Die Tradition katholischer Intellektualität ist in der deutschen Wissenschaftslandschaft, aber auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit kaum präsent, oft sogar diskreditiert. Stephan Steiner blickt in einen toten Winkel und formuliert ein Desiderat.
Im Namen intellektueller Redlichkeit und wertfreier Wissenschaft herrscht das Ideal einer strikten Trennung von persönlichem Leben, Wertüberzeugungen, Weltanschauung und wissenschaftlicher Tätigkeit. Gemäß einem verbreiteten modernen Vorurteil sind Intellektuelle – und generell gebildete Personen – nicht religiös. Intellektuelle Redlichkeit und Religiosität schließen sich angeblich aus [1]. Selten wird deshalb thematisiert, dass führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Politikerinnen und Politiker sowie andere prägende Personen des öffentlichen Lebens auch katholische Gläubige sind.
Die Reflexion und Artikulation des Zusammenhangs von Wissenschaft und Lebensführung, die Erkenntnis, dass Wahrheitsfragen eine existenzielle Dimension besitzen und sich nicht als reiner Wissensbestand erschöpfen, ist in Deutschland oft durch Sprachlosigkeit gekennzeichnet und besitzt kein öffentliches Forum. Es ist ein Desiderat öffentlichen Sprechens, die Verflochtenheit von wissenschaftlich-politischer Tätigkeit und persönlichem Glaubensleben zu benennen.
Der Zusammenhang von Wissenschaft und Lebensführung wird oft ignoriert – er ist unterreflektiert.
Diese Leerstelle besetzt katholische Intellektualität. Im deutschsprachigen Raum provoziert ein solcher Titel allerdings eher Irritationen [2]. Ist Intellektualität als Anspruch ganzheitlicher Weltdeutung nicht ohnehin ein Anachronismus? Und erliegt ein Insistieren auf katholischer Intellektualität nicht allzu leicht den Verlockungen partikularistischer Milieubildung und wirkt dann nur noch polarisierend?
Die Unübersichtlichkeit möglicher Selbstverständnisse macht eine historische Erkundung der Typologien katholischer Intellektualität zu einer lohnenswerten Herausforderung [3]. Darüber hinaus kann katholische Intellektualität nur in europäischer Perspektive konzipiert werden. Denn gerade konfessionelle Abgrenzungsbedürfnisse innerhalb Deutschlands verstellen den Blick auf kreative Formen und Potenziale katholischer Intellektualität in anderen europäischen Kontexten. Beides kann hier nur gefordert, nicht aber geleistet werden.
Kurz soll jedoch das Fruchtbare und Befreiende eines Blicks auf katholische Intellektualität diesseits nationaler Engführungen illustriert werden. Vor kurzem berichtete Vittorio Hösle an der Katholischen Akademie in Berlin von seiner Tätigkeit als Gründungsdirektor des katholischen Institute for Advanced Studies an der University of Notre Dame (Indiana/USA) [4]. Besonders zwei Eigenheiten katholischer Intellektualität betonte Hösle, die in Deutschland öffentlich stärker akzentuiert werden sollten: Zum einen erinnere katholische Intellektualität daran, dass Wissenschaft nicht in einem luftleeren Raum der Wertfreiheit stattfindet, sondern von persönlichen Wertentscheidungen getragen und gebunden ist.
Wissenschaft lebt von persönlichen Wertentscheidungen.
(Vittorio Hösle)
Zum anderen sei Wissenschaft nicht nur an die Person der Forschenden gebunden, sondern stehe auch im Horizont von Politik und Gesellschaft. Wertfragen und ethisch-normative Grundsatzdebatten sind deshalb unhintergehbare Problembereiche und verlangen von den Wissenschaften reflexive wie kommunikative Kompetenz. Hier gelte es, die katholische Tradition als orientierende Kraft wiederzuentdecken. Denn gerade das Beispiel katholischer Spitzenuniversitäten in den USA könne zeigen, so Hösle, wie lebendige katholische Tradition etwas ganz anderes als Gängelung hervorbringe.
Ein vergleichender Blick auf die USA als wissenschaftlich führender Nation unserer Zeit empfiehlt sich zudem aus weiteren Gründen. Für die Perspektive katholischer Intellektualität ist es besonders lehrreich, wie die Pluralität und Konkurrenz wissenschaftlicher Institutionen und Religionskulturen in den USA eine Profilierung katholischer Stimmen hervorgebracht hat. Das deutsche und europäische Modell wird so mit einem völlig anderen Verhältnis von Wissen und Glauben konfrontiert. Die Tradition katholischer Intellektualität fungiert in den USA als etabliertes und viel beachtetes Schlagwort, das einer vielfältigen Landschaft hoch renommierter katholischer Bildungseinrichtungen (Schulen, Colleges und Universitäten) als Identitätskern dient [5]. Was nun vermag die in Deutschland so intensiv geführte Debatte um die Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Exzellenz durch den Blick auf solche lebendigen Traditionen katholischer Intellektualität zu lernen? Diesen Gedanken auszuarbeiten, könnte das Herzstück einer neuen Selbstverständigung über katholische Intellektualität in Deutschland und Europa sein.
Lebensform kann legitimer Leseschlüssel wissenschaftlicher Erkenntnis sein. Wenn der Zusammenhang offen thematisiert wird.
Es gilt festzuhalten: Katholisches Denken schafft einen Reflexionsort für die Abhängigkeit herausragender Wissenschaft vom Ethos persönlicher Lebensführung. Gelebte Gemeinschaft, der Mut zum interdisziplinären Blick auf das Ganze und ein Wissen um die Bedeutung grundlegender Fragen (basic questions wie „Was ist das Wahre?“, „Was ist das Gute?“, „Was ist das Schöne?“) sind dafür charakteristisch. Die Tradition katholischer Intellektualität lenkt damit den Blick auf die Entstehungsbedingungen von Exzellenz.
In Deutschland ist heute selten davon die Rede, dass Wissenschaft gelebte Gemeinschaft und demzufolge eine Lebensform voraussetzt [6], dass Wissenschaft nicht bloß Forschung sein kann, sondern der Lehre als Einübung und Weitergabe von Tradition bedarf, dass Wissenschaften schließlich kein angemessenes Bild unserer Wirklichkeit entwerfen können, ohne normative Fragen zu stellen. Diese entscheidenden, doch in deutschen Exzellenz- und Wissenschaftsdebatten oft marginalisierten Punkte gehören zum Kernbestand katholischer Intellektualität. Es ist deshalb ein Desiderat, der Stimme katholischer Intellektualität in der zeitgenössischen europäischen Wissenschaftslandschaft und Wissenschaftspolitik mehr Präsenz zu verleihen.
[1] Deutlich differenzierter schildert das Verhältnis hingegen der Band: Gerald Hartung/ Magnus Schlette (Hgg.), Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, Tübingen 2012.
[2] Eindringlich schildern die Ambivalenzen katholischer Intellektualität Dagmar Mensink und Regina Ammicht Quinn in dem Band: Britta Padberg/ Nikolaus Schneider (Hgg.), Intellektuelle und Kirche, Bonn 2003.
[3] Noch unpubliziert ist ein bemerkenswerter Text des Berliner Literaturwissenschaftlers Andreas Keller, der den massiven Medienwandel als zentrale Herausforderung für die öffentliche Präsenz und Wahrnehmung katholischer Intellektualität analysiert. Anhand der Beispiele Jesuitentheater, Zeitschriftenkultur um 1900 und Internet heute skizziert er einige Artikulationsformen katholischer Intellektualität und postuliert das Desiderat einer „devotio moderna digitalis“. Letztere müsse die Gleichzeitigkeit wie Wechselwirkung von Schriftkultur und performativer Intellektualität in der Gegenwart bewältigen.
[4] Die Katholische Akademie in Berlin arbeitet seit vielen Jahren daran, ein Forum der Begegnung und des Austauschs zum Thema „Katholische Intellektualität“ zu schaffen. Diese Bemühungen dokumentiert der Band: Joachim Hake/Elmar Salmann/Maria-Luise Schneider (Hgg.), Versammeln. Berliner Erfahrungen, St. Ottilien 2015. Programmatisch dazu: Joachim Hake/Stephan Loos/Joachim Valentin, „Auf unübersichtlichem Terrain. Die Aufgabe katholischer Akademien in säkularen Metropolen“, in: Herder Korrespondenz 62 (2008), S. 182-187.
[5] Aus der Fülle englischsprachiger Literatur zu dem Thema empfiehlt sich als Einstieg der Essay: Mark W. Roche, The Intellectual Appeal of Catholicism and the Idea of a Catholic University, University of Notre Dame Press 2003.
[6] Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden die Arbeiten von Wolfgang Reinhard. Exemplarisch dafür steht die Einleitung „Textkultur und Lebenspraxis“ in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkulturen, München 2009.
Der Philosoph Dr. Stephan Steiner wirkt als Referent an der Katholischen Akademie in Berlin. Am Max-Weber-Kolleg in Erfurt wurde er promoviert mit einer Arbeit zu: Weimar in Amerika. Leo Strauss‘ Politische Philosophie.
Bild: Karl-Heinz Laube, pixelio.de