Nicht den Diskurs aufgeben, sondern mit neuer Haltung an bestehenden Orten ins Erzählen kommen. Katrin Rudolph über ihren Kirchenkreis, der im Wahljahr dazu aufbricht.
Es begann mit der Lektüre von Dirk Oschmanns „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Vielmehr mit der darin enthaltenen Dokumentation unzähliger Beispiele des Nichtgehörtwerdens und Nichtgesehenwerdens von Lebensläufen aus „dem Osten“. Diese Beispiele zeigen auf, dass deutsche Geschichtsschreibung jedenfalls bis dahin im Wesentlichen bundesrepublikanische Geschichtsschreibung zu sein schien. Und wenn das „Wir“ der Ich-Erzähler in Radio, Fernsehen und Zeitungen vor allem die westdeutsche Perspektive kennt und ostdeutsche Biografien entweder nur Fußnoten sind oder als irgendwie anders oder abweichend auftauchen, dann werden sie nicht nur unsichtbar, sondern abgewertet.
Beispiele des Nichtgehörtwerdens und Nichtgesehenwerdens von Lebensläufen aus „dem Osten“
Gerade in jüngerer Zeit gibt es glücklicherweise gute Gegenbeispiele. Der aktuelle Gewinner des Deutschen Sachbuchpreises („Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren“) ist so eins. Aber gemessen an der Gesamtheit der medial wahrgenommenen Veröffentlichungen und Äußerungen sind solche Werke nach wie vor Ausnahmen. Sollte also die allgemein spürbare Wut und die größer werdende Distanz zum real existierenden Politikgeschäft aus dieser existentiellen Kränkung kommen? Es klang jedenfalls plausibel.
Deshalb haben wir in unserem ländlichen, südlich von Berlin liegenden Kirchenkreis überlegt, Biografiearbeit zu einem wesentlichen Baustein in unserem Kampagnenjahr rund um die Wahlen zu machen.
Biografiearbeit als wesentlicher Baustein in unserem Kampagnenjahr rund um die Wahlen
Für das Themenjahr hat sich die Steuerungsgruppe die Ziele gesetzt, die Kommunikations- und Diskursfähigkeit zu stärken, menschenfreundliche Akteur:innen vor Ort zu vernetzen, die Selbstwirksamkeit von Menschen zu verdeutlichen und Zukunftsperspektiven für das Leben im Bereich des Kirchenkreises zu (er-)träumen.
Es begann vor allem mit Schulungsangeboten für die Mitarbeitenden im Verkündigungsdienst als Multiplikator:innen. Gerade in der Senior:innenarbeit spielen Lebensläufe unweigerlich eine Rolle. Viel lässt sich hier lernen aus strukturierten Gesprächen, sei es mit einem Rückblick auf das eigene Leben über Zeitstrahlen oder mit Themenkärtchen. Alles Methoden, die verhindern, dass sich der „Früher war alles besser“-Move einschleicht. Flankierend haben wir uns schulen lassen zu Beweggründen von „Christen in der AFD“ oder zu deeskalierenden Kommunikationsformen. Diese internen Angebote haben vor allem auf Kirchenkreisebene stattgefunden, während die eigentlichen Gesprächsformate vor Ort in den Gemeinden passieren.
Methoden, die verhindern, dass sich der „Früher war alles besser“-Move einschleicht
Hierfür wiederum gab es die Verabredung, dass der Schwerpunkt auf Veranstaltungen liegt, die ohnehin schon ihr Publikum haben. Die oft großen Seniorenkreise, bisweilen die einzige Vergemeinschaftungsform im Ländlichen und besser besucht als die Gottesdienste in manchen Dörfern. Oder bereits etablierte Gesprächsreihen, die zusätzliche Öffentlichkeit dadurch bekommen, dass sie unter dem Dach des Themenjahres in einem Online-Veranstaltungskalender bekannt gemacht werden.
Und tatsächlich erreicht das Bibelgespräch zu Jesaja schnell eine größere Tiefe als erwartet. Plötzlich geht es um Klimawandel, Sorgen und Ängste politischer Art, darüber, dass man Gott nicht beweisen könne und Menschen der Gegenwart nur noch „glauben, was sie sehen“. Zwischendurch gibt es deutliche Differenzen im Raum. Doch dann wendet eine Teilnehmerin ein, dass doch jeder und jede Verantwortung dafür trägt, Gottes geschenkte Schöpfung zu bewahren. Und so ist man nach kurzer Regierungskritik irgendwie dann doch bei persönlicher Wirksamkeit gelandet, nicht (nur) durch die Intervention der Gesprächsleitung, sondern sozusagen als Seelsorge der Gruppe unter- und füreinander.
tatsächlich erreicht das Bibelgespräch zu Jesaja schnell eine größere Tiefe als erwartet
Ähnliches höre ich aus einer Gesprächsreihe zu den 10 Geboten, wo um das 5. Gebot gerungen wird mit inhaltlichen Bezügen zum Ukraine-Krieg und allen anhängigen Fragen. Denn selbst der Ukraine-Krieg wird in unseren Breitengraden schnell als ein identitärer Kriegsschauplatz verhandelt, gern wahlweise mit einem beschönigenden „Wir hier im Osten verstehen die Russen halt besser“ oder der wehmütigen Erinnerung an den radikalen Pazifismus der unabhängigen DDR-Friedensbewegung. Die wurde ja nicht unwesentlich auch von Kirchenmitgliedern getragen und richtete sich gegen einen übermilitarisierten Staat.
Man könnte fragen, was an diesen Beispielen jetzt genau den Bezug zum Themenjahr hat, solche Veranstaltungen finden doch ohnehin statt? Ich würde behaupten, dass die Schulungen auch zu einem Haltungswechsel der Gesprächsleitenden beigetragen haben, mit einem neuen Fokus auf die Bedeutung von Emotionen und Affekten in sozialen Konflikten. Und so gibt es selbst bei unversöhnlich scheinenden Diskussionen am Ende viel Zuspruch und wechselseitige Versicherung.
Haltungswechsel der Gesprächsleitenden
Hat alles nichts gebracht, könnte ein weiterer Einwand sein mit Blick auf die Denkzettel-Wahlergebnisse der Kommunal- und Europawahlen. Und in der Tat könnte man resignieren angesichts dessen, dass wir offenbar kirchlich so wenige Menschen erreichen (der Anteil der Evangelischen unter den Einwohnern im Kirchenkreis liegt bei 13,05 %). Aber wir haben ja auch gerade erst angefangen. Zusammen mit dem Büro der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur haben wir weitere Biografieworkshops geplant. Die Lernerfahrungen zur Gesprächsführung werden hoffentlich auch in Zukunft einfließen und die grundständig seelsorgliche Haltung in thematischen Formaten (mehr als eine traditionell pädagogische) könnte etwas am Diskursklima ändern.
Die grundständig seelsorgliche Haltung in thematischen Formaten könnte etwas am Diskursklima ändern.
Ob wir uns den Ruf zurückerarbeiten können, dass in kirchlichen Räumen das freie Gespräch einen geschützten Raum findet, wenn wir uns schon in der uns umgebenden Gesellschaft „wund reden, ohne uns zuzuhören“, wie es ein Journalist letzthin formulierte? Es wäre schon viel gewonnen, auch in unserer Minderheitensituation, wenn die Kultur des respektvollen Diskurses zu einem kirchlichen Markenkern werden würde. Selbst wenn das schon lange unser Anspruch ist, entspricht es aber doch bisher wenig dem Blick von außen.
Nachdem unser Themenjahr sich bisher hauptsächlich dem wertschätzenden Rückblick gewidmet hat, überlegt die Steuerungsgruppe gerade, wie noch am 4. Ziel gearbeitet werden kann. Zukunftsperspektiven für das Leben im Bereich des Kirchenkreises (er-)träumen, lautet es. Wir denken jetzt über Zukunftswerkstätten nach, weil die Ressourcen für die Bewältigung der unbestritten vorhandenen Probleme in einem Flächenland wie Brandenburg auch in den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst liegen. Gemeinwesenorientierung ist ein Stichwort, das aber ganz konkret und je neu mit Leben gefüllt werden muss. Ich bin auf die Träume gespannt, die noch in Köpfen und Herzen schlummern und zu neuen Möglichkeitsräumen heranwachsen wollen.
Zukunftswerkstätten, weil die Ressourcen für die Bewältigung der unbestritten vorhandenen Probleme in den Bewohner:innen selbst liegen
Zum Projekt: https://www.kkzf.de/erzaehl-mir-von-morgen
Dr. Katrin Rudolph ist Superintendentin des Kirchenkreises Zossen-Fläming in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz.