Unter den kontingenten Bedingungen der Gegenwart fragt Wolfgang Beck in Auseinandersetzung mit der konstellativ agierenden Theologie von Marius Fletschinger nach den Möglichkeiten eines christlichen Lebensstils im 21. Jahrhundert.
Wie sich zeitgemäße, systematische Theologie aus den Realitäten der Gegenwart heraus entwickeln lässt, zeigt der Ansatz von Marius Fletschinger. Er beschreibt sein induktives und korrelatives Vorgehen als „Assemblage“ (221), was sonst in der bildenden Kunst mehrdimensionale Kollagen bezeichnet. Dieses Kombinieren unterschiedlicher Ansätze und Impulse bleibt notwendig unabgeschlossen und suchend. Im Dialog mit den theologischen Arbeiten von Christoph Theobald und Elmar Salmann geht Fletschiger der entscheidenden Frage nach, wie sich in den Realitäten des 21. Jahrhunderts ein christlicher Lebensstil gestalten lässt und an welchen Orientierungspunkten er zu entwickeln wäre. In dieser Ausrichtung stellt sich die vorliegende Form der Theologie unter den naheliegenden, aber ganz und gar nicht selbstverständlichen Anspruch der Lebensdienlichkeit.
Eine tragfähige Theologie
ist die, die dem
Leben dient?
Theologische Reflexionen, gerade systematisch-theologische, haben sich demnach nicht nur in theologiegeschichtlichen Einordnungen zu verlieren, sondern unter den Anspruch der Relevanz in den gegenwärtigen Lebensrealitäten und der Glaubenssuche von Zeitgenoss:innen zu stellen. Soll auch wissenschaftliche Theologie, der im Raum der katholischen Kirche immer wieder ein erhebliches Maß an Misstrauen und Geringachtung entgegenschlägt, wenn sie nicht gleich gänzlich ignoriert wird, in gegenwartsgesellschaftliche Diskurse eingebracht werden, ist sie immer auch aus eben diesen gesellschaftlichen Herausforderungen heraus zu entwickeln. Der hier vorgestellte Blick auf einen christlichen Lebensstil veranschaulicht genau dieses Bemühen, weil er dem Bemühen um sinnvolle und tragfähige Elemente der Lebensgestaltung nachgeht. Dogmatische Bestimmungen nicht primär aus ihren theologiegeschichtlichen Beständen heraus vorzunehmen, sondern sie derart anhand von gegenwartsgesellschaftlichen Fragestellungen zu entwickeln, stellt die zentrale Herausforderung einer induktiv ausgerichteten Theologie dar.
Das Provisorische des Stils
So gilt es für Marius Fletschinger zunächst, die grundlegenden Kontingenzerfahrungen von Menschen des 21. Jahrhunderts in ihrem Bemühen um Identität zu heben. Die Konstruktionen des Ich orientieren sich in der Spätmoderne jedoch nicht an den Fixpunkten von starken Institutionen oder in Gestalt fester Bekenntnisse, sondern entlang ästhetischer Paradigmen und damit im Modus des Vorläufigen (65). Mit dem Begriff des „Stils“ greift die Studie einen Ansatz von Christoph Theobald auf, der diesen Prozessen von Identitätsentwicklungen im Modus des Provisorischen Rechnung trägt. Mit ihm lässt sich das unabschließbare Ringen um christliche Identität umreißen, das als Beziehungsgeschehen immer fragil und plural bleibt.
In Absetzung von einer überzeitlichen, den geschichtlichen Prozessen enthobenen Kirchlichkeit baut das vorliegende Verständnis auf der christologisch rückgebundenen Zeitbedingtheit von Kirche auf:
„Die faktische Realität und die theologische Reflexion sind dialektisch aufeinander verwiesen
und ebenso wenig voneinander zu trennen, wie die Kirche von der Welt zu lösen ist.
Gerade die Einsicht, dass Kirche auch eine historische Größe ist
und von ihrer Sendung her einen instrumentell-relativen Charakter hat,
gibt ihr eine aus der Christusnachfolge zu begründende zeitliche Variabilität,
um alles zu prüfen, das Gute zu behalten, das Schlechte zu ändern.“ (94).
Das Ringen um
spätmoderne Identitätskonstruktionen
Fletschinger bezieht sich auf soziologische Analysen spätmoderner Gesellschaften und ihre spezifischen Konstitutionsprinzipien als Grundlage von individuellen Identitätskonstruktionen, um Theologie jenseits der „Fiktion absoluter Gewissheit und denkerischer Eindeutigkeit“ (101) zu entwerfen. Immer wieder bewegt er sich dabei im Grenzbereich von systematischer und praktischer Theologie, etwa wenn er „Improvisation“ (103) als entscheidenden pastoralen Handlungsmodus identifiziert, der sich in einem suchenden, statt wissenden Stil ausdrückt.
Jenseits gesellschaftlicher und theologischer Sicherheiten findet sich im Stil-Begriff ein Ansatz und Begriff, der gerade aufgrund seiner Vielgestaltigkeit geeignet ist, die Formen spätmoderner Identitätskonstruktionen abzubilden. In Orientierung an Friedrich Nietzsche und Michel Foucault wird der Entwurf des Lebensstils zum Projekt der Einzelnen. Wo aber der Lebensstil zur lebenslangen Gestaltungsaufgabe und das Leben selbst zum Kunstwerk wird, entsteht unmittelbar die Frage nach einem christlichen Lebensstil. Dieser Stil bildet sich in einer dynamischen Verhältnissetzung von Denken, Verhalten und Empfinden. Wo Menschen immer wieder diese drei Pole kreativ miteinander austarieren, entsteht für Fletschinger ein persönlicher Lebensstil. Dieser hat seine Überzeugungskraft darin zu erweisen, „lebensweltsensibel und modernitätskompatibel“ (166) zu sein.
Bescheidenheit und Gastlichkeit
Mithilfe der gegenwartsgesellschaftlichen Analysen einerseits und den philosophischen Bestimmungen des Stil-Begriffs andererseits macht sich der Autor auf die Suche nach einer „Grundform zeitsensiblen Stils“ (189). Er überführt darin theologische Reflexionen in die Frage, an welchen Elementen sich ein persönlicher christlicher Lebensstil als Form der Lebensgestaltung orientieren könnte. Zu diesen Elementen gehört für ihn beispielsweise ein gnadentheologisch fundierter „versöhnlicher Umgang mit der existenziellen Beschränktheit des Lebens“, die sich in einer „Haltung der Bescheidenheit“ sich selbst gegenüber und einer „Großzügigkeit gegenüber anderen“ auszudrücken vermag.
Zu diesen Konkretionen gehört für Fletschinger auch eine kirchliche Bestimmung, die sich „geerdet“ an einer „gastlichen Heiligkeit“ (Christoph Theobald) ausrichtet:
„Die kirchliche Gemeinschaft würde demnach in ihrer Mitte vorbehaltlose Begegnung ermöglichen
und Freiräume für den individuell-kreativ zu akzentuierenden Lebens- und Glaubensvollzug bieten.“ (205).
Miteinander, voneinander, durcheinander
Da einzelne Christ:innen wie auch die Kirche als Ganze nach Christoph Theobald darauf ausgerichtet sind, „Inhalt und Form in Kongruenz zu bringen“, verbindet Fletschinger im Blick auf die kirchliche Praxis das entwickelte Stildreieck mit den klassischen Grunddiensten, so dass die Vielfalt der persönlichen Stilbildung von ihm mit drei Begriffen beschrieben werden kann: „miteinander, voneinander, durcheinander“ (212). Das ist nicht simpel, sondern ausgesprochen anspruchsvoll, um daran den Stil für ein kirchliches Miteinander und die persönliche, christliche Lebensgestaltung zu entwerfen. Deshalb wirbt er mit seinem Ansatz in dem Buch „Kontingenz und Stil“ ermutigend für eine Haltung der „dramatischen Zuversicht“.
Wer Freude an einer korrelativ an den Lebensrealitäten ausgerichteten Systematischen Theologie hat, die unabgeschlossen und spielerisch agiert, und wer sich nicht von dem Genre einer systematisch-theologischen Dissertationsschrift einschüchtern lässt, wird in diesen Impulsen für die Suche nach einem christlichen Lebensstil viele Anregungen zum Weiterdenken finden.
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Literatur: Fletschinger, Marius, Kontingenz und Stil. Zeitsensible Studien zu Motiven und Möglichkeiten christlicher Lebensgestaltung, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2024.
Wolfgang Beck ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M. und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
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