Im Diskurs über Geistlichen Missbrauch geht Michał Bursztyn der Bedeutung spiritueller Literatur und der Praxis der Beichte vor dem Hintergrund der Ergebnisse einer Schweizer Studie nach.
In der Erforschung sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche hebt sich die von den schweizerischen kirchlichen Institutionen in Auftrag gegebene Studie durch zwei Aspekte ab: Erstens werden in dieser Studie sowohl minderjährige als auch zum Tatzeitpunkt erwachsene Betroffene berücksichtigt.[1] Zweitens bedient sich diese historische Studie neben der Auswertung von Archivmaterial auch der oral-history-Methodik. Dadurch verleiht sie den Betroffenen eine Stimme, erweitert bewusst die Perspektive der auftraggebenden Institution(en) und bildet den Themenkomplex „Sexueller Missbrauch in der Katholischen Kirche“ angemessener ab.
Selbstreflexion auf institutioneller
und theologischer Ebene
Mit der historischen Erforschung des Missbrauchs ist die Aufarbeitung seitens der Katholischen Kirche nicht erledigt. Aufarbeitung, Gerechtigkeit für die Betroffenen und die Prävention künftiger Missbrauchstaten erfordern Selbstreflexion auf institutioneller und theologischer Ebene. Hierbei ist der von der Geschichtswissenschaft vorgehaltene Spiegel eine Hilfe. Im Folgenden zeige ich zwei Problemfelder auf, die einer weitergehenden Debatte bedürfen.
Täterstrategie spirituelle Rechtfertigung – Problem der Semantik oder Sakramententheologie?
Als Fallbeispiel von Missbrauch innerhalb einer Gemeinschaft führt die Autor:innenschaft der Studie zwei Ordensfrauen ins Feld und thematisiert dabei die anfänglichen Berührungen von Schwester T. an Schwester F. sowie deren spirituelle Rechtfertigung als Gesten der Liebe.[2] Die Theologinnen Haslbeck, Hürten und Leimgruber, auf die die Autorschaft der Studie verweist, haben in einem richtungsweisenden Aufsatz zum sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen diese Täterstrategie ausführlich behandelt.[3]
Daran anschliessend möchte ich folgende Fragen diskutieren: Was bedeutet die spirituelle Rechtfertigung von missbräuchlichen Handlungen theologisch? Haben der spirituelle und sexuelle Missbrauch in der Theologie einen Nährboden? Welche Konsequenzen folgen daraus für die kirchliche Praxis?
Die eigene Stimme
als Stimme Gottes
Wenn Täter:innen[4] sich der spirituellen Überhöhung bemächtigen („Gott will das so“), kann das als semantisches Problem angesehen werden: Sie geben ihre Stimme als die Stimme Gottes aus, ihren Willen als den Willen Gottes. Im Rahmen einer Präventionsveranstaltung hat die ehemalige Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Karin Iten, darauf hingewiesen, dass gewisse spirituelle Literatur Haltungen spiegelt, die für folgenreiche semantische Manipulationen anfällig sind. Dies trifft insbesondere auf Hingabegebete wie jene von Bruder Klaus oder Charles de Foucauld zu. Werden in ihnen die Adressat:innen der Hingabe an Gott durch eine spirituelle Autorität ersetzt, so können sie zur Manipulation missbraucht werden. Das heisst noch nicht, dass derartige Gebete notwendig in Missbrauch resultieren. Allerdings können sie durch die besagten Täterstrategien missbräuchlich und missbrauchsrechtfertigend rezipiert werden. Sie beinhalten nämlich jene Haltungen, die Täter:innen von den Betroffenen fordern („ich überlasse mich dir, mach mit mir, was dir gefällt“). Wenn die Hingabe nicht aus eigenem Antrieb erfolgt, sondern von der geistlichen Begleitperson nahegelegt oder gefordert wird, im schlimmsten Fall noch als Gottes Wille deklariert wird, dann ist aus dem „ich überlasse mich dir“ ein „überlasse du dich mir“ geworden. Aufgrund des seit der Enthüllung solcher Täterstrategien erweiterten Kontextes der Hingabegebete können diese nicht mehr unkritisch weitertradiert werden. Im Rahmen von etwas, das sich spirituelle Prävention nennen könnte, müssen sie kontextualisiert und ihr Potenzial, missbräuchlich missbrauchslegitimierend eingesetzt zu werden, thematisiert werden. Pointiert: Kirche kann nicht mehr so beten, wie zuvor.
Beichte – Gefahr der Subjektverschiebung
Im Bericht ist von spirituellem Missbrauch und sexuellen Übergriffen im Rahmen der Beichte zu lesen. Aufgrund des durch solche Taten zerstörten „psychische[n] und religiöse[n] Grundvertrauen[s]“[5] bei den Betroffenen müssen auch hier theologische Fragen gestellt werden: Hat die Theologie des Sakraments der Versöhnung (Beichte) Missbrauch begünstigt? Kann die Praxis dieses Sakraments so gestaltet werden, dass sexueller Missbrauch in der Beichte unmöglich ist? Wir können uns fragen, ob agere in persona christi (Handeln in der Person Christi) bei der Lossprechung Missbrauchstätern eine Subjektverschiebung von Christus auf den Beichthörenden allzu leicht macht. Das führt weiter zu der Frage, ob und wie die sakramental vermittelte Vergebung theologisch so formuliert werden muss, dass sie gegen ihre missbräuchliche Verwendung immun ist. Kriminologisch betrachtet schafft eine Beichtsituation Voraussetzungen für ein Vier-Augen-Delikt. Pastoraltheologisch schliesst sich daran die Frage an, wie Beichtzimmer oder gar Beichtstühle im Sinne der Prävention gestaltet werden sollten.[6] Wir können nicht mehr beichten wie bisher.
Relecture und für wen ist die Kirche da?
Missbrauchstäter:innen bedienen sich bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Taten häufig der sakralen und spirituellen Semantik und kodieren sie missbräuchlich um. Kirchliche Präventionsarbeit setzt bisher vor allem anstellungsrechtliche (Einholung von Strafregisterauszügen) und sensibilisierende (Weiterbildungen, Verhaltenskodex) Instrumente ein. Die Meldepflicht von strafbaren Handlungen kann als Intervention mit präventiver Wirkung angesehen werden. Darauf sollte auch genuin theologische Präventionsarbeit der Kirche folgen.
Eine missbrauchskritische Relecture
spiritueller Literatur
Theologische Missbrauchsprävention bedeutet eine missbrauchskritische Relecture seelsorglicher Praxis und ihrer Fundamente. Eine solche nimmt Missbrauchspotenzial in seelsorglichen Situationen wahr und gestaltet diese mit entsprechenden Täterschwellen. Konkret lässt sich dies etwa durch Beschränkung der Beichte auf öffentlich zugängliche Räume wie etwa Beichtzimmer oder Beichtstühle zu publizierten Zeiten gestalten. Analog dazu sollten seelsorgliche Gespräche in von aussen einsehbaren Räumen stattfinden. Einer missbrauchskritischen Relecture muss auch spirituelle Literatur unterzogen werden. Diese Texte können nicht mehr naiv gegenüber ihrer Suggestivkraft, die sie auf suchende, vulnerable Menschen haben, gelesen werden. Das heisst nicht, dass man einen neuen Index verbotener Texte einführen soll, es darf aber in den theologischen und praktischen Bildungsgängen kirchlicher Trägerschaft ein entsprechender Paradigmenwechsel und die Einführung (rechtlich) verbindlicher Standards erwartet werden. Dabei wäre, wie es can. 1752 in einem anderen Kontext formuliert, das Heil der Seelen das oberste Gesetz in der Kirche. Mit strafrechtlichen, kirchenrechtlichen, aber auch theologischen Mitteln neue Missbrauchstaten zu verhindern, gedanklich zu durchdringen, wie sich Missbrauchstäter:innen der Theologie bedienen und den Betroffenen bereits begangener Verbrechen Recht verschaffen, ist Einsatz für das Heil der Seelen.
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Michał Bursztyn ist Theologe und Seelsorger in Adliswil im Kanton Zürich. Von 2013 bis 2019 war er Assistent für Exegese des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
[1] Vgl. Vanessa Bignasca, Lucas Federer, Magda Kaspar, Lorraine Odier: Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts. (Res gestae, Bd. 1), 2023, 15.
[2] Vgl. Bignasca, Federer, Kaspar, Odier: Pilotprojekt (Anm. 1), 77.
[3] Cf. Barbara Haslbeck, Magdalena Hürten, Ute Leimgruber: Missbrauchsmuster – hidden patterns of abuse (20.12.2022). Auf feinschwarz.net, vgl. ‹www.feinschwarz.net/missbrauchsmuster›.
[4] Wie die Studie selbst erwähnt, sind Missbrauchsbeschuldigte bis auf wenige Ausnahmen Männer. Die gleiche Studie erwähnt jedoch auch, dass Frauen als Täterinnen bisher in der Forschung weitestgehend unbeachtet sind. Die Gegenderte Form in diesem Text soll nicht über diese Geschlechterverhältnisse hinwegtäuschen. Zugleich erscheint sie sinnvoll, um die blinden Flecken der Forschung nicht zu reproduzieren. Cf. Bignasca, Federer, Kaspar, Odier: Pilotprojekt (Anm. 1.), 15 Anm. 6.
[5] Bignasca, Federer, Kaspar, Odier: Pilotprojekt (Anm. 1), 80.
[6] Vgl. Ulrich Engel: Strukturell missbrauchsanfällig… Das Institut der Beichte zwischen pastoraler Seelenführungstechnik und klerikal(istisch)em Kontrollinstrument – eine theologische Reflexion im Anschluss an Michel Foucault. In: Karl; Weber: Missbrauch und Beichte. Erfahrungen und Perspektiven aus Praxis und Wissenschaft. Würzburg 2021, 93-136. Engel ist hier an Pastoralmacht interessiert und wie diese im Sakrament der Beichte realisiert wird und so einen missbrauchsbegünstigenden Klerikalismus stärkt. Sexuelle Übergriffe im Rahmen der Beichte hat er in seinem systematisch-historischen Beitrag nicht im Blick. Jedoch bewahren seine machtstrukturellen Überlegungen die Praktiker:innen davor, in der Verwendung von Beichtstühlen ein präventives Allheilmittel zu sehen. Vgl. insbesondere 129-135.
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