Das Erstaunen, Unverständnis und Entsetzen über die Ergebnisse der Wahlen in Deutschland in den vergangenen Monaten ist für Hubertus Schönemann Anlass für eine Spurensuche.
In drei Landtagswahlen im September hat die zumindest in Sachsen und Thüringen als rechtsextremistisch eingestufte Alternative für Deutschland (AfD) sehr hohe Wahlergebnisse eingefahren, in Thüringen ist sie sogar stärkste Kraft. Mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) hat ein Parteienneuling einen Stand erreicht, der es für manche Regierungsbildung unentbehrlich macht.
Auch wenn nach Umfragen und Europawahlen im Juni solche Ergebnisse niemanden überraschen dürften, stehen doch viele mit Erstaunen, Unverständnis und Entsetzen vor dieser politischen Situation und fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen und Folgen. Warum sind populistische Kräfte, die derzeit kein erkennbares politisches Angebot haben, bzw. sich als Alternative zu den bisherigen Parteien gerieren, gerade in Ostdeutschland so erfolgreich? Oder zeigt sich in der Wahl von autoritär-identitären, nach rechts tendierenden und Exklusion propagierenden Kräften ein Trend zu einer Komplexitätsreduzierung, der europa- und weltweit zu beobachten ist und nicht allein als ostdeutscher „Sonderweg“ zu deuten ist? Immerhin spricht die außerordentlich hohe Wahlbeteiligung für eine starke politische Mobilisierung, die grundsätzliche Fragen nach der Art und Weise stellt, wie in der bisherigen repräsentativen Parteiendemokratie Lösungen für die nationalen und globalen Probleme gesucht und realisiert werden.
So kann das nicht weitergehen!
Es ist eine komplexe Melange von Ansätzen des Verstehens. Vieles spricht dafür, dass tatsächlich zunächst die Erfahrungen in der DDR und der Zeit der Friedlichen Revolution, aber auch die Transformationsgeschichte des Ostens nach der deutschen Wiedervereinigung Ursachen anbietet. Gegenüber einer zumeist aus westdeutscher Perspektive propagierten Aufhol- und Angleichungserzählung des Ostens an den Westen zeigt sich derzeit in den neuen Ländern deutlicher ein bleibender Unterschied in vielen Kennzahlen, Mentalitäten und Identitäten. Auch bei jungen Menschen ist eine neue Ostidentität zu konstatieren (Schönian 2020). Und dies trotz selbstverständlich wachsender Gemeinsamkeiten durch Binnenmobilität und trotz innerer regionaler Diversität Ostdeutschlands, das ähnlich wie Regionen in Westdeutschland nicht vereinheitlicht werden darf (vgl. Mau 2024).
Zunächst der Blick auf den „Osten“: Die aktuellen Wahlergebnisse kann man als ein Signal an „die da oben in Berlin“, an das politische System insgesamt deuten: „Es muss sich was ändern!“, „So kann das nicht weitergehen!“, höre ich oft. Wenn man nachfragt, was genau und wie es verändert werden sollte, erhält man kaum tiefergehende Antworten. Vieles spricht für eine grundsätzliche Krise des demokratischen Systems, die sich in der Wahrnehmung der Situation in Ostdeutschland als Exempel anzeigt. Schauen wir aber zuerst auf Faktoren, die für eine spezifische gesellschaftlich-politische Entwicklung im Osten sprechen. Die populäre These vom Osten als „Opfer“ der „Übernahme“ durch den Westen (Oschmann 2023) hat zwar als Narrativ viele Befürworter im Osten und erklärt möglicherweise eine Sicht auf die Grünen als Feindbild: ein Paradigma für die Bevormundung durch eine akademisch-bildungsnahe, aber erfahrungsferne westdeutsche „Elite“.
Aber man muss historisch und gesellschaftlich tiefer gehen. Während im Westen die DDR zumeist als Diktaturgeschichte und die Wende als Befreiung davon gelesen wird, zeigt sich im Osten in der zeitlichen Distanz eine gewisse Verklärung der positiven Seiten der DDR („Es war nicht alles schlecht“). Der DDR-Staat hatte eine doppelte Funktion: Einerseits paternalistisch-sorgend kümmerte er sich allgegenwärtig und gleichschaltend um alle Belange des täglichen Lebens: Ausbildungswege, Arbeitsplätze, Versorgung mit Konsumgütern und deren Subventionierung, Zuteilung von Wohnung, Urlaub und Kinderbetreuung. Andererseits äußerte er sich bevormundend und überwachend, orientierte die politische Meinungsbildung monopolistisch in einem Einparteiensystem, das den Staat darstellte („Die Partei, die hat immer Recht.“).
Demokratie als Lösung von Problemen durch ‚die Regierung‘.
Von daher ist der befremdliche Tatbestand zu verstehen, dass die neue Rechte mit Slogans aus der Wendezeit 1989/90 erfolgreich agiert, nun jedoch populistisch vereinnahmt: „Wir sind das Volk“, „Freiheit“ vor der staatlichen Willkür (der „Altparteien“), „Wir holen uns unser Land zurück!“, „Der Osten macht’s“ bedient die Identitätsbedürfnisse vieler Ostdeutschen im Sinne einer Emanzipation gegenüber dem „System“ bei gleichzeitiger Nostalgie nach der vermeintlich sozial-angenehmen und „kuscheligen“ Lebensatmosphäre der DDR-Zeit. Die Ambivalenz des DDR-Staates führte dazu, dass sich im Osten auch nach der Wiedervereinigung keine starke Zivilgesellschaft entwickelt hat. Es gibt weniger Vereine, weniger Meinungsbildung durch intermediäre Organisationen, weniger Diskurskultur als Einübung in konstruktiv-kritische Auseinandersetzung auf Augenhöhe. Der Rückzug ins Private wird durch die starke Betonung des Familienlebens und der Gestaltung der eigenen Datsche symbolisiert. Demokratie wird als Lösung von Problemen durch „die Regierung“ und weniger als Kompromisssuche in einem gesellschaftlich und politisch offenen Meinungsdiskurs gesehen.
Hinzu kommt: War die Einführung der Demokratie im Westen Deutschlands mit Care-Paketen, dem Wirtschaftswunder und der Erzählung vom sozialen Aufstieg verknüpft, wurde die „Übernahme“ der Demokratie im Osten hingegen von Deindustrialisierung (Die Treuhand wird in diesem Zusammenhang im Osten als Zerstörung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen wahrgenommen.), Arbeitslosigkeit, Emigrationsströmen besonders junger und gut ausgebildeter Menschen nach Westen begleitet. Der „Beitritt“ zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG (nicht Verfassungsdiskussion gem. Art. 146 GG) führen zum Gefühl der Abwertung des Ostens und seiner Bewohner:innen, was auch Anerkennung von Lebensleistungen, Kulturbeitrag etc. betrifft. Noch immer ist stellenweise Überheblichkeit oder Desinteresse des Westens gegenüber dem Osten spürbar.
Die sozio-ökonomische Situation ist heute im Osten sehr ambivalent: Städte sind zwar anders als ländliche Regionen, was Durchschnittsalter, Bildungsferne etc. angeht, aber insgesamt gibt es im Osten weniger Industriearbeitsplätze, geringere Tarifbindung, geringere Eigentumsquote, weniger Erb:innen etc.
Eine als rechtsextremistisch eingestufte Partei ist kein Schreckensbild.
Der Antifaschismus, in der DDR als Staatsräson betrieben, hatte zur Folge, dass tatsächlich der Nationalsozialismus in der DDR selbst wie später auch die Erfahrungen in der DDR in der Nachwendezeit ein Tabu waren und nicht ausreichend bearbeitet wurden. Eine vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestufte Partei ist für viele kein allseits geächtetes Schreckensbild. Sie ist wählbar, weil: „Sie stehen doch auf dem Wahlzettel.“ Möglicherweise wird von einem bestimmten Prozentsatz (nicht nur im Osten Deutschlands) der AfD-Anhänger:innen tatsächlich rassistisches, nationalistisches, sexistisches und homophobes Gedankengut vertreten. In jedem Falle scheint daher eine völkische und rechts-nationalistische Propaganda und Ideenwelt von Meinungsführer:innen zumeist westdeutscher Provenienz bei manchem im Osten derzeit auf fruchtbaren Boden zu fallen.
Die aktuelle Autoritarismusstudie der Uni Leipzig 2022 zeigt im Osten zwar eine Abnahme des Anteils von Menschen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild, aber auch eine Zunahme von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (z. B. gegen Muslime) und Antifeminismus. Es bestehen Ressentiments, die durchaus politisch mobilisiert werden können. Die Demokratie als solche hat zwar hohe Zustimmungswerte, mit der demokratischen Alltagspraxis sind viele Ostdeutsche jedoch unzufrieden. Insbesondere zeigt sich ein massiver Vertrauensverlust in staatliche Institutionen und Parteien. Die Historikerin Christina Morina hat Beteiligungsformen und damit Demokratievorstellungen in Ost und West seit den 80er Jahren untersucht. Ihre Analyse von Eingaben und Bürger:innenbriefen vor 1989, der Bürger:innenbewegung während der Wende-Zeit, deren politische Vorstellungen sich zugegebenermaßen nach den ersten freien Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 im weiteren Verlauf der Entwicklung nicht wirklich durchsetzen konnten, lässt Unterschiede im Staats-, Demokratie- und Politikverständnis zwischen Ost und West und andere Erwartungshaltungen im Osten hervortreten. Sie zeigen dort eine Idee von Volksdemokratie, die aber auf eine bestimmte Weise mit dem Staat und seinen Institutionen fremdelt.
Die Komplexität der Welt ‚benötigt‘ als ‚Heilmittel‘ vereinfachende Identitätspolitik.
Aktuelle Themen und Schauplätze, an denen sich diese unterschiedlichen Sichtweisen mehrheitlich manifestieren, sind u. a. die Ablehnung einer (ungesteuerten) Migration und der Vorwurf der Meinungsdiktatur („Man kann nicht offen seine Meinung sagen“). Genauere Analyse bringt allerdings zum Vorschein, dass jene mit einer abweichenden Meinung und vorgebrachtem Widerspruch und Kritik durch andere nicht angemessen umgehen können. Damit verbunden ist eine Sicht auf Medien als abhängige Handlanger der „Altparteien“ (AfD-Sprech).
Bisweilen mag es in alldem die Angst sein, selbst zu kurz zu kommen. Menschen fühlen sich nicht gehört, wahrgenommen und angemessen vertreten. Wirtschaftlich geht es vielen in Ostdeutschland nicht schlecht, viele aber befürchten einen Wohlstandsverlust und haben Angst vor sozialem Abstieg. Im Hintergrund stehen jedoch noch viel grundlegendere Fragen der Vielfalt an Lebensentwürfen, u. a. symbolisiert durch sexuelle und geschlechtliche Diversität. Die Komplexität einer unüberschaubar gewordenen Welt „benötigt“ als „Heilmittel“ offenbar das Angebot einer insinuierten Homogenität und eine vereinfachende und vereindeutigende Identitätspolitik („Heimat“).
Gesamtdeutsch: Sorge um die eigene Identität, um Sicherheit und Wohlstand.
Doch damit ist der Osten Deutschlands mitnichten allein. An dieser Stelle können wir zu gesamtdeutschen Wahrnehmungen übergehen. So zeigt sich der Osten in seiner Transformationserfahrung als Vorreiter von gesellschaftlichen und politischen Narrativen und Identitätspostulaten, wie sie sich deutschlandweit und in Europa derzeit vielseitig zeigen. Es ist überdeutlich, dass wir uns bereits seit Längerem in einer Übergangszeit befinden, die durch massive Probleme und Insuffizienzen in den bisherigen Systemen gekennzeichnet ist.
Mit der Ablehnung eines ungeregelten Zuzuges von Geflüchteten vor allem aus Ländern mit islamischer Bevölkerung, verbunden mit der Kritik, dass die nicht arbeitenden Migrant:innen mehr bekommen als z.B. die Deutschen mit Mindestlohn („Germany first“), ist die Sorge um die eigene Identität, um Sicherheit und Wohlstand verbunden. Die Transformation der Volkswirtschaften angesichts veränderter Rahmenbedingungen ist mit Händen zu greifen. Die Systeme von Bildung, Digitalisierung, Modernisierung der Verwaltung, Bürokratieabbau etc. kommen an ihre Grenzen bzw. erweisen sich als nicht ausreichend für die Zukunft.
Klimaschutz ist verbunden mit massiven Investitionen (Heizungstausch, E-Mobilität), die Covid-Pandemie hat die Grenzen und das teilweise Versagen staatlicher Vorsorge und Sicherung vor Augen geführt. Die Knappheit bezahlbaren Wohnraums in Ballungszentren lässt einen Eigentumserwerb junger Familien auch mit guten Einkommen in weite Ferne rücken. Die sozialen Sicherungssysteme wie Rente und Pflege sind den demografischen Veränderungen nicht angemessen. Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden zeigt ebenso wie die Situation im Schienenverkehr die schwerwiegenden Versäumnisse in der Infrastruktur Deutschlands. Geopolitisch wird von Verteidigungs- bzw. sogar Kriegsfähigkeit gesprochen. Bei alledem wird das Miteinander der Regierungsparteien in der Ampelkoalition als Streit und Lösungsverweigerung wahrgenommen. Mehr noch: Man kann den Eindruck gewinnen, dass die massiven Probleme in dieser globalen Transformation von den aktuellen Parteien mit ihrem Agieren nicht wirklich gelöst werden können.
Ein Klima des wertschätzenden Diskurses wiedergewinnen.
Für die anstehenden Probleme und deren Finanzierung werden wohl tatsächlich Wohlstandsverluste unvermeidbar sein. Politisch Verantwortliche in der Halbwertszeit der Legislaturen trauen sich jedoch nicht, dies ehrlich zu sagen und dazu beizutragen, dass die Lasten gerecht zwischen den Menschen verschiedener sozialer Lagen (synchron) und zwischen den Generationen (diachron) verteilt werden.
Politischer Herbst in (Ost-)Deutschland: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die prekäre Lage der Demokratie in freien, liberalen und offenen Gesellschaften insgesamt, gerade angesichts von nationalistischen und rechtspopulistischen Versuchen der Staatsführung in Europa und weltweit. Möglicherweise sind die aktuellen politischen Verhältnisse ein Indiz dafür, die Demokratie weiterzuentwickeln und neue Formate der Beteiligung auszuprobieren. Für unser Land ist es entscheidend, ein Klima des wertschätzenden Diskurses wiederzugewinnen, um konkrete Problemlösungen zu finden und erfolgreich anzuwenden. Um eine gute Erzählung von der Zukunft zu finden. Um den Dialog mit den Bürger:innen und zwischen den Bürger:innen zu intensivieren, damit Politik und Zivilgesellschaft gestärkt werden. Dazu können viele einen Beitrag leisten.
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Literatur:
Kowalczuk, Ilko-Sascha, Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, München 2024.
Mau, Steffen, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin 2024.
Morina, Christina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, München 42023.
Oschmann, Dirk, Der Osten – eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023.
Schönian, Valerie, Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet, München 2020.
Bild: privat