Inspiriert von Reise-Eindrücken und entsprechender Lektüre[1] befasst sich Ottmar Fuchs mit den spirituellen Dynamiken, die in der Architektur gotischer Kathedralen zum Ausdruck kommen. Er nimmt darin die Sehnsucht nach einer auch kontrafaktisch möglichen Zuversicht wahr.
Sie fand Anfang Mai 2024 statt: Eine Studienreise nach Südengland mit besonderer Konzentration auf die gotischen Kathedralen in Bath, Wells, Exeter, Salisbury, Winchester, Chichester und Canterbury, wechselnd in den drei englischen gotischen Stilen: Early English (1170-1240), Decorated (1240-1330) und Perpendicular (1330-1530), [2] manche auch im Übergang von einer zur anderen Periode.
In diesen Jahrhunderten gewinnen die höheren und niederen Adelsbereiche, Ordensgemeinschaften, Laienbewegungen und vor allem die wirtschaftliche Macht der Städte größere politische und finanzielle Bedeutung. Diese sozialgeschichtlichen Mitentwicklungen der Gotik seien hier nur angedeutet. Sie lassen erahnen, wofür die Gotik auch ein Ausdruck gewesen sein mag. Karl Scheffler vermutet sogar: „Der Stil, der Gotik heißt, ist recht eigentlich ein Volksstil, er ist demokratisch, er hat den Rhythmus eines erregten Kollektivwillens und die Linie des Freiheitsdranges.“ [3]
Mir geht es um die spirituellen Dynamiken, die in diesen Bauwerken zum Ausdruck kommen. Ich gehe dabei nicht auf die einzelnen Kirchen ein, sondern versuche den gebündelten Eindruck wiederzugeben, den die Kathedralen in mir ausgelöst haben und der mir in der Erinnerung geblieben ist.
Was für ein Erlebnis!
Sieben Kathedralen also, jeweils intensiv wahrgenommen, das war wie ein Rauschtrip in eine Architektur, die uns vom Sockel riss. Einen umwerfenden Eindruck hatte offensichtlich auch Johann Wolfgang von Goethe, als er das Straßburger Münster sah. Er sah darin die Entfaltung einer schier göttlichen Schöpfungskraft und pries von daher den Erbauer Erwin von Steinbach als ein „Genie“. [4] Zwei Vorstellungen verbanden sich dabei in Goethes Denken mit der gotischen Architektur: die „Sturm und Drang“-Bewegung und die Genie-Vorstellung. Ja, Goethe vergleicht den Baumeister der Kathedrale mit dem Baumeister der Welt, „der Berge aufthürmte in den Wolken …“[5]
Diese Architektur durchbricht himmelbestürmend alles, was dem Einhalt gebieten könnte.
In der Tat: Diese Architektur durchbricht himmelbestürmend alles, was dem Einhalt gebieten könnte. Sie überholt Zweckmäßigkeit und Funktion. Eine Wucht setzt sich hier nach oben durch, eine geistige Unruhe bricht sich hier Bahn, mit viel Phantasie dem Unbekannten und Geheimnisvollen entgegen. Der Reichtum an Gestaltung strömt aus einem tiefen Gefühl des Nichtbleiben-Könnens, ja stellenweise eines Rausches, einer Droge über das Diesseitige bzw. Mögliche hinaus. Man hat den Eindruck, als würden in dieser Dynamik die Gesteinsmassen nach oben getrieben werden, mit einer anwachsenden Entmaterialisierung des Materials. Und es ist schier so, als könnten sich die obersten Kreuzrippengewölbe und Rundlamellen jederzeit, schwingfähig zwischen innen und außen, nach oben öffnen und den freien Himmel freigeben, sei er taghell, sei er sternenhaft.
Und kommt man in eine Kathedrale mit breiten und hohen laternenhaften weißen oder farbigen Lichteinfällen (wie in der englischen Spätgotik, im Perpendicular), dann vibriert alles in Licht und Schatten. Licht- und Steinarchitektur steigern und intensivieren sich gegenseitig.
Entfesselung einer tiefsitzenden menschlichen Sehnsuchtskraft
Alles dient der Vertikalen, zuweilen rücksichtslos mitreißend. Diese Entfesselung einer tiefsitzenden menschlichen Sehnsuchtskraft hat in der Gestaltung des Entfesselten etwas Dämonisches und zugleich das Dämonische Bändigendes. Je höher und feingliedriger, desto gefährlicher wurde das ausprobierende Bauen. Von Einstürzen ist viel die Rede. Und in Salisbury biegen sich sogar die mächtigen Säulen.
Barbarisch?
Der Begriff der Gotik war zuerst einmal ein Ausdruck der Geringschätzung von der Seite der italienischen Renaissance her, die die goldene Antike wiederbelebte. Den Begriff hat der italienische Kunsttheoretiker Georgio Vasari aus dem italienischen Wort „gotico“ gebildet, was so viel wie barbarisch heißt. [6]
Ein Zustand der Ursprünglichkeit und Naturnähe
Scheffler wendet den Begriff des Barbarischen ins Positive: „In Wahrheit umschreibt der Begriff des Barbarischen … einen Zustand der Ursprünglichkeit und Naturnähe, der sich einer festen Normierung mehr oder weniger widersetzt.“[7] Barbarisch meint die Ursprünglichkeit der Sehnsucht, der Seele, des Gemüts und der Hoffnung, die alles mitreißt.
Scheffler unterscheidet zwischen der griechischen und der gotischen Formenwelt. „Der griechische Stil reiht gleiche Formen aneinander, er will die Wiederholung derselben Form, und eben darum bedarf er bei der Ausführung nicht so sehr großer schöpferischer Persönlichkeiten als vielmehr geschickter und sorgfältiger Arbeiter. …Innerhalb der gotischen Formenwelt aber … ist nicht eigentlich eine Form genau wie die andere, jede Form erscheint spontan geschaffen und … von einem subjektiven Willen durchgebildet; dadurch kommt in jede Form ein eigensinnig genialisches Eigenleben.“ An anderer Stelle schreibt er lapidar: „Im Griechischen wird die Schwere gebändigt, im Gotischen wird sie verneint.“
Weisheit der Gotik
So überpersönlich sich die Architektur hier gibt, so spiegelt sie doch darin benennbare Glaubenserfahrungen und Hoffnungssehnsüchte. Ich denke, dass hier zwei Gebetswege in besonderer Weise Ausdruck gewinnen: die Bitte, auch verbunden mit der Klage, und das Gotteslob, das Gott größer sein lässt als alles, was die Menschheit und das Universum sind und haben.
Wenn in der Kathedrale von Wells bei einer Säule im oberen Kapitell ein Gesicht, von Zahnschmerzen gezeichnet, sich in die himmelstürmende Bitte hineinbegibt, doch endlich davon befreit zu werden, dann zeigt sich hier die heftige Bewegung, die sich vom Unten des Leidens der Menschen hinauftreiben lässt in die Bitte und Klage vor Gott hinein. Aber die Architektur hört mit diesem Kapitell nicht auf, sie treibt weiter in die Höhe, in die immer sensibler werdenden Kreuzrippen, oft auch in die Fächer-förmigen Lamellenkreise, die sich jederzeit ganz nach oben öffnen können. [8] Hier öffnet sich die Architektur für den unendlichen und geheimnisvollen Gott und lässt ihn nochmals „größer“, unerschöpflicher sein als sich selbst.
Elementare Erfahrung der Volksfrömmigkeit durch die Jahrhunderte
Diese Architektur ist unzugriffig und lässt kein Wenn-dann-Spiel mit Gott als Talisman zu. Bitte und Anbetung, Noterfahrung von unten und Hoffnung auf den unendlichen Gott gehören, sich gegenseitig nicht bedingend, in gegenseitiger Freiheit zusammen. Auch wenn Gott nicht eingreift, wenn er keine Not beseitigt, überrollt die Dynamik der Gottesbeziehung zwar nicht die Klage und die Enttäuschung, sie überholt aber doch jede Art von Bedingung hinsichtlich der Gottesbeziehung selbst, der Anbetung in das Geheimnis hinauf. Dafür ragt die Kathedrale in den Himmel! Hier spiegelt sich die elementare Erfahrung der Volksfrömmigkeit durch die Jahrhunderte hindurch, die das Wohlergehen nicht zur Bedingung der Gottesbegegnung macht, die auch nach einer Nichterfüllung der Bitte den unendlich rettenden Himmel nicht aufgibt.
Die eigenen Erfahrungen:
Basis, aber nicht Maßstab der Gottesbeziehung
Des Menschen Hochhinaus geht von der Wahrnehmung der jetzigen Wirklichkeit über die Bitte (und wenn es gut geht, über den Dank) in das Hochhinaus Gottes selbst hinein, mündet darin, wird davon aufgenommen und hochgetragen. Es ist die steingewordene Metamorphose von der Klage in die Anerkennung Gottes, wie sie Hiob formuliert: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!“ (Hiob 1,21). [9] Die eigenen Erfahrungen werden also zur Basis, aber nicht zum Maßstab der Gottesbeziehung. Der Mensch kann Gott in dieser Dynamik bis hin zu den beweglichen Steinlamellen und über sie hinaus grundlos Gott sein lassen. Gott muss nicht nützlich sein, um Gott sein zu dürfen. Mit anwachsender Höhe verliert sich das Zweckmäßige und Bedingte, und die Architektur wird zum reinen Selbstwert dieser Himmelssuche.
Himmlische Öffnungen, die einen Unterschied machen
Ich schließe mit einem Erlebnis, einem musikalischen, das mich unmittelbar an die angesprochenen Erfahrungen in Südengland nicht nur erinnert hat: ich habe darin musikalisch vollzogen erfahren, was ich dort gesehen habe. Es war die achte Symphonie von Anton Bruckner, gespielt von den Bamberger Symphonikern, dirigiert vom fast 97-jährigen Dirigenten Herbert Blomstedt, der von dieser Symphonie sagte, dass sie „die Sehnsucht nach dem Ewigen“ repräsentiere und den Menschen „in eine Welt führe, die er sonst nie erreichen würde“. [10] Durch die Strapazen, Niederlagen und die Augenblicke des Glücks und der Zuversicht hindurch bündelt sich alles im letzten, im vierten Satz und dann endet das Ganze mit einer Klangkomposition, die alles nach oben hin aufreißt: Der Dirigent reißt in diesem Schluss die Hände nach oben und hält sie dort und auch der Ton hält sich in der Höhe, noch lange in die folgende Stille hinein, die Blomstedt dadurch verlängert, dass er die Arme nicht sinken lässt und damit den Applaus nicht freigibt. Bruckner hat recht, diese Symphonie ist ein Mysterium. Menschen erfahren sich hier nicht nur als Bewohner und Bewohnerinnen der Erde mit all ihren Freuden und Sorgen, sondern auch hinaufgehoben in eine Dynamik, die in den offenen Himmel hinein nicht aufhört.
Sehnsucht nach einer auch kontrafaktisch möglichen Zuversicht
Das alles wirkt zurück auf das Leben und gibt ihm die Ahnung eines heilbringenden Geheimnisses. Die emporstrebende Architektur der Hochgotik lässt die energische Kraft ahnen, mit der die Menschen den Himmel bestürmen und öffnen: ein steingewordenes Zeugnis für die Sehnsucht nach einer auch kontrafaktisch möglichen Zuversicht.
[1] Die folgenden Gedanken sind auch inspiriert durch das Insel-Büchlein von Karl Scheffler, Der Geist der Gotik, Leipzig 2/1919. Scheffler muss man nicht in jede Formulierung hinein zustimmen, aber die Richtung seiner Gedanken stimmt wohl.
[2] Sie entsprechen, grob gesagt, der deutschen Früh-, Hoch- und Spätgotik.
[3] Scheffler, Geist der Gotik 93.
[4] Nachzulesen in Goethes Text „Von Deutscher Baukunst“ aus dem Jahr 1773; vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Von_Deutscher_Baukunst (1.6.24)…
[5] Zitiert ebd.
[6] Und auf den Namen des Germanenstammes der Goten zurückgeht, vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Gotik (1.6.24).
[7] Scheffler, Geist der Gotik 51-52, folgende Zitate: 28, 30,50.
[8] Vgl. dazu Ottmar Fuchs, „Gott“ in der unendlichen Semiose, in: Jürgen Bründl, u.a. (Hg.), Zeichenlandschaften, Bamberg 2021, 475-495.
[9] Vgl. Ottmar Fuchs, Doxologie: Anerkennung Gottes in der Differenz, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 32 (2017) Beten, Göttingen 2019, 291-315.
[10] So zitiert im Programmheft der Bamberger Symphoniker 18. Mai 2024, Seite 2.
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Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
Fotos: Ottmar Fuchs