Ein Bootssteg in der Schweiz wird zum Anziehungspunkt für koreanische Reisende und als Fotomotiv unzählig in sozialen Medien geteilt. Miriam Löhr beleuchtet das Geschehen um den Bootssteg, das rituell und sinnkonstituierend anmutet, mit Blick auf soziologische Raumtheorien.
Schauplatz der folgenden Betrachtungen ist ein Bootssteg am Schweizer Brienzersee, verknüpft mit einer südkoreanischen Netflix-Serie und den (digitalen) Praktiken um beide herum. Was verbindet den kleinen Bootssteg in der Schweiz mit Süd- und Nordkorea? Weshalb reisen Menschen von weit her zu genau diesem Ort, der zuvor keine touristische Bedeutung hatte? Was ist das für ein Raum, der hier entsteht?
Der Ort
Das Schweizer Bergdorf Iseltwald im Berner Oberland liegt malerisch am Brienzersee. Das durch Gletscherpartikel türkis leuchtende Wasser ist erfrischend kalt und lädt im Sommer zum Baden ein. Auf der anderen Seite des tiefen Sees erhebt sich auf über 2000m das Augstmatthorn mit seinem schmalen Grat. Zum Dorf und seinen gepflegten Holzchalets gelangt man auf drei Wegen: es gibt eine Straße, auf der das Postauto fährt, einen Wanderweg, der sich am Seeufer entlangschlängelt, und einen Schiffsanleger.
Fährt man mit dem historischen Dampf- oder dem Motorschiff nach Iseltwald, fällt auf, dass viele Reisende auf etwas Bestimmtes zu warten scheinen. Als sich das Schiff dem Ufer nähert und der Bootssteg in den Blick kommt, entsteht eine gespannte Unruhe: Tourist:innen stehen mit ihren Handys parat zum Fotografieren an Deck. Eine Touristin raunt einer anderen zu: “There it is!” Die andere antwortet: “Crash landing on you. We only came for that!” Das Schiff legt an, und Reisende strömen von Deck. Am Schiffsanleger ist zunächst – nichts. Kein Restaurant, keine Eisdiele, kein Supermarkt – keinerlei Infrastruktur, über die touristisch frequentierte Orte häufig verfügen. Einige Meter vom Schiffsanleger entfernt befindet sich das Ziel vieler Anreisender: ein kleiner Holzsteg am Wasser mit einem Drehkreuz davor. Auf der Landseite warten geduldig Dutzende Menschen in der Sonne – kleine Gruppen von Freund:innen, Familien über drei Generationen, Paare. Bänke gibt es kaum, die meisten sitzen auf einem kleinen Rasenstück oder auf den großen Steinen am Ufer. Viele haben sich besonders gekleidet wie Gäste eines feierlichen Anlasses: Weiß, helle Farben, Schwarz und elegant, keine „praktischen“ touristischen Outfits.
Das Ritual
Auf dem Bootssteg, hinter einer Schranke, spielt sich Folgendes ab: eine junge Frau in einem weißen Kleid posiert auf dem Bootssteg. Sie steht mit dem Gesicht Richtung See und wirft die Arme in die Höhe. Dann setzt sie sich an einer bestimmten Stelle vorn ans Wasser. Ihre Freundin, ebenfalls auf dem Steg, fotografiert sie in den unterschiedlichen Posen. Dann tauschen beide die Rollen. Nach einer Weile verlassen sie den Steg, und die Vordersten aus der Warteschlange strömen durch das Drehkreuz, das dafür von ihnen fünf Schweizer Franken verlangt, und fotografieren sich wiederum gegenseitig. Eine oft lange Anreise um die halbe Welt und das geduldige Warten vor Ort gehören zu diesem Ritual dazu.[1]
Der Hintergrund
Den Hintergrund dieses Rituals bildet eine südkoreanische Serie aus den Jahren 2019/2020, die in vielen asiatischen Ländern große Popularität erlangt hat: Crash landing on you. Die Serie erzählt in 16 Folgen von der Beziehung zwischen einer jungen Südkoreanerin und einem jungen Nordkoreaner. Beide begegnen einander immer wieder in der Schweiz, die für sie einen freien Ort und damit eine Möglichkeit der Begegnung darstellt. Der Iseltwalder Bootssteg ist Schauplatz einer Abschiedsszene, in der der nordkoreanische Protagonist auf einem Klavier spielt, das neben seinen Koffern abreisebereit auf dem Bootssteg steht. Für zahlreiche Fans der Serie ist dieser damit zu einer Art Pilgerort geworden.
Der Raum
Was für ein Raum entsteht hier? Aus raumsoziologischer Perspektive ist besonders interessant, dass in der erzählerischen Komposition der Netflix-Serie drei Orte miteinander verbunden werden. Die südkoreanische Protagonistin gerät während eines Sturms verbotenerweise über die Grenze nach Nordkorea – „Grenze“ und die (Un)Möglichkeit ihrer Überwindung werden damit als zentrales Thema gesetzt. Auch der nordkoreanische Protagonist überschreitet die Landesgrenze im Verlauf der Serie. Beide treffen sich an mehreren Orten in der Schweiz, besonders markant inszeniert wird der unscheinbare Bootssteg am Brienzersee.
Raumsoziologisch betrachtet geschieht hier unter Rückgriff auf Martina Löw[2] Folgendes: Menschen (die Protagonist:innen Yoon Se-ri und Ri Jeong-hyeok) und Güter (das Klavier) werden an Orten (u. a. dem Bootssteg) plaziert. Diesen Prozess des Selbstplazierens von Lebewesen und des Plazierens von sozialen Gütern an Orten bezeichnet Löw als Spacing, wodurch Raum entsteht.
Zu diesem Prozess gehört die Syntheseleistung. Dies meint die Verknüpfung von Orten – die sich im Gegensatz zum Raum geographisch verortbar auf einer Landkarte befinden – durch Menschen, die durch Erinnerung und Vorstellung Bezüge zwischen ihnen herstellen und sie dadurch relational verknüpfen. Iseltwald wurde durch die koreanische Serie verändert – nicht nur dadurch, dass am Bootssteg ein Drehkreuz installiert wurde. Das Dorf ist seit dem Erscheinen der Serie und den an sie anknüpfenden „Pilger“-Praktiken der Fans mit Süd- und Nordkorea verbunden.
Dies nicht zuletzt durch Praktiken, die diese Verknüpfung wiederum in den digitalen Raum übertragen, indem die auf dem Steg aufgenommenen Fotos verschickt und auf Social Media gepostet werden. Das körperliche Aufsuchen des Ortes durch Individuen, ausgelöst durch eine digital verfügbare Serie, wird wiederum digital verarbeitet und als Bildmaterial reproduziert. Löws Syntheseleistung spielt sich auch im digitalen Raum ab und stellt diesen dadurch erst her.[3]
Iseltwald ist demnach nicht einfach „da“, sondern entsteht in dieser Bedeutung durch Handlungen von Menschen, die den Raum auf diese Weise erschaffen: Raum und Ort hängen in einem zirkulären Prozess zusammen und entstehen erst im Miteinander. Die körperlichen Praktiken am Steg stiften eine hybride Fangemeinde – in der Wartegemeinschaft am Drehkreuz und digital vermittelt weltweit.
Die Schwelle
Nochmals zurück zur Grenze als Thema der Serie. Das Drehkreuz am Steg erscheint – im Gegensatz zur nord-süd-koreanischen Grenze in der Serie – nicht als unüberwindbare oder gefährliche Grenze, jedoch als Schwelle, die überwunden werden muss. Im Gesamt der Reisekosten halten sich die verlangten fünf Franken in Grenzen. Der symbolische Wert, der sicher nicht mitbeabsichtigt ist, raumsoziologisch und ritualtheoretisch jedoch augenfällig, ist hingegen nicht zu unterschätzen. Das Gelangen an den Zielpunkt der Reise wird durch das Warten vor dem Drehkreuz und das Überschreiten dieser Schwelle nochmals retardiert und mit Bedeutung aufgeladen. An diesem Steg konstituiert sich ein komplexes, ritual- und raumtheoretisch interessantes Geschehen, nicht zuletzt, weil es Erwartbares überschreitet.
Miriam Löhr, Dr. phil., ist Postdoc am Institut für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Mitarbeiterin am dortigen Kompetenzzentrum Liturgik.
Beitragsbild von Miriam Löhr
[1] Ein ritualtheoretischer Blick auf die „Liturgie“ des Geschehens findet sich auf http://liturgikblog.unibe.ch/index.php/2024/05/22/eine-pilgerliturgie-am-bootssteg/ (19.08.2024).
[2] Löw, Martina, Raumsoziologie. Frankfurt am Main 102019.
[3] Vgl. Löhr, Miriam, Spacing und Prozess: Herstellung digitaler Räume. Annäherungen anhand einer Fallstudie zu „Filmischen Videogottesdiensten“, in: Praktische Theologie 3/2023. 169-178.