Seit Jahrhunderten leben Menschen vom Volk der Tsimane im tropischen Regenwald von Bolivien. Mittlerweile sind sie in ihren Lebensperspektiven massiv bedroht. Dietmar Müßig hat die Ordensschwester Gladis Montesinos interviewt, die fest an ihrer Seite steht und 2024 mit dem International Peace Award von Pax Christi ausgezeichnet wird.
Gladis, du bist Ordensfrau und lebst unter den Tsimane. Wie können sich die Leser*innen von feinschwarz dieses Zusammenleben vorstellen? Wie sieht ein normaler Tag bei dir aus?
Ich teile das Leben mit den Tsimane in ihrem Territorium. Dabei versuche ich, mich an ihren Lebensstil anzupassen. Ihrem Rhythmus entsprechend sind wir normalerweise in ihren Dörfern; manchmal auch beim Jagen oder Fischen. Denn das ist es, was sie im täglichen Leben tun. Ich besuche sie in ihren Weilern, höre ihnen zu. Es sind vierzehn Dorfgemeinschaften. Einige davon bestehen nur aus wenigen Familien. Das Leben mit ihnen zu teilen bedeutet, wahrzunehmen, wie sie leben. Wir essen miteinander; es gibt Momente des Dialogs, Momente der Begegnung mit den Familien – das sind für mich die bewegendsten Augenblicke – und Momente, in denen wir auf ihre eigene Weise miteinander beten oder einen ganz besonderen Moment feiern.
Momente des Dialogs, Momente der Begegnung mit den Familien
Kein Tag, den ich mit ihnen verbringe, ist also gleich. Sie sind immer unterschiedlich, es gibt immer wieder Situationen, in denen sie Unterstützung oder Begleitung brauchen. Immer suchen mich Personen auf, um mit mir zu reden, aber vor allem, um gehört zu werden. Dabei geht es um konkrete Nöte wie z.B. den Besuch in einem Krankenhaus oder die Situation einer Frau nach einer Vergewaltigung. Ich könnte also nicht sagen, dass alle Tage gleich wären oder dass es eine Routine gäbe, sondern jeder Tag hat seine eigene Dynamik. Es gibt ruhige Tage, aber auch welche mit Gewalt oder viel Rennerei, um Hilfe für sie zu organisieren.
Erzähle uns doch ein wenig von der Situation, in der die Tsimane derzeit leben.
Ihr Territorium hier im Sektor Yacuma ist von Enteignung bedroht. Die Dörfer wurden nicht berücksichtigt bei der letzten Eintragung auf dem Kataster-Amt. Die Tsimane besaßen keine Personalausweise, sprachen kein Spanisch, kannten sich mit den rechtlichen Verfahrensregeln nicht aus, um für ihre Wohngebiete bei den staatlichen Behörden legale Besitztitel zu erwirken. Die Tsimane haben eine völlig andere Auffassung vom Raum, in dem sie leben. Ihr Territorium ist für sie die Quelle ihres Lebens. Sie haben dort viele Jahre unbehelligt und in Verbindung mit der Natur gelebt. Heute fühlen sie sich bedroht, überrannt und unterworfen. Als sie merkten, dass andere in ihr Gebiet eindrangen, haben sie begonnen, sich zu organisieren, Anzeigen zu erstatten. Aber selbst der Staat respektiert ihre Rechte und Territorien bis heute nicht. So kommt es immer wieder zu Konflikten. Wiederholt wurden die Tsimane gewaltsam vertrieben, man hat ihre Häuser angezündet, etliche wurden tätlich angegriffen und ein Mädchen fand man mehrere Tage nach einer solchen Auseinandersetzung mit einer Kugel im Kopf.
Wiederholt wurden die Tsimane gewaltsam vertrieben.
Was sind das für Personen, die in die angestammten Gebiete der Tsimane eindringen?
Das sind zum einen Großunternehmer aus dem Agrarbereich und der Viehzucht. Einer aus Cochabamba zum Beispiel[i] hat sie nach Strich und Faden betrogen. Mit Lebensmittelspenden und dem Versprechen neuer Häuser und staatlicher Dokumente hat er sich das Vertrauen der Tsimane erschlichen. Am Ende stellte sich heraus, dass er auf dem Katasteramt ein riesiges Landstück auf seinen Namen hat eintragen lassen. Davon wird das Territorium der Tsimane nun komplett eingeschlossen. Zum anderen sind es Kolonisatoren aus dem westlichen Anden-Hochland Boliviens, aus den Völkern der Aymara und Quechua. Sie siedeln sich nicht nur hier an, sondern in allen Gegenden des tropischen Tieflandes. Sie roden den Wald ab, verkaufen die Edelhölzer und veräußern die so gewonnen Parzellen nicht selten weiter. So wird die ursprüngliche Bewegungsfreiheit der Tsimane immer weiter eingeschränkt
Letztes Jahr bin ich über Pressemeldungen aus dem Internet auf die Tsimane aufmerksam geworden im Zusammenhang mit schweren Waldbränden. Was war da los?
Es gibt große Unterschiede, was die hiesige Bevölkerung betrifft. Die Tsimane wissen, wie man im Regenwald Ackerbau betreibt und dass es höchst riskant ist, während der Trockenzeit Brandrodung zu betreiben. Die Kolonisten dagegen nutzen die Trockenheit, um Bäume zu fällen oder niederzubrennen. Wenn dann der Regen einsetzt, säen sie Ölpalmen oder Zuckerrohr. Oder sie lassen ihre Rinder darauf weiden. Solche Projekte werden von der Regierung durch ein Gesetz unterstützt, das die massive Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche vorsieht und damit die Abholzung des Primär-Regenwaldes vorantreibt.
Die Kolonisten nutzen die Trockenheit, um Bäume zu fällen oder niederzubrennen.
In diesem Zusammenhang wurden die meisten Feuer absichtlich gelegt. Für die indigenen Gemeinschaften war das verheerend. Etliche Häuser sind Opfer der Flammen geworden und, was noch viel schlimmer ist, die Tsimane haben ihre Ernährungs-Souveränität eingebüßt. Durch die Waldbrände haben sie die jagdbaren Tiere verloren, die traditionellen Heilpflanzen und vor allem die kleinen Anbauflächen. Damit wurde den Familien ihre Lebensgrundlage entzogen. Viele Tsimane-Gemeinschaften wurden durch die Brände in Armut, Hunger und Krankheit gestürzt.
Du bist in Peru geboren und hast dort Lehramt studiert. Was hat dich dazu bewogen, all das aufzugeben, um hier im bolivianischen Urwald zu leben?
Im Jahr 2013 wurde Franziskus zum Papst gewählt. Unter seinem Pontifikat brach eine neue Weise an, die Realität zu sehen aber auch den Auftrag der Kirche. Damit habe ich mich tief verbunden gefühlt. Und just ein Jahr später hat mich meine Provinzialin dann für einen pastoralen Einsatz in den Urwald geschickt. Ich habe mich darüber riesig gefreut (lacht) und gemerkt, dass diese Wirklichkeit Amazoniens gut zu mir passt. Für mich hat sich damit ein Traum erfüllt. Motivierend war für mich aber auch der Drive, den der Papst mit seinen Enzykliken vermittelt hat. Schließlich war es für mich aber auch eine bewusste Entscheidung, Stellung zu beziehen. All das hat sich tief in meinem Inneren zu einem Ruf verbunden. Es war die Ahnung von einem anderen Weg, einer anderen Form, meine Mission zu leben.
Das ist vermutlich nicht die übliche Lebensform für eine Karmelitin. Was hat deine Oberin dazu gesagt?
Als ich die Möglichkeit in Betracht zog, mit den Tsimane in ihrem Territorium zu leben, habe ich zunächst gedacht, das ist eine Spinnerei von mir, die sich nicht umsetzen lässt. Meine Kongregation hat mir auch geraten, das in Rückbindung an die Gemeinschaft zu tun.
Aber das war etwas, was wir zu dieser Zeit ja schon gemacht haben. Ich merkte jedoch, dass es etwas anderes ist, ab und zu einen Besuch dort zu machen und abends ins Schwesternhaus zurückzukehren oder wirklich mit den Tsimane in ihrem Territorium zu leben, alles mit ihnen zu teilen, mit ihnen zu fühlen. Das war wie ein Anruf an mich, eine Entscheidung, die zu treffen nicht leicht war. Wir haben uns damals viele Gedanken gemacht, wie wir in einer neuen Form präsent sein wollen als Gemeinschaft.
Das war wie ein Anruf an mich.
Aber meine Schwestern konnten das nicht so sehen wie ich. Ich habe in dieser Zeit viel zu Gott gebetet, damit ich keinen Irrtum begehen würde oder einer Laune aufsäße. Aber manchmal muss man einen Schritt gehen, ohne zu hundert Prozent sicher sein zu können. Deshalb habe ich dann um die Erlaubnis seitens der Gemeinschaft gebeten und Gott sei Dank wurde sie mir gewährt. Für mich ist es wichtig, mit den Tsimane zu leben und die Dinge aus ihrer Perspektive zu sehen, auch wenn das, wie du sagst, nicht unbedingt das Leben einer Missions-Karmelitin ist (schmunzelt).
Wie würdest du das Wort „Evangelisierung“ definieren?
Evangelisierung bedeutet nicht Lehre. Evangelisierung bedeutet einen Lebensentwurf, mit dem man sich auf die Seite der Ausgeschlossenen stellt, ihnen eine Stimme verleiht. Evangelisierung bedeutet Prophetie, die sich aus der Hoffnung auf das Reich Gottes speist. Dabei müssen wir auch mit Leuten zusammenarbeiten, die nicht der Kirche angehören aber die für dieselbe Sache einstehen.
Evangelisierung bedeutet einen Lebensentwurf, … bedeutet Prophetie.
Heute heißt evangelisieren, das Leben zu verteidigen. Gott in dieser so verwundeten Realität zu entdecken, wo das Leben bedroht ist, bedeutet für mich Evangelisierung: über die Einhaltung der menschlichen Würde zu wachen, das Leben zu bewahren und uns nach Frieden zu sehnen, der aber nur der Gerechtigkeit entspringen kann. Einer Gerechtigkeit, die sich für die Tsimane in Würde und Respekt konkretisiert, in der Anerkennung ihrer Form, als Indigene zu leben. In der Wertschätzung ihrer Kultur, die viele Werte des Evangeliums schon in sich trägt. Normalerweise kommt man mit einem Schema der Glaubensweitergabe, das man gelernt hat.
Aber ich kann ihnen nichts überstülpen. Nicht ich bin es, die ihnen etwas anzubieten hat. Vielmehr sind sie es, die mir Leben schenken mit der Art, wie sie ihre Beziehungen untereinander gestalten und wie sie im Respekt gegenüber der Natur leben. Es geht darum, ihre Spiritualität und ihre Kosmovision zu respektieren. Dabei lerne ich von den Tsimane und so transformiert sich die Evangelisierung von ihnen her.
In unserem aktuellen Kontext eines kulturellen Genozids an den indigenen Völkern Stellung zu beziehen, hat auch seinen Preis. Für die Tsimane und auch für mich und andere, die diesen Prozess begleiten. Es hat Misshandlungen gegeben und Drohungen, auch mir gegenüber. Natürlich hatte ich da Angst. Aber ich habe auch eine Zufriedenheit verspürt. Denn wenn unser Leben zu ruhig verläuft, müssen wir uns hinterfragen. Es gilt, das Leben zu riskieren, zu spüren, dass du lebst – komme, was da wolle. Ich sage den Tsimane immer: selbst wenn mir etwas zustoßen sollte, würde ich die Entscheidung nie bereuen, mich mit ihnen auf den Weg gemacht zu haben. Denn diese Erfahrung ist für mich ein Geschenk Gottes.
Das Interview mit Schwester Gladis Montesinos führte er am 15.6.2024 in Colorado/Sektor Yucuma (Bolivien). Die Übersetzung des spanischen Originaltons ins Deutsche und die Redaktion stammen vom Autor wie auch das Beitragsbild und die Fotos im Text.
[i] Der Name ist der Redaktion bekannt.