fouls abseits des Spielfeldes. Ethische Perspektiven auf die Winter-WM in Katar, in Karl/Mantl/Poier/Ziegerhofer/Prisching (Hrsg), Steirisches Jahrbuch für Politik 20221 (2023), 245–252.
[12] Vgl. Ebd.
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