Wächst jetzt zusammen, was zusammengehört? Ein Vierteljahrhundert nach Mauerfall wird offen über Grenzsicherung mit Stacheldraht und Schusswaffen diskutiert. Am Tag der Deutschen Einheit nehmen Michael Schüssler und Gerrit Spallek das Diktum von Willy Brandt zum Ausgangspunkt, um über die Zusammengehörigkeit ganz verschiedener Menschen theologisch nachzudenken. Ihr Plädoyer lautet: mehr Türöffner-Tage!
Einen Tag nachdem die Berliner Mauer gefallen war, sagte Willy Brandt in einem Interview im Rathaus Schöneberg einen Satz, aus dem ein geflügeltes Sprichwort geworden ist: „Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört.“ Inwieweit ein innerdeutsches Zusammenwachsen bisher gelungen ist, versucht der alljährliche „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ sogar auf empirischem Weg zu erheben. Schon damals hatte der Altkanzler jedoch nicht allein ein Zusammenwachsen der geteilten deutschen Nation im Sinn. Denn, so fährt Brandt fort: „Das gilt für Europa im Ganzen. Die Winde der Veränderung, die über Europa ziehen, konnten nicht an Deutschland vorbeiziehen.“
Wie wächst zusammen, was zusammengehört?
Ein gutes Vierteljahrhundert später geben die Worte Brandts, vielleicht weit mehr als früher, zu denken. Aus heutiger Sicht ist deutlich geworden, dass der geflügelte Ausspruch „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ kein Selbstläufer ist. Zusammenwachsen ist eine Herausforderung, die angegangen und gestaltet werden muss, keine Selbstverständlichkeit und auch kein Automatismus. Heute lässt sich das zitierte Diktum vielleicht besser als eine Frage verstehen: Wie wächst zusammen, was zusammengehört? Und zwar in der konkreten Situation, in der wir stehen und der wir nicht ausweichen können.
Es handelt sich längst nicht mehr um eine rein innerdeutsche Angelegenheit.
Wenn Brandt von einem wind of change spricht, der als Kontinuitätsbruch ganz Europa und letztlich auch Deutschland durchzuckt hat, wird spätestens jetzt deutlich, welche Aktualität und Brisanz in dieser Frage steckt. Schon der Altkanzler hatte den Horizont mit Blick auf Europa geweitet. Wenn heute am „Tag der Deutschen Einheit“ über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Zusammenwachsens diskutiert wird, dann handelt es sich dabei eben schon längst nicht mehr um eine rein innerdeutsche Angelegenheit.
Heute wehen die Gegenwinde rechtspopulistischer Renationalisierung über ganz Europa. Viele setzen ihr Segel in diesen Wind und wenden damit den Satz von Brandt in seine Gegenrichtung: „Was nicht zusammengehört, das soll auch nicht zusammenwachsen.“ Wie weit verbreitet diese gefühlte Wahrheit ist, bewies CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer mit der unglaublichen Aussage, das Schlimmste sei ein fußballspielender, ministierender Senegalese. Den bekomme man nicht mehr abgeschoben. Als Nachbarn wünsche man sich diesen vermutlich noch weniger – mit oder ohne Bundesadler auf der Brust. Statt den Einsturz einer Mauer zu feiern, wird heute offen über die Sicherung europäischer und nationaler Grenzen mit Stacheldraht und Schusswaffen diskutiert.
Das europäische Mammutprojekt Integration ist ein Langzeitprojekt.
Jenseits der Windrichtungen sind wir aber längst Teil von weltweiten Migrationsbewegungen und Fluchtort für Menschen in Todesgefahr. Spätestens seit der Flüchtlingskrise ist im Bewusstsein, dass die in den Ländern Europas lebenden Menschen noch vielfältiger werden. Das in den letzten Jahren angebrochene europäische Mammutprojekt Integration ist ein Langzeitprojekt. Welche Kraft könnte das Diktum von Brandt hier entwickeln?
Und nicht nur dort: Ende Oktober besucht beispielsweise der katholische Papst das Reformationsjubiläum des Lutherischen Weltbundes in Lund: Ob da zusammenwächst, was zusammengehört? Dass kirchliches Zusammenwachsen auch mit Wachstumsschmerzen verbunden sein könnte, zeigt ein anderes Beispiel: Im Jahr der Barmherzigkeit erlaubt derselbe Papst Priestern der Piusbrüderschaft die Beichte zu hören. Wächst hier zusammen, was zusammengehört?
Wer gehört eigentlich zusammen? Und welcher Zielzustand wird sich letztlich vorgestellt?
Es stellen sich letztlich zwei Fragen: Wer gehört eigentlich zusammen? Und welcher Zustand wird sich letztlich vorgestellt, wenn etwas zusammengewachsen sein wird? Ein interessanter Vorschlag geht auf den amerikanischen Philosophen Richard Rorty (1931-2007) zurück. Er hatte sich gefragt: Wen zählen wir eigentlich in unserem praktischen Leben zu einem „wir“, das zusammengehört und zusammenwachsen soll?
„Aus christlicher Sicht ist die[se] Neigung, sich enger mit Menschen verbunden zu fühlen, mit denen wir uns in der Phantasie leichter identifizieren können, beklagenswert, sie ist eine Versuchung, der man nicht nachgeben darf.“ Vielmehr kommt es darauf an, so Rorty, „in unser Verständnis von ‚wir‘, auch Menschen aufzunehmen, die wir bis jetzt zu den ‚sie‘ gezählt haben“[1]. Dazu braucht es aber eine Vorstellung von einem ‚wir‘, das Vielfalt begrüßt, Konflikte aushält und dabei eine attraktive Zukunft bieten kann.
Was in der Gegenwart so notwendig wie offenbar immer unmöglicher zu werden scheint, wäre eine wirklich robuste und diversitätsfähige Solidarität. Robust wäre Solidarität, wenn sie nicht mehr einfach auf Einheit und ein abstraktes „Wesen des Menschen“ abstellt, sondern die Grenzen des „Wir“ von Unterschied zu Unterschied immer mehr ausweitet. Solidarität wäre die „Fähigkeit des Menschen, immer mehr zu sehen, daß traditionelle Unterschiede (zwischen Stämmen, Religionen, Rassen, Gebräuchen und dergleichen Unterschiede) vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und Demütigung – es ist die Fähigkeit, auch Menschen, die himmelweit verschieden von uns sind, doch zu ‚uns‘ zu zählen.“[2]
Die Kompetenz zu schulen, auch himmelweit verschiedene Menschen zu ‚uns‘ zählen zu können, ist Grundaufgabe christlicher Theologie.
Es ist eine der Grundaufgaben christlicher Theologie genau diese Kompetenz stark zu machen – jedenfalls solange sie sich, bei all ihrer disziplinären Vielfalt, letzten Endes im Dienst des Heilswillen Gottes begreift, der alle Menschen verbindet und eint. Ausreichend Gründe, für das Wagnis eines Zusammenwachsens auch himmelweit verschiedener Menschen zu werben, finden Christinnen und Christen im Glauben an die Gottebenbildlichkeit und nicht zuletzt im radikal entgrenzenden Umgang Jesu mit seinen Mitmenschen, auf dessen Nachfolge sie sich verpflichtet haben.[3]
Das als idealistische Utopie abzutun, verkennt die mutige, tagtägliche Handlungsbereitschaft für ein Zusammenwachsen in ein weiteres „Wir“ mit offenen Rändern – im Asylhelferkreis, in christlich-islamischen Dialogforen, im Deutschlernen bei der Flüchtlingsfamilie im Häuserblock schräg gegenüber, bei der angenommenen Einladung zum gemeinsamen Fastenbrechen. All das gibt es tatsächlich und es trägt dazu bei, Unsicherheiten und wirkliche Kultur- oder Religionskontraste kleinzuarbeiten. Die tragende Rolle die vielerorts Christinnen und Christen bereits zukommt, ist die von Türöffnern. Aus tiefstem Inneren bezeugen sie die Bereitschaft, die gesamte Menschheit als ein „Wir“ zu verstehen, das von ihren Anfängen an vor der Herausforderung steht, wie zusammenzuwachsen kann, was von Gott her in aller Vielfalt zusammengehört.
Ein Plädoyer für mehr Türöffner-Tage
Für die Kirche öffnet die gegenwärtige Situation ganz eigene Potentiale, nicht nur ihre Rolle in der Öffentlichkeit zu profilieren. Eine ungewöhnliche Parallele mag diesbezüglich einen Ausblick liefern.
Aus einer eigenen Krise heraus hat „Die Sendung mit der Maus“ den „Tag der Deutschen Einheit“ zum „Maus-Türöffner-Tag“ gemacht. Ohne das eigene Konzept zu verraten, hat es die Kindersendung geschafft, an diesem Feiertag das, um was es ihr geht („Lach- und Sachgeschichten“), außerhalb der Fernsehstudios live und zum mitmachen anzubieten. Das Mausteam hat nicht nur viele Kinder und Familien neugierig auf Neues und Unbekanntes gemacht, sondern auch frischen Wind und neue Themeninhalte für die reguläre Sendezeit im Jahr gewonnen.
Die Fenster und Türen weit zu öffnen, so lautete auch der Grundimpuls, der dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorausging. Seither versteht sich die Kirche nicht nur als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott“, sondern eben auch „für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Mit Blick auf die Kirche, Deutschland und Europa plädieren wir für mehr Türöffner-Tage.
[1] Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, 308f.
[2] Ebd., 310.
[3] Vgl. hierzu auch Hans-Joachim Höhn, Auf Distanz gehen!? Zur Identität der Kirche in der Welt von heute, in: Erbacher, Jürgen (Hg.), Entweltlichung der Kirche?: Die Freiburger Rede des Papstes. (Theologie Kontrovers), Freiburg i. Br. 2012, 103–114, 112f.
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Michael Schüssler ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Tübingen und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Gerrit Spallek ist Theologe an der Universität Hamburg und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bild: Rainer Sturm, pixelio.de