Noch funktioniert die Steuerung von katholischer Kirche. Die Herausforderungen aber sind groß und die Weiterentwicklung kirchlicher Steuerungskultur ist notwendig. Von Lukas Grangl.
Die Welt verändert sich mit einer Geschwindigkeit, die einen herausfordernden Veränderungsanspruch an Bestehendes stellt. Diese Erfahrung ist der Katholischen Kirche nicht fremd. Gerade heute stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit die Frage, wie der kirchliche Kernauftrag, das Verkünden des Evangeliums (Mk 16,15), erfüllt werden kann. Es geht um die alles entscheidende Frage, wie Kirche in einer pluralen Gesellschaft in Wort und Tat Wirksamkeit entfalten kann. Im Herzen dieser Frage nach dem Wirksam-werden-können steht das Phänomen der Steuerung: Wie kann eine Organisation zielgerichtet Leistungs- und Handlungsfähigkeit generieren?
In den Blick rückt dabei insbesondere die kulturelle Dimension, der „Geschmack“ von Steuerung sowohl für die Adressat:innen als auch die Steuernden. Die folgenden, auf der Basis von Expert:inneninterviews entwickelten Erkenntnisse[1] zeigen am Beispiel der österreichischen Diözese Graz-Seckau, dass Steuerungskultur ein für das Wirken einer Ortskirche entscheidendes, lebendiges Phänomen ist, das überall dort präsent ist, wo gemeinsam gehandelt wird.
Der „Geschmack“ von Steuerung
Steuerungskultur ist dabei Ausprägung einer spezifischen Organisationskultur und umfasst „alle gelebten und gelernten, (bewussten oder unbewussten) Vorstellungen, Denkformen, Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Handlungsweisen, Glaubensüberzeugungen, Ziele und Werte der mit der katholischen Kirche formell oder informell verbundenen Menschen, die in einer jeweiligen Ortskirche steuerungsrelevant sind.“[2] Sie übernimmt die wichtigen Funktionen der Komplexitätsreduktion und -bewältigung sowie der Sinn- und Orientierungsstiftung.[3]
Steuerungskultur hat jeder, der kirchlich mitwirkt, bereits praktisch erlebt. Sie lässt sich etwa „live“ dann beobachten, wenn Entscheidungen zu treffen sind: Welche Ziele sind relevant? Wie werden Prioritäten gesetzt? Wer spricht mit wem? Worum wird wie „gerungen“?
Eine bedeutende Rolle kommt hierbei formalen Strukturen zu: Wer füllt welche Funktion, welches „Amt“, aus? Steuerung findet anhand zahlreicher Steuerungsmittel statt, die von formellen kirchenrechtlichen Regelungen über Weisungen bis hin zu informellen Kommunikationen reichen, die wiederum in ganz unterschiedlichen Prozessen und Abläufen „verpackt“ sein können.
Katholische Besonderheiten
Die Katholische Kirche weist hierbei Besonderheiten auf, die sich so in anderen Organisationen nicht wiederfinden, etwa eine grundlegende Klerikerorientierung von Strukturen und Prozessen. Neben diesen strukturellen Voraussetzungen spielen auch – und gerade! – „weiche“, beispielsweise kommunikative Faktoren im kirchlichen Kontext eine Rolle. Dies kommt etwa dann zum Ausdruck, wenn interviewte Expert:innen davon berichten, dass gerade zwischenmenschliche Vorgänge so gestaltet werden, dass dabei niemand „verletzt“ werde.[4]
Den inneren Kern kirchlicher Steuerungskultur, wie sie am untersuchten Praxisort vorzufinden ist, bilden vier Kategorien, die ihrerseits vier zentrale Fragen einer jeden Organisation beantworten[5]: Die erste Kernkategorie gibt Antwort auf die Frage, wer zur Organisation „passt“, was das „Wir“ der Organisation ausmacht.
Familiarismus
Das Set der dabei vorgefundenen Vorstellungen lässt sich gut im Bild der „Familie“ zusammenfassen. Der Mensch wird als religiöses, Gemeinschaft und Harmonie suchendes Wesen verstanden, das in dieser Familie Geborgenheit, ja einen „Schutzraum“ vor dem
als harsch wahrgenommenen Außen der gesellschaftlichen Realitäten[6] findet. Jedes Steuerungshandeln, das häufig vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen (Geld, Personal, Partizipationswille etc.) stattfindet, bringt dabei stets das Risiko mit sich, diesen Harmonieanspruch zu stören. Das entscheidet mit, welche Steuerungsziele, -mittel und Handlungsmodi ausgewählt werden.
Tranzendente Letztinstanz
Das zweite Kernelement spiegelt sich in der Identität der Organisation wider: der Antwort auf die Frage nach dem Warum von Kirche. Der Mensch als Gemeinschaftswesen handelt in der Kirche vor dem Hintergrund einer transzendenten Letztinstanz, die selbst den Grund für die Existenz der Organisation bildet. Der Letztinstanz kommt dabei eine über alle steuerungsrelevanten Aspekte hinweg integrative Funktion zu. Praktisch steuerungsrelevant wird sie etwa dadurch, dass Steuerungsadressat:innen ein normativ besonders gewichtiger Grund, Steuerungsimpulsen Folge zu leisten vor Augen geführt wird. Dies kommt etwa darin zum Ausdruck, wie ein:e Expert:in beobachtet, dass Partizipationsreduktion auf Ebene des persönlichen Christ-seins als problematisch kommuniziert werden kann.[7]
Klerikerorientierung und Geschlechterverteilung
Dies wird durch eine strukturelle Besonderheit komplettiert, die das dritte Kernelement bildet: die
kirchenrechtlich verankerte priesterliche Hierarchie und deren bedeutsame Rolle in der Praxis. Zentrale, mit entsprechenden Formalkompetenzen ausgestattete Kirchenämter können kirchenrechtlich nur mit Klerikern besetzt werden. Da Kleriker aufgrund der zum Empfang der Weihe notwendigen kirchenrechtlichen Voraussetzungen Männer sind, lässt sich zudem eine spezifische strukturelle Geschlechterverteilung feststellen. Dies ist mit ein Grund dafür, dass sich aufgrund der Gruppenbildung und -schließung[8] entlang historisch-pfadabhängig geprägter Strukturen Dichotomien gebildet haben, denen seitens der befragten Expert:innen Steuerungsrelevanz zukommt: Kleriker – Laien, hautamtlich – ehrenamtlich Mitarbeitende, aber auch entlang von Qualifikationsniveaus.
Damoklesschwert Exit-Option
Den vierten Erklärungsfaktor stellt das zunehmend von Ambivalenz und Indifferenz gegenüber der Kirche geprägte gesellschaftliche Umfeld dar. Die Möglichkeit des Partizipationsabbruchs von Kirchenmitgliedern, die repressionsfrei wählbare Exit-Option[9], schwebt als Damoklesschwert über kirchlichem Handeln. Will man kirchlich etwas umsetzen, kann man sich den Bedingungen der Postmoderne und ihrer Trends (Säkularisierung, Demografie etc.) nicht entziehen. In der Praxis zeigt sich das etwa darin, dass die Auswirkungen von Handlungen und Kommunikationen auf Medienakteure berücksichtigt werden müssen, oder im Gewicht der Frage, wie Ehrenamtliche motiviert werden können.[10]
Für den untersuchten Praxisort, die Diözese Graz-Seckau, leistet die aktuell verfasste kirchliche Steuerungskultur (noch) ihren Dienst: Sie erweist sich – bei aller ihr innewohnenden Dynamik – als (noch) leistungsfähig. Dies zeigt sich im operativen Tagesgeschäft wie auch daran, dass mehrjährig angelegt Reformprojekte grundsätzlich zielgerichtet vorangetrieben werden konnten.
Noch funktioniert kirchliche Steuerung: Aber wie lange noch?
Diese trifft jedoch auf einen Umstand, der aus der Kirchenentwicklung hinreichend bekannt ist: Aufgrund des sich verändernden gesellschaftlichen Umfeldes, das von einer kapitalistisch-strukturierten Umwelt geprägt ist, wird die Herausforderung für die Zukunft darin liegen, die Steuerungsfähigkeit zu erhalten. Das bedeutet, die kirchliche Steuerungskultur so weiterzuentwickeln, dass diese mit den Wahrnehmungen des Volkes Gottes kompatibel ist, denn nur so wird es gelingen, Menschen zur Mitarbeit zu motivieren.
Die Breite und fundamentale Bedeutung von Steuerungskultur insbesondere für kirchliche Handlungsfähigkeit in der Zukunft bedeutet für die Praxis, dass ein feines Sensorium für Steuerungsanforderungen entwickelt werden muss, eine Aufgabe, vor die jede:r Christ:in, insbesondere jedoch jene mit Leitungsaufgaben, gestellt sind.
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Lukas Grangl, Dr. theol., Studium der Katholischen Fachtheologie und Rechtswissenschaften (KFU Graz), der Politik- und Verwaltungswissenschaften/Governance (FU Hagen) sowie des Bank- und Versicherungsmanagements (FH Joanneum). Aktuell Dissertation zum Thema „Kirchliche Steuerungskulturen“ im Fach Pastoraltheologie. Mitarbeiter einer großen internationalen Steuer- und Wirtschaftsberatungskanzlei.
Literatur:
Grangl, Lukas: Ambiguität. Macht. Angst. Phänomene, Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven kirchlich-katholischer Steuerungskultur im Kontext einer ökonomisierten Gesellschaft am Beispiel der Diözese Graz-Seckau, Graz 2024 (=Dissertation Theol. Fak. Universität Graz).
Hirschman, Albert: Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organisations and States, Cambridge: Havard University Press 1970.
Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, Tübingen: Mohr Siebeck 21992.
Sackmann, Sonja: Unternehmenskultur: Erkennen – Entwickeln – Verändern. Erfolgreich durch kulturbewusstes Management, Wiesbaden: VS Verlag 22017.
Schreyögg, Georg: Grundlagen der Organisation. Basiswissen für Studium und Praxis, Wiesbaden: Springer Gabler 22016.
[1] Siehe: Grangl. Steuerungskultur.
[2] Grangl, Steuerungskultur, 60.
[3] Schreyögg, Organisation, 177f; Sackmann, Unternehmenskultur, 59.
[4] Grangl, Steuerungskultur, 209.
[5] Vgl. etwa Sackmann, Unternehmenskultur, 59.
[6] Grangl, Steuerungskultur, 237.
[7] Grangl, Steuerungskultur, 240.
[8] Vgl. hierzu bspw. Popitz, Phänomene der Macht, 185–231.
[9] Vgl. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty. Hirschman beschreibt in seinem Werk drei Handlungsmodi, die Partizipierende gegenüber Organisationen einnehmen können, wenn Dissonanzen auftreten: Ein Weiterführen der Folgsamkeit trotz der abgelehnten Umstände (Loyalty), Veränderungs- bzw. Beeinflussungsversuche innerhalb der Organisation (Voice) und ein Abbrechen der Beziehungen (Exit).
[10] Vgl. Grangl, Steuerungskultur, 243f.