Was geschieht eigentlich auf der kirchenpolitischen Hinterbühne einer Synode? Christian Bauer analysiert Erkenntnisse einer explorativ-theologischen ‚Feldforschung‘ mit Münsteraner Studierenden. Ein Zwischenbericht zur römischen Weltsynode.
Wir hatten fünf wirklich spannende Tage in Rom. Wir – das waren: 23 Theologiestudierende und Doktorand:innnen sowie Annett Jansen, Christian Kern und ich selbst vom Münsteraner Lehrstuhl für Pastoraltheologie. Im Kontext einer explorativen Theologie des Synodalen, die empirische Erkundungen im Praxisfeld mit kritischen Recherchen im Diskursarchiv verbindet[1], haben wir von 12. bis 17. Oktober 2024 einen Versuch theologischer Feldforschung („Ethnologie des Volkes Gottes“) unternommen. Wir suchten nach generalisierbaren Erkenntnissen, die über das konkrete Ergebnis der aktuellen Weltsynode hinausgehen – in einem weltkirchlichen Zusammenhang, welcher den Alltag in Pfarrgemeinden und an anderen pastoralen Orten auf eine indirekte, aber nachhaltige Weise beeinflusst.
Synodalität in zweifachem Sinn
Mitten im Epizentrum kirchlicher Macht haben wir faszinierende Orte erkundet und sind beeindruckenden Menschen begegnet. Synodalität haben wir dabei in einem (mindestens) zweifachen Sinn verstanden:
- Zunächst in einem engeren Sinn als eine kirchliche „Regierungstechnik“[2], die nach dem spezifisch katholischen Synodenmotto „Alle werden gehört, einige beraten, einer entscheidet“[3] verfährt: „Stille Post auf katholisch“[4].
- Und dann aber auch in einem weiteren Sinn als eine christliche „Lebensform“[5] des gemeinsamen Wegs („syn-odos“): Kirche nicht mehr als Societas perfecta, die sich über die Welt erhebt (und dabei auch über ihre eigenen Opfer hinweggeht[6]), sondern als eine Societas Jesu, die sich mit den Menschen ihrer Zeit solidarisiert (und sich dabei selbst zum Evangelium von der anbrechenden Gottes- und nicht Männer- oder Klerikerherrschaft bekehrt[7]).
Leitend für unsere theologische Feldforschung war ein performanzkritischer Ansatz: Welche reale performance hat die – performativ angelegte – Synode über Synodalität? Vollzieht sie in glaubwürdiger Weise auch selbst, was sie thematisch bearbeitet – oder produziert sie in ihrer eigenen Synodalität performative Selbstwidersprüche? Ziel war nicht nur, die „Vorderbühne“[8] kirchlicher Selbstdarstellungen zu beleuchten, sondern durch das kirchenpolitische Schlüsselloch auch einen Blick auf deren „Hinterbühne“[9] zu werfen und auf diese Weise etwas theologisches Licht ins synodale Dunkel zu bringen.
Blick hinter die Kulissen
Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir – trotz bedauerlicher Ausfälle[10] – ebenso unterschiedliche wie großartige Gesprächspartner:innen getroffen und konnten so einen Blick hinter die Kulissen der Weltsynode werfen:
Stimmberechtigte Synodenteilnehmer:innen:
Catherine Clifford aus Kanada ist eine ebenso kluge wie feministisch-kritische Ökumene- und Konzilsexpertin. Sie wurde in die Kommission für das Schlussdokument gewählt und nannte den deutschen Synodalen Weg im Gespräch mit uns ein „Modell für die ganze Weltkirche“. Und sie sprach vom Wahrwerden eines persönlichen Traumes: „Vor vielen Jahren habe ich eine Dissertation zur Selbstbekehrung der Kirche geschrieben – und nun laufe ich die Via della Conciliazione entlang und bin selbst stimmberechtigtes Mitglied einer römisch-katholischen Bischofsynode. Es ist nicht zu glauben!“
Dramatik weltkirchlicher Erfahrungen
Die Dramatik[11] weltkirchlicher Erfahrungen brachten Houda Fadoul, Oberin des Klosters Deir Mar Musa in Syrien, und Emmanuel Dassi Youfang, Bischof von Bafia in Kamerun, ins Spiel. Die syrische Ordensfrau versteht Synodalität nicht nur als eine Weggemeinschaft unter Christ:innen, sondern auch mit Muslim:innen („We walk together with everybody.“). Es gelte, die Gastfreundschaft einer universalen Liebe[12] auch in Zeiten des Bürgerkriegs zu leben. Und der westafrikanische Bischof beeindruckte uns bereits mit seiner Vorstellung, als sagte, er sei nur deshalb Bischof, weil sein Vorgänger ermordet wurde. Sein bischöfliches Amt versteht er als ein prinzipiell synodales: „Je mehr ein Bischof seine Verantwortung mit allen Getauften teilt, umso besser macht er seinen Job“.
Die beiden deutschen Bischöfe Georg Bätzing (Bistum Limburg, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz) und Felix Genn (Bischof von Münster, Schichtungskommission der Weltsynode) äußerten mit Blick auf die geistliche Methode der Runden Tische durchaus unterschiedliche Einschätzungen. Insgesamt waren jedoch große Gemeinsamkeiten unter den Deutschen spürbar. Überraschend war die Wahrnehmung, dass weltkirchliche Differenzen in Bezug auf den Synodalen Weg während dieser Synode offenbar kaum mehr (zumindest nicht im direkten Gespräch) angesprochen wurden.
Moderator:innen von Runden Tischen:
Maria Cimperman ist Sacred-Heart-Schwester und lehrt Moraltheologie und Sozialethik in den USA. Sie legte uns in glaubhaft beseelter Weise die Synodenmethode der „conversation in the spirit“[13] ans Herz, die ein „listening behind the words“ und somit auch „decisions out of the depths“ ermögliche. Ihre beim anschließenden Bier und Wein auf der Dachterrasse gestellte Frage „What is your hope?“ setzte ein tiefgehendes Gespräch zwischen den Generationen in Gang.
Synodalität als Empowerment
Für Christina Kheng aus Singapur, die am East Asian Pastoral Institute in Manila arbeitet, bedeutet Synodalität eine Überwindung von „inequality“ in Kirche und Gesellschaft durch ein umfassendes „empowerment“. Als Moderatorin fragte sie uns, wie man im synodalen Prozess das Eis brechen könne, wenn Deutsche mit am Tisch sitzen. Unser Tipp: Klischees so thematisieren, dass diese über sich selbst lachen können und sich nicht mehr so ‚deutsch‘ fühlen müssen. Ihr schmunzelnde Antwort: Das falle ihr nicht schwer – schließlich gälten die Einwohner:innen Singapurs als die ‚Deutschen Asiens‘.
Synodenexpert:innen und -helfer:innen:
Der emeritierte Neutestamentler und ZdK-Vizepräsident Thomas Söding berät die Weltsynode theologisch und berichtet in seinen SMS („Synode mit Söding“) tagesaktuell aus erster Hand vom Synodengeschehen. Im Rahmen unseres Gesprächs zog er aufschlussreiche Vergleiche mit früheren Bischofssynoden und mit dem Synodalen Weg in Deutschland.
Matthias Kopp, der Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ist offizieller Kommunikationsberater der Synode. Als solcher bringt er auch unbequeme Stimmen auf das Podium der täglichen Pressekonferenzen. Seine verschmitzte Antwort auf die Frage des Vatikanischen Pressebüros, wie man innerkirchlich recht weitgehende Forderungen von Kardinal Leonardo Steiner und Schwester Nirmala Alex Maria Nazareth wieder einfangen solle: Am besten gar nicht.
Konflikte heben
Der Münsteraner Michael Berentzen verbindet als ehemaliger Moderator des Synodalen Wegs und Doktorand der Gregoriana[14] deutsche und römische Perspektiven. Als offizieller Synodenhelfer ist er froh, dass an den Tischen „Konflikte gehoben“ und somit bearbeitbar werden. Auf der Versammlung 2023 sei unter den Synodal:innen echtes Vertrauen gewachsen.
Akteur:innen von DBK und Kurie:
Beate Gilles (Generalsekretärin der DBK) stellte während unseres Austauschs mit den Mitgliedern der deutschen Delegation eine wichtige Frage: „Bleiben denn nicht auch an den Runden Tischen innerkirchliche Machtverhältnisse bestehen?“
Michael Feil (Mitarbeiter der DBK) entwirft in Rom synodale Textvorlagen für die deutschen Bischöfe. Theologische ‚Zuarbeiter:innen‘ wie er spielen auch im back office der Synode eine wichtige Rolle.
Sergio Massironi ist Leiter des Forschungsprogramms ‚Theologie an den existenziellen Peripherien‘ im Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Er berichtete vom neuen Synodalstil einer ‚römischen‘ Theologie, die im Gespräch mit ‚den Armen‘ entstehe („How can we better understand revelation from the questions of life?“) und soziale Transformation ermögliche („How can we change this world?“).
Beobachter:innen der römischen Szene:
Oliver Lahl ist Botschaftsrat der deutschen Botschaft am Hl. Stuhl. Er berichtete von interkulturellen Schwierigkeiten zwischen Deutschland und Rom, die sich u.a. im Laienbegriff (ital. „laici“) äußern, der in Italien so viel wie ‚Nichtglaubende‘ bedeute – was z. B. im Kontakt mit dem Zentralkomittee der deutschen Katholiken für Missverständnisse sorge und eigene Übersetzungsleistungen erfordere.
Der Rektor des Päpstlichen Instituts Santa Maria dell’Anima, Michael Max, führte uns in deren konzilsgeschichtliche Bedeutung als ‚Hinterbühne‘[15] des Zweiten Vatikanums ein, auf der bekannte Theologen wie Karl Rahner das Wort ergriffen und dem Konzil den Charakter einer theologischen Fortbildung im weltkirchlichen Großformat verliehen.
Die Journalistin Gudrun Sailer von Vatican News (früher: Radio Vatikan) sprach unter anderem über die Schwierigkeiten kirchlicher Medienarbeit als Frau im Vatikan: „Herausforderungen machen kreativ.“
Sprechende Orte
Wir haben aber nicht nur beeindruckende Menschen getroffen, sondern auch faszinierende Orte erkundet: den Petersplatz, die Domitilla-Katakombe, die Kirche San Clemente und das Centro Pastorale di San Saba. Dabei öffneten sich resonanzstarke Reflexionsräume für unsere theologische Suche nach dem Synodalen:
Vom Petersplatz brachte eine Studierende das Bild einer selbstzufrieden „chillenden Möwe“ mit, die sich inmitten des Gewusels in aller Ruhe an einem exponierten Ort sonnte. Bildet die Weltsynode nicht eine geschlossene ‚Kirchen-Bubble‘, die – wie diese in sich ruhende Möwe – in einer ganz eigenen Welt lebt? Ich musste an Yves Congar denken, der nach einer feierlichen Papstliturgie in sein Konzilstagebuch notierte: „Was hat unsere großartige Zeremonie eigentlich mit den vielen tapferen kleinen Leuten auf den heruntergekommenen Straßen zu tun, die ich [auf meinem Rückweg von St. Peter] durchquert habe?“[16]
Diachrone Resonanzräume
In der Domitilla-Katakombe haben wir vor Ort den Katakombenpakt der ‚Kleinen Bischöfe‘ des Zweiten Vatikanischen Konzils gelesen, die aus dem Geist des christlichen Anfangs heraus Optionen für ein evangeliumsgemäßes Lebenszeugnis getroffen haben. Jesusbewegte bischöfliche Selbstbekehrung als Anstoß synodaler Prozesse in Lateinamerika (Stichwort: Medellín 1968).
San Clemente eröffnete die Möglichkeit zu einer theologischen ‚Zeitreise‘ auf verschiedenen Ebenen[17], die bis hinunter auf das Straßenniveau des antiken Rom führte („Back to the roots“). Mithilfe der Methode der Reflexiven Fotografie[18] haben Studierende dabei spannende Interferenzen zwischen Gestern und Heute erzeugt – zum Beispiel, indem sie moderne Graffiti mit antiken Inschriften kontrastierten: Wer darf sich in den synodalen Text einschreiben – und wer nicht?
Das (sozial)pastorale Zentrum von San Saba schließlich ermöglichte Einblicke in die – pastoraltheologisch ebenso interessante – Alltagsnormalität einer römischen Pfarrgemeinde: eine kunstgeschichtlich bedeutsame Kirche, ein gehetzter Pfarrer, christliche Arbeit mit Geflüchteten und eine Lebensmittel-Rettungs-Aktion.
Zwischenresümee
Es ist unmöglich, unsere vielfältigen Eindrücke auf einen Nenner zu bringen[19]. Vielleicht ist aber genau das auch schon wichtigste Ergebnis dieser Forschungsreise: die eine katholische Perspektive auf Synodalität gibt es nicht. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Perspektiven und Einschätzungen. Die einen berichten begeistert (und begeisternd) vom Fortschritt der Synode („There has been a tremendous shift“) und hoffen auf einen welttkirchlichen Kulturwandel, die anderen sind eher ernüchtert (und ernüchternd) und fürchten ein Ende ohne rechtsverbindlichen Strukturwandel („Schön, dass wir darüber geredet haben…“).
Spiegel einer zerrissenen Weltkirche
Diese Perspektivendifferenz ist der Spiegel einer in sich zerrissenen Weltkirche. Denn was im herkömmlichen Kirchenjargon harmonisierend ‚Einheit in der Vielfalt‘ genannt wird, ist in Wahrheit keine ‚Blumenwiese‘ kunterbunter Vielfalt, die einem das Herz aufgehen lässt. Sondern vielmehr ein ‚Kampfplatz‘ stahlharter Vielheit, dessen Differenzen bis in erkenntnistheologische Grundannahmen hineinreichen[20]. Sie ist nicht nur Bereicherung, sondern auch Last. Man denke nur an die Winkelzüge eines Kardinal Fridolin Ambongo, der mit harter Hand eine einheitliche afrikanische Ablehnung von Fiducia supplicans herstellte[21], an der noch so viele Runden synodalen Hinhörens auf den Schrei der Betroffenen nichts ändern[22]. Wohl wahr: Kirchenreform braucht eine Umkehr der Herzen.
Papst Franziskus als Antichrist
Denn es gibt ja durchaus (noch) katholische Gegenden, in denen die Kirche – wie vor dem Konzil – nur aus Klerikern und Messbesucher:innen zu bestehen scheint. Nichtgeweihte Amtsträger:innen wie die Pastoralreferent:innen im deutschen Sprachraum sind dort ebenso undenkbar wie nichtgeweihte Theologieprofessor:innen. Weitgehend Vatikanum-II-freie Regionen, in denen man nicht nur keine verheirateten ständigen Diakone kennt, sondern auch keine Pfarrgemeinde- oder Diözesanpastoralräte. Und es gibt ganze kirchliche Weltregionen, in denen auch die aktuelle römische Bischofssynode nicht nur keinerlei Unterstützung durch die jeweiligen Ortsbischöfe findet, sondern von ihnen sogar aktiv bekämpft wird. Wo man für den baldigen Tod von Papst Franziskus betet, weil er als der personifizierte ‚Antichrist‘ gilt. Zunehmenden Tribalismus[23] gibt es also auch in der Kirche – denn auch das eine Volk Gottes zerfällt gerade in (mindestens) zwölf Stämme (engl. „tribes“) mit zum Teil sehr unterschiedlichem Kirchen- und Weltgefühl.
Heilsame Verunsicherungen
Daher ist es weltkirchlich durchaus ein Riesenfortschritt, wenn an einem runden Tisch ein Bischof davon berichtet, dass in ‚seinem‘ Bistum Frauen an der Priesterausbildung beteiligt sind – worauf ein Amtsbruder aus einer anderen Weltgegend zunächst antwortet, dass für ihn so etwas undenkbar sei. Nach mehreren Tagen des synodalen Gesprächs kommt er jedoch zu der Erkenntnis, dass das vielleicht doch nicht nur wünschenswert, sondern sogar notwendig sein könnte. Maria Cimperman sprach in einem anderen Zusammengang von „heilsamen Verunsicherungen, die zu neuen Normalitäten führen“. Es gebe „gesunde Spannungen“[24] wie z. B. den Unmut über die zehn (nur ihm selbst gegenüber rechenschaftspflichtigen) Studiengruppen, durch die Papst Franziskus strittige Themen wie die Frage der Frauenordination aus dem synodalen Prozess herausnahm. Das von allen Seiten gelobte Synodensekretariat reagierte umgehend und nahm eine Aussprache darüber in das Programm auf – was allerdings durch die handelnden Akteure des Glaubensdikasteriums sogleich wieder zunichte gemacht wurde: „Über der Synode liegt ein Schatten, den sie nicht selbst geworfen hat.“[25]
Ein kleiner Schritt für uns….
Die Synode ist ein kleiner Schritt für unsere Kirchengegend – aber ein großer Schritt für die Weltkirche[26]. Und doch kommen vermutlich viele der synodalen Reformen auch weltkirchlich zu spät bzw. gehen nicht weit genug, selbst wenn es sich um „the biggest consultation in human history“ (Catherine Clifford) handelt. Diese komplexe Wirklichkeit „gleichzeitig aus mehr als einer Perspektive“[27] zugleich zu betrachten, ist nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine spirituelle Herausforderung. Denn sie erfordert eine Fähigkeit zu reflexiver Selbstdifferenz (d.h. dass ich mich zu mir selbst und zu meinen Optionen noch einmal verhalten kann), die weitgehend außerhalb der Möglichkeiten rechtskatholischer, also nach innen autoritärer und nach außen identitärer Mindsets liegt.
Nicht ohne die Anderen
Synodalität braucht innerkirchliche Anerkennungsprozesse auf dem Boden kritischer Selbstrelativierung: Du bist zwar anders als ich – aber du bist dennoch katholisch. Eine alteritäre Grammatik dafür bietet Michel de Certeaus genial einfache Kurzformel des ‚Nicht ohne‘: Ich kann nicht ohne dich katholisch sein. Dazu muss man in sich eine Wirklichkeit zusammenhalten, die gerade immer weiter auseinanderstrebt – im Sinne einer sich permanent steigernden Komplexität, an der das Römisch-Katholische immer mehr zu scheitern droht. Von der Frage, was es angesichts dieser asymmetrischen Tribalisierung[28] nicht nur synodenspirituell, sondern auch kirchenpolitisch bedeutet, mehr Synodalität zu wagen, handelt der zweite Teil dieses theologischen Reiseberichts.
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Münster, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie, theologischer Blogger und Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.net.
[1] Es geht um eine „spekulative Extrapolation“ (Steven Shaviro: Discognition, London 2016, 11 sowie 79) aus dem Vorfindbaren, die diese Empirie auf kritisch-kreative Weise theologisch weiterdenkt. Zum pastoraltheolgischen Gesamtkontext vgl. Christian Bauer: Denken in Konstellationen. Pastoraltheologie als kontrastiver Mischdiskurs. Und zum Ansatz einer entdeckerischen Pastoraltheologie vgl. Explorative Theologie – auf Erkundung in der Gesellschaft.
[2] Christian Kern (vgl. Michel Foucault: Die Gouvernementalität, in Ders.: Analytik der Macht, Frankfurt/M. 2005, 148–174).
[3] Vgl. Julia Knop: Communio hierarchica – communicatio hierarchica. Synodalität nach römisch-katholischer Façon, in: Markus Graulich, Johanna Rahner (Hg.): Synodalität in der katholischen Kirche. Die Studie der Internationalen Theologischen Kommission im Diskurs (QD 311), Freiburg/Br. 2020, 153–169, 161. Julia Knop in dogmatisch messerscharfer Präzision: „In der Bewegung von unten nach oben gilt: Wer konsultiert wird (alle), berät nicht, setzt nicht einmal das Thema der Beratungen, und wer berät (einige), entscheidet nicht. Und in umgekehrter Richtung gilt: Wer entscheidet (einer), benennt seine Berater (einige), und wer berät, formuliert die Fragen und definiert die Themen, zu denen er von wiederum anderen (allen) etwas hören möchte.“ (ebd). Auf unserer Exkursion brachte eine Kleingruppe diesen Zusammenhang eines selektiven (bzw. selektierten) Hörens und Entscheidens szenisch folgendermaßen ins Bild: Rufe kommen aus verschiedenen und zielen auf verschiedene Richtungen, Hierarchen hören entweder nur teilweise (mit einem geschlossenen und einem offenen Ohr) oder gar nicht (mit verschränkten Armen und dem Rücken zum Geschehen).
[4] Vgl. Benedikt Heider: Synodalität. Das Stille-Post-Spiel guter Katholik:innen.
[5] Christian Kern (vgl. Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Frankfurt/M. 2012).
[6] Papst Franziskus selbst verknüpft diese katholische Wiederentdeckung des Synodalen als Gegenmittel zu missbrauchsförderlichem Klerikalismus mit dem Selbsterschrecken über den Missbrauchsskandal und seine Vertuschung (vgl. Christian Bauer: Mehr Synodalität wagen? Kirchenreform als pastorale Selbstevangelisierung sowie unter demselben Titel, aber mit anderem Akzent Mehr Synodalität wagen? Kirchenpolitik im Kontext asymmetrischer Tribalisierung).
[7] Christian Bauer: Vom Lehren zum Hören? Offenbarungsmodelle und Evangelisierungskonzepte im Übergang vom Ersten zum Zweiten Vatikanum, in: Julia Knop, Michael Seewald (Hg.): Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, 95-116.
[8] Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969, 104f.
[9] Ebd.
[10] Das geschäftige Umfeld der Synode illustriert die Absage einer befreundeten Theologin: „Living in Rome in this month means having a lot of informal meetings…“.
[11] Diesem existenziellen Niveau entspricht ein Filmtipp von Maria Cimperman, die uns den Kinofilm Von Menschen und Göttern (über die 1996 ermordeten Trappisten von Tibhirine) als eine Schule der Unterscheidung („school of discernment“) empfahl. In dem von einem französischen Atheisten gedrehten Film ringen die zum Mönche um Prior Christian de Chergé, die in tiefer Freundschaft mit ihrem muslimischen Umfeld leben, mit der Frage, ob sie in der sich zuspitzenden Lage Algeriens bleiben oder das Land verlassen sollen.
[12] „When we are open, we have also to accept the difficult.” (Houda Fadoul).
[13] Dieses Konzept eines aufmerksamen Hinhörens („listening“), das mehr als ein bloßes Zuhören („hearing“) darstellt, ist ignatianisch geprägt und hat entsprechende Stärken. Um gesamtkirchlich weiterzukommen, müssten jedoch auch andere Ordensspiritualitäten wie z. B. die dominikanische zum Zug kommen, die mehr Wert auf theologische Debatten und gemeinsames Entscheiden legt.
[14] Vgl. Michael Berentzen: Synodale Lernwege: Beobachtungen zwischen Rom und Deutschland.
[15] Eine andere (medial weitgehend unsichtbare) konziliare Hinterbühne, auf der jedoch ebenso Wesentliches geschah, waren die „Bar Jona“, „Bar Abbas“ und „Bar Nun“ genannten, hinter den Tribünen im Hauptschiff von St. Peter gelegenen Kaffeebars – auch wenn es davon aufgrund eines offiziellen Fotoverbots leider keine Bilder, sondern nur Zeichnungen gibt.
[16] Yves Congar: Mon Journal du Concile I, Paris 2002, 37.
[17] Ich selbst fühle mich in der Schlichtheit des ‚heidnischen‘ Mithräums (= Kultort einer östlichen Mysterienreligion, die fast zeitgleich mit dem Christentum nach Rom kam) im tiefsten Untergeschoss von San Clemente den Wurzeln meines eigenen christlichen Glaubens näher als in mancher römischen Barockkirche.
[18] Vgl. Lukas Moser: Wir haben eine Kirche, haben Sie eine Idee? Pastoralgeographische Erkundungen zur Transformation eines Stuttgarter Kirchenraums, Stuttgart 2023, 111-119.
[19] In einer ersten Annäherung an das Thema ‚Weltsynode‘ hatten wir unsere Exkursion im Sinne des Performative turns mit gestischen Synodalitätsdarstellungen („bodily gestures“) durch Kleingruppen begonnen (z. B. als im Innen verbundener und nach Außen offener Kreis). Dieselbe szenische Verkörperung des Synodalen fiel den meisten Teilnehmenden aufgrund der nach fünf Tagen in Rom deutlich gesteigerten Komplexität unserer Wahrnehmungen am Ende des Seminars deutlich schwerer als zu Beginn.
[20] Vgl. Christian Bauer: Differenzen der Spätmoderne? Theologie vor der Herausforderung der Gegenwart, in: Stefan Gärtner, Tobias Kläden, Bernhard Spielberg (Hg.): Praktische Theologie in der Spätmoderne. Herausforderungen und Entdeckungen, Würzburg 2014, 29-49 sowie Ders.: „Don’t believe the type“. Inspirationen für eine pluralitätsfähige Kirche, in: Walter Krieger, Balthasar Sieberer (Hg.): Leben ist Vielfalt. Pluralität in Gesellschaft und Kirche, Wien 2016, 109-132.
[21] Man stelle sich in einem kurzen Gedankenexperiment vor, die Bischofskonferenzen eines ganzen Kontinents hätten während der Pontifikate Johannes Pauls II. oder Benedikts XVI. eine päpstliche Lehrentscheidung abgelehnt. Afrikanische Freund: innen berichten von einem immensen Druck, den Kardinal Ambongo auf andere Bischöfe ausgeübt habe („Many bishops fear his power“).
[22] Vgl. den Bericht der Bischofskonferenz von Lesotho im Rahmen der weltweiten Konsultationsphase: „Es gibt ein neues Phänomen in der Kirche, das in Lesotho ein absolutes Novum ist: gleichgeschlechtliche Beziehungen. […] Überraschenderweise gibt es in Lesotho Katholiken, die angefangen haben, ein solches Verhalten zu leben und von der Kirche erwarten, sie und ihr Verhalten zu akzeptieren. […] Dies ist eine problematische Herausforderung für die Kirche, weil diese Menschen sich ausgeschlossen fühlen.“ (Generalsekretariat für die Synode: „Mach den Raum deines Zeltes weit“ (Jes 54,2). Arbeitsdokument für die kontinentale Etappe, Vatikanstadt 2022, 20).
[23] Vgl. expl. die US-Plattform Hidden Tribes.
[24] M.-Dominique Chenu sprach mit Blick auf den Antimodernismus-Streit zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer notwendigen „Wachstumskrise“ (M.-Dominique Chenu: Une école de théologie: Le Saulchoir, Paris 1985 [Neuausgabe], 117).
[25] Synode mit Söding (Tag 17).
[26] Vgl. den Bericht der pakistanischen Bischofskonferenz im Rahmen der weltweiten Konsultationsphase: „Das Volk Gottes hat unterstrichen, wie außergewöhnlich es ist, sich im Rahmen eigens einberufener Treffen frei zu äußern, ohne eine vorgegebene Tagesordnung und mit einem besonderen Schwerpunkt darauf, der Eingabe des Heiligen Geistes zu folgen. Die Leute haben darauf hingewiesen, es sei das erste Mal, dass man sie gebeten hätte, zu sprechen, obwohl sie schon seit Jahrzehnten in die Kirche gingen.“ (Generalsekretariat für die Synode: „Mach den Raum deines Zeltes weit“ (Jes 54,2). Arbeitsdokument für die kontinentale Etappe, Vatikanstadt 2022, 13).
Wie groß allein der Schritt eines zweijährigen weltweiten Konsultationsprozesses ist, illustriert folgende – damals als außergewöhnlich prophetisch wahrgenommene – Wortmeldung des kanadischen Bischofs Bernard Hubert auf der Außerordentlichen Weltbischofssynode 1985 zum 20-jährigen Konzilsjubiläum, die der römischen Synodenregie unter Papst Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger widersprach und im offiziellen Synodenbericht des Vatikanischen Pressebüros übergangen wurde: „Lay women and men, religious and priests are all responsible with us for the mission of Christ […]. If the present Synod were o become the first step in a two-year process, the work which we are now beginning could become the occasion of a consultation with the faithful, of a genuine participation on their part […].“ (zit. nach Peter Hebblethwaite: Synod Extraordinary. The inside story of the Rome Synod, November/December 1985, London 1986, 129).
[27] Rainer Bucher: Katholische Intellektualität. Ein Versuch, in: Wort und Antwort 46 (2005), 158–164, 160.
[28] Asymmetrisch ist diese Tribalisierung, da sie derzeit hauptsächlich auf der kirchlichen Rechten stattfindet. Auch in kirchlichen Zusammenhängen ist jene politikwissenschaftliche ‚Hufeisentheorie‘ nämlich unzutreffend, derzufolge sich beide Enden des politischen Spekrums gerade in symmetrischer Weise radikalisieren. Ein synodales Beispiel für eine asymmetrische Kirchen-Tribalisierung ist der deutsche ehemalige Kurienkardinal Gerhard L. Müller, der seine elaborierten Wortmeldungen ohne Rücksicht auf das ‚Synodengeheimnis‘ auf rechtskatholischen Internetportalen veröffentlicht. Armin Nassehis ‚Symmetrieparadoxon‘ gilt auch hier: „Je symmetrischer Personen [z. B. in synodalen Prozessen] kommunizieren können, desto deutlicher werden [auf der kirchlichen Linken] Asymmetrien erlebt und desto lauter werden [auf der kirchlichen Rechten] Ansprüche auf eigene Identitäten und identitäre Selbstbehauptungen.“ (Armin Nassehi: Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protestes, Hamburg 2020, 52).
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