Die grossen Kirchen in Deutschland gefallen sich oft noch in der Pose der Mehrheitskirchen. Stefan Gärtner hinterfragt diese Mentalität der „Volkskirche“. Längst bröckeln die Mehrheiten und immer öfter finden sich die Kirchen als Minderheit wieder – für Gärtner ein Anlass, daran zu erinnern, dass Minderheiten auch als Produkte der Mehrheiten und ihrer Machtausübung entstehen.
Dass man zur Mehrheit gehört, fällt erst auf, wenn man zur Minderheit wird. Ich erinnere mich an einen Open-air Gottesdienst der Von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, Heimat von Kranken, Abhängigen und Menschen, die ihr Leben nicht allein in den Griff bekommen. Eindrucksvoll mit CVJM-Posaunenchor und einer ausführlichen Exegesevorlesung als Predigt. Beides kam kaum gegen das Gebrabbel und die Unruhe in der Gemeinde an. EpileptikerInnen mit den damals noch typischen Helmen, die die Verletzungsgefahr bei einem Sturz verringern sollten, hatten einen Anfall. Andere liefen umher oder umarmten sich. Viele sangen mit, nur eben nicht im Takt oder Text. Nicht trotzdem, sondern gerade deswegen entstand eine entspannte Atmosphäre. Das war hier normal so. Ich war anders. Ich war Minderheit.
Ich war Minderheit.
Ähnlich bei einer Rundreise durch Nordamerika. Im Village von Toronto mit seiner LGBTQ-Community war ich fremd. Etwa in einer Bar voller Männer, in der nicht erst der Siegtreffer beim Fußball auf dem Fernsehbildschirm den Körperkontakt untereinander erlaubt. In New Orleans passierten wir unbedarft die Grenze zwischen dem bürgerlichen und dem prekären Stadtteil. Letzterer natürlich schwarz. Ein drohendes Whites don’t belong here reichte aus und wir nahmen Reißaus. Behindert, schwul und schwarz einmal nicht in der Minderheit, sondern gesund, straight und weiß.
Auch die Kirchen in Deutschland wähnen sich noch immer als Mehrheit. Sogar im braunen Sumpf beruft man sich schließlich auf das christliche Abendland. Und SoziologInnen meinen eine Renaissance des Religiösen entdeckt zu haben, nachdem die von ihnen lange Zeit prognostizierte Säkularisierung nicht nur bei HinterwäldlerInnen ausbleibt. Sogar VeganerInnen, Bücherwürmer und GamerInnen glauben heute an Gott. Zumindest einige von ihnen.
Die Kirchen in Deutschland wähnen sich noch immer als Mehrheit.
Die christlichen Konfessionsgemeinschaften sind in Deutschland nach dem Staat die größten Arbeitgeberinnen und das kirchliche Schulsystem, Beratungswesen oder die Diakonie werden auch von NichtchristInnen geschätzt. Der Staat handelt Hand in Hand mit den Religionsgemeinschaften zum beiderseitigen Vorteil. Der Bundespräsident meditiert und die Bundeskanzlerin redet auf Kirchentagen. Die KatholikInnen sind stolz auf ihren Papst, den sogar fortschrittliche TheologInnen zitieren mögen. Und die ProtestantInnen bereiten sich auf das Reformationsjubiläum vor, das ihnen endlich auch einmal mediale Brotkrumen zufallen lässt.
Hinter diesem schönen Schein versteckt sich eine garstige Wirklichkeit. Wer einen Eindruck von der institutionellen Fallhöhe des Christentums in Deutschland bekommen möchte, die wandere einmal bewusst durch eine Bischofsstadt. Die Kathedrale ist deren sichtbarer Mittelpunkt. Man trifft daneben auf City-, Kunst- und Jugendkirchen, Priesterseminare und Domherrenhäuser, Akademien und Klöster, theologische Fakultäten und konfessionelle Büchereien, Suppenküchen, Krankenhäuser, Schulen und Beratungsstellen. Der Kirchensteuer sei Dank. Doch obwohl die Konten vieler Bistümer und Landeskirchen voll sind, bleiben die Gotteshäuser leer.
Hinter dem schönen Schein versteckt sich eine garstige Wirklichkeit.
Im vergangenen Jahr haben 182.000 Menschen der katholischen und 210.000 Menschen der evangelischen Kirche ausdrücklich den Rücken zugekehrt. Noch mehr tauchen einfach ab oder sie waren nie da. Auch der demografische Wandel schlägt zu: die Oma kennt noch das Vater unser, die Enkel höchstens das Schalke unser, die Fanzeitung des gleichnamigen Fußballklubs. Noch gerade 58 Männer ließen sich im vergangenen Jahr zu Priestern weihen, während dies 1990 noch 295 gewesen waren. Mancher von ihnen arbeitet mit der Faust in der Tasche, andere gehen. Ähnliche Zahlen bei der protestantischen Kirche. Die Landeskirche von Kurhessen-Waldeck bezahlt potentiellen AnwärterInnen auf ein Pfarramt das Studium, nachdem jahrelang keine VikarInnen eingestellt wurden.
Dass der Priestermangel in der katholischen Kirche durch den so genannten Gläubigenmangel bedingt wird, ist übrigens eine Fiktion. Es ist genau umgekehrt. Weil die Kirche die Zugangsvoraussetzungen für die Leitungsverantwortung in den Gemeinden nicht verändern will und darum immer größere Seelsorgeeinheiten schaffen muss, laufen ihr die Gläubigen weg. Wenn die Kirche vor Ort geschlossen wird, dann hat dies einen nachhaltigen Effekt auf die religiöse Teilhabe. Da hilft der Hinweis wenig, dass die evangelischen Glaubensbrüder und -schwestern mit Frauen im Pfarramt und ohne Zölibat auch so ihre Probleme haben. Die mittelbaren (Zugangsbedingungen für das Amt) und die unmittelbaren Ursachen (Vergrößerung pastoraler Räume) gilt es auseinanderzuhalten.
Die Volkskirche in Deutschland bröckelt hinter ihrer eindrucksvollen institutionellen Fassade.
Die Volkskirche in Deutschland bröckelt also hinter ihrer eindrucksvollen institutionellen Fassade. In einer seltsamen Lust, Minderheit zu sein, wird dies von manchen begrüßt: Kirche als kleiner, heiliger Rest. Anderen jedoch bereitet diese Entwicklung Kopfschmerzen, und doch lebt die Volkskirche in eben diesen Köpfen weiter. Sie ist die Norm, an der man die Wirklichkeit misst. Mental bleiben die Kirchen in den 1950er Jahren und ihren konfessionellen Milieus stecken. Damals war man Mehrheit. Darum tun sich beide großen Konfessionen heute so schwer mit der Diaspora. Die hehre Vergangenheit spukt noch durch die Hirne.
Dabei kann man mit Recht Fragen an die damalige Verfassung des Christentums stellen. Denn entgegen dem Augenschein gehörten eben nicht alle dazu, sondern in der Volkskirche wurden Minderheiten produziert: wer einen Menschen vom gleichen Geschlecht oder einem anderen Glauben liebte zum Beispiel. Norbert Elias hat diese machtvolle Dynamik analysiert: man grenzt sich von den selbst geschaffenen Außenseitern ab, um nach Innen den Zusammenhalt zu sichern.
In der Volkskirche wurden Minderheiten produziert.
Es wäre lehrreich für die deutschen Konfessionsgemeinschaften, einmal nicht in der Vergangenheit zu leben oder neidisch auf die wachsenden jungen Kirchen in der Welt zu blicken. Ein Besuch in Tschechien oder den Niederlanden läge nahe, ein Besuch in Ostdeutschland noch viel näher. Dort kennt man die Erfahrung in der Unterzahl zu sein. Das hilft der angeschlagenen Volkskirche auf ihrem Weg in die Zukunft.
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Stefan Gärtner, Ass. Professor an der Tilburg School of Catholic Theology, NL.
Bild: Paul Bergmeir, unsplash.com