Wie sieht es mit dem Verhältnis von Theologie und Absurdität, von Sinn und Sinnlosigkeit aus? Eine Fachtagung aus dem Blickwinkel von Justin Veit.
Im herbstlichen Berlin organisierte die deutsche Sektion der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie vom 30. September bis 2. Oktober 2024 eine Tagung, auf der sich Theologinnen und Theologen über das Verhältnis von Theologie und Absurdität, von Sinn und Sinnlosigkeit, Universalität und Alterität austauschten.
Glauben als der Versuch, aus der Verzweiflung zu leben.
Verstehe man Wissenschaft als ein Unternehmen zur möglichst weitgehenden Verwerfung bzw. Auflösung von Absurdität und Numinosem, könne in der Kunst gerade eine Praxis der Organisation des Absurden entdeckt werden – so die italienisch-österreichische Theologin Isabella Guanzini in ihrem Vortrag zu Beginn der Tagung. Analog dazu gebe es auch im Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Sinn bzw. Sinnlosigkeit im Wesentlichen zwei mögliche Perspektiven: So könne Religion der Selbstvergewisserung im Sinne einer Vermeidung existentieller Beunruhigung dienen, oder aber gerade den Respekt vor dem Absurden ausdrücken, der die Leere ins Zentrum rückt. Viele der Vorträge, die auf der Tagung „Absurdität und Theologie in der Gegenwart“ gehalten wurden, setzten sich mit diesen zwei Möglichkeiten auseinander und ließen meist eine vorsichtige Positionierung in ihrem Spannungsfeld erkennen. Guanzini zufolge etwa kann das Absurde gerade die hellsichtige Vernunft sein, die ihre Grenzen feststellt: Da Wahrheit außerhalb eines greifbaren Sinns der Wirklichkeit stehe, könne es im Glauben nur um den Versuch gehen, aus der Verzweiflung zu leben.
Die Hoffnung des Glaubens setze auf Gott … auf die Möglichkeit des Guten jenseits von Sinn und Sinnlosigkeit.
Am Morgen des zweiten Konferenztages war es der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Ingolf U. Dalferth, der die Kategorien von Sinn und Sinnlosigkeit aufgriff, um für eine dritte Option im Umgang mit dieser scheinbaren Bipolarität zu werben: Der Sinn-Widerspruch, den man auflösen will, werde existentiell gerade dadurch erzeugt, dass man ihn auflösen will. Die Hoffnung des Glaubens setze demgegenüber auf Gott und damit auf die Möglichkeit des Guten jenseits von Sinn und Sinnlosigkeit. Später war es der Alttestamentler Martin Nitsche, der mit Blick auf das Buch Kohelet die These vertrat, dort werde nicht etwa die Frage nach der Absurdität des Großen und Ganzen der Welt verhandelt, sondern vielmehr die Sinnsuche des Menschen unter Absurditätsverdacht gestellt. Die ebenso kontraintuitive wie grundlegende Frage nach der Sinnhaftigkeit der Sinnfrage stand auch im Mittelpunkt der philosophischen Überlegungen von Pia Henning.
Das christliche Leben als Feier „des Gedächtnisses des Absurden, das gegen das Absurde kämpft“
In vielen Vorträgen wurden aus der Sicht unterschiedlicher theologischer Disziplinen weitere Schlaglichter auf die Thematik von Sinn und Absurdität geworfen. Die systematisch-theologischen Überlegungen von Knut Wormstädt arbeiteten bleibende Ambiguitäten des Versöhnungsgedankens in der Fluchtlinie des Absurditätsgedankens heraus. Stephan Tautz argumentierte aus liturgiewissenschaftlicher Sicht für ein Verständnis des Gottesdienstes als einer Praxis, die lehrt, der Gegenwart des Fehlens Gottes zuzustimmen. In ähnlicher Weise und im Anschluss an Xavier Thévenot betrachtete der Fundamentaltheologe Michael Quisinsky das christliche Leben als ein Sich-Ausrichten an der Figur Christi im Sinne eines Gedächtnisses der Passion und der Auferstehung – eine Feier „des Gedächtnisses des Absurden, das gegen das Absurde kämpft“. Dementsprechend plädierte Quisinsky für den Verzicht auf jene Art von Geschichtsphilosophie, die glaubt, der Geschichte habhaft werden zu können. Ähnlich wie Dalferth argumentierte er, wo versucht werde, dem Eindruck der Absurdität etwas entgegenzusetzen, sei noch die Entgegensetzung von dem affiziert, was sie negiert.
Die unausweichliche Verstrickung von Freiheit und Vernunft in Widersprüche – und die Notwendigkeit der Öffnung auf Anderes.
Der Kontrast von Sinn und Sinnlosigkeit war jedoch nicht das einzige Grundmotiv in der Auseinandersetzung mit dem Absurden: So setzten sich mehrere Referierende mit der Spannung zwischen der Souveränität des Subjekts und dessen existentieller Verwiesenheit auf den Anderen, auf Alterität auseinander. Knut Wenzel etwa ging bereits im Eröffnungsvortrag auf die französische Autorin des 16. Jahrhunderts Louise Labé ein, die in ihrem Sonett Nr. 7, in welchem das lyrische Ich sich nicht mit der (geliebten) Seele, sondern mit dem (liebenden) Leib identifiziert, die Liebe gerade als Ent-Souveränisierung des Ichs gedeutet habe. Der Eichstätter Theologe Martin Kirschner wiederum betrachtete in seinem Vortrag „Am Abgrund, mit Hoffnung. Zum theologischen Umgang mit dem Absurden“ auf einer grundsätzlichen Ebene die unausweichliche Verstrickung von Freiheit und Vernunft in Widersprüche und leitete daraus die Notwendigkeit ab, dass sie sich für ihr Anderes öffnen müssen, für das, „was uns zugespielt wird, was wir nicht machen können“ – theologisch gesprochen: für Gnade. In eine ähnliche Richtung argumentierte die Freiburger Religionspädagogin Eva Spiegelhalter, die ebenfalls auf die Gnadenerfahrung als Voraussetzung des Glaubens zu sprechen kam: Glaube sei nie der Sieg des schlüssigeren Arguments. Die Berliner Theologin Sarah Rosenhauer schließlich, die über die „Liebe zum Endlichen“ referierte und in ihrem Vortrag gerade die Berührbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen als „Haut des Absoluten“ (Kurt Appel)[1] in den Mittelpunkt rückte, machte auf die Konsequenzen einer derartigen Sichtweise für die Politik aufmerksam und betonte mit Jürgen Manemann die Bedeutung von „Mitleidenschaft“ als emotionaler Grundvoraussetzung für die Demokratie.
Dass sich aus solchen Überlegungen umgekehrt wieder vorsichtige Ansätze für eine Neuentdeckung der Kategorie des Sinns ergeben könnten, ließ etwa Karlheinz Ruhstorfers Interpretation tätiger Liebe als versöhnende Gegenwart Gottes, die Verschiedenes zusammenbringt, erahnen – sowie, ganz ähnlich, Martin Kirschners Verweis auf die eigentümliche Evidenz empfangend-antwortender Liebe.
Souveränität als Aufbäumung des Subjekts gegen eine sinnlose Welt, als ultimativer Akt des Selbst.
Zugleich kann, wie am Beginn der Tagung Knut Wenzel mit Blick auf Alexei Nawalny herausgestellt hatte, Souveränität auch als Aufbäumung des Subjekts gegen eine sinnlose Welt, als ultimativer Akt des Selbst verstanden werden. Die Heilige Schrift, so machte der Neutestamentler Alexander Gialousis deutlich, kennt indes eine eigene Art der Identitätsvergewisserung in Krisenzeiten. Die markinische Erzählweise des Evangeliums begegne diesem Erfordernis in Form einer strategischen Nutzung von „Ambiguität“: Gerade die stetige Kontrastierung von Vollmacht und Ohnmacht Christi, von Freimut und Verwerfung, von innerer Notwendigkeit und Leiden, von Auferstehung und Kreuzigung im Markusevangelium habe der Gemeinde als Selbstvergewisserung gedient. Ganz konkret wurde die Forderung nach Schutz und Aufbau sinnvoller ekklesialer Strukturen dann im Vortrag des Kirchenrechtlers Christoph Koller: So wie Prinzipien der Rechtssaatlichkeit sowohl den Prinzipien des Rechts entsprechen als auch in ihrer Gesamtheit das System „demokratischer Rechtsstaat“ aufbauen und schützen, so sollten Prinzipien der Rechtskirchlichkeit das Entsprechende für den Raum der Kirche mit seinen spezifischen Anforderungen gewährleisten.
Gott setzt in jedem Geschaffenen zugleich wieder neu Anderes, Besonderes, und gerade dadurch wird die Sinnlosigkeit der Welt mit einer Inflation von Sinn geflutet.
Ein weiteres Spannungsfeld, mit dem sich die verschiedenen Vorträge auf der Tagung auseinandersetzten, lässt sich zwischen den Polen des Universalen und des Konkreten ausmachen. Hier brachte Michael Quisinsky einen Brückenschlag ins Gespräch, indem er darauf hinwies, dass „Inkarnation“ aufgrund des ihr eigenen Anspruchs für die Interpretation der Wirklichkeit insgesamt bedeutsam sei: Von Marie-Dominique Chenus „Gesetz der Inkarnation“ bis zu Gregor Maria Hoff gebe es verschiedenste theologische Ansätze, die Inkarnation als Strukturprinzip der Wirklichkeit und des Erkennens zu fassen. Karlheinz Ruhstorfers Überlegung aus dem Abschlussvortrag, Gott setze in jedem Geschaffenen zugleich wieder neu Anderes, Besonderes, und gerade dadurch werde die Sinnlosigkeit der Welt mit einer Inflation von Sinn geflutet, vermag hier vielleicht die Richtung anzudeuten, in der eine „Einwohnung“ universaler Sinnstrukturen im Konkreten gesucht werden könnte. Genau hier, im je Konkreten, sah der Münsteraner Dogmatiker Johannes Elberskirch dann auch den Haftpunkt für das Prinzip der Sakramentalität in der Spätmoderne. Dafür zitierte er den Soziologen Andreas Reckwitz mit den Worten: „Wenn Menschen, Dinge, Ereignisse, Orte oder Kollektive singularisiert und kulturalisiert werden, dann wirken sie anziehend. Ja, nur wenn sie affizieren, gelten sie als singulär.“[2] Dieser wechselseitige Zusammenhang zeichne Sakramentalität im Sinne der Individuation des Heils als einer persönlichen, sinnlichen, leibhaftigen Zuwendung Gottes aus.
Die Bedeutung des „Fühlens“ für die Zuschreibung universaler Werte hatte auch die Neutestamentlerin Aleksandra Brand im Kontext ihres Vortrags zur urchristlichen Naherwartung und deren Wechselwirkung mit (finanz-)ethischem Handeln herausgestellt und dabei Albert Camus mit den Worten zitiert: „Das Individuum handelt […] im Namen eines noch ungeklärten Wertes, von dem es jedoch zum mindesten fühlt, daß er ihm und allen anderen Menschen gemeinsam ist.“[3]
Der spanische Theologe Luis Sancho Perez hob solche Überlegungen auf eine grundsätzlichere Ebene, indem er die Auseinandersetzung um Absurdität und Sinn mit Kierkegaard und Buber im Spannungsfeld von Unter- und Überlogischem ansiedelte, das angesichts der Angst und im Kontext konkreter Begegnungen den Menschen zu Entscheidung und Wagnis herausfordert. Mit der spanischen Philosophin Maria Zambrano verwies er von dort auf die Bedeutung einer poetischen Sprache und einer Philosophie, welche – wie in Augustins Bekenntnissen – die Gründe des Herzens argumentativ entfaltet.
„Das Spiel lässt sich nicht verneinen. […] Den Ernst kann man leugnen, das Spiel nicht.“
Wenn jedoch die Kategorien des Fühlens und des Konkreten so wesentlich für die Wertwahrnehmung sind, wie sind dann kirchliche Vollzüge mit ihrer eigentümlichen Weise, auf Absolutes zu verweisen, zu verstehen? Stephan Tautz brachte hier mit Blick auf die Liturgie die Kategorie des Spiels ein, das er mit Johan Huizinga als „freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des Andersseins als das gewöhnliche Leben“ auswies: „Das Spiel lässt sich nicht verneinen. […] Den Ernst kann man leugnen, das Spiel nicht.“[4]
Auch die systematische Theologin Claudia Gialousis rekurrierte auf das Spiel zur Beschreibung des modernen Zugangs zur Religiosität: Religionen seien heute in ihrer Substanz nicht mehr eindeutig zu identifizieren; es gehe vielmehr darum, „die noch im Entstehen begriffenen Regeln des neuen Gesellschaftsspiels jenseits der alten Sicherheiten, Grenzen und Dichotomien konzeptuell und empirisch zu entschlüsseln und zu erkunden“, wie es U. Beck, W. Bonß und C. Lau in ihrem Aufsatz „Theorie reflexiver Modernisierung“ (Frankfurt a. M. 2001) formulieren. Karlheinz Ruhstorfer zufolge ist es vor allem „die liebevolle Beziehung zum je Anderen“, welche die „Alterität und Absurdität des Daseins“ relativiert. Mit dem, was der menschliche Geist nicht zu fassen bekommt, umzugehen, statt es zu verdrängen oder zu bekämpfen, kann zugleich gerade, wie Klaus Viertbauer anhand von Søren Kierkegaards „Furcht und Zittern“ verdeutlichte, als eine Grundaufgabe des Glaubens aufgefasst werden: So zeige sich laut Kierkegaard sehr verdichtet am Isaaksopfer Abrahams „das Absurde, daß Gott, der dies von ihm heischte, im nächsten Augenblick sein Heischen widerrufen würde.“[5] Dasein, Wirklichkeit, Gott müssen insofern stets von Konzepten unterschieden werden, die sie, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft einzufangen vermögen.
[1] Gott – Mensch – Zeit, in: ders., Preis der Sterblichkeit, Freiburg 2015, 32.
[2] Die Explosion des Besonderen, zu finden unter https://www.soziopolis.de/die-explosion-des-besonderen.html (zuletzt geöffnet am 12.10.2024).
[3] Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1961, 16.
[4] Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg [1956] 1997, 11; 37
[5] Furcht und Zittern, [Kopenhagen 1843] Gütersloh 1980, 34.
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Justin Veit hat Mathematik, Musik und Theologie in Münster und Eichstätt studiert; aktuell promoviert er im Fach Philosophie über die antiken Wurzeln des Gewissensbegriffs und der Gewissensthematik. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter ist er am Lehrstuhl für Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt tätig.
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