Transformationen wie die neuen KI-Anwendungen reißen die Theologie aus ihren kirchlichen Biotopen. Birte Platow leitet als Religionspädagogin den Forschungsbereich „Responsible AI“ an der TU Dresden und reflektiert Erfahrungen und Chancen beim „Auswildern“ theologischer Forschung ins interdisziplinäre Feld.
1. Einführende Gedanken
Theolo:KI – ich hoffe die Leserschaft kann über den plakativen Charakter dieses Wortspiels hinwegsehen, denn natürlich wird mit dieser Wortneuschöpfung in aufmerksamkeitsökomonomischer Hinsicht sofort der größte aller Hebel gezogen. Künstliche Intelligenz (KI) ist aktuell nicht nur in aller Munde, von dieser Technologie ist mit Fug und Recht zu erwarten, dass sie unsere Gesellschaft in quasi allen Belangen tiefgreifend und nachhaltig transformieren wird. Ist die verbale Hybrid-Bildung Theolo:KI also der Versuch, einer in Vergessenheit geratenen Wissenschaftsdisziplin eine Frischekur zukommen zu lassen und sie auf dem Trittbrett mit in die (gesicherte) Zukunft zu nehmen? Ja und Nein lautet die Antwort auf diese Frage. Im folgenden Text wird eine gesellschaftliche Umbruchsituation als Anlass genommen, die Theologie als Wirklichkeitswissenschaft auf den Prüfstand zu stellen. Anhand eines Erfahrungsberichts zu theologischer Forschung im Feld der KI Forschung wird eruiert, welche genuinen Beiträge die Theologie als Wissenschaft auch und gerade zu technologischer Entwicklung und gelingender Technikintegration leisten kann – und welche facheigenen Hürden sie dafür zu überwinden hat, bzw. (etwas weiter gedacht) welchen Reformen sie sich ggf. stellen müsste.
Seit 2017 befasse ich mich in meiner religionspädagogischen Forschung mit KI – also weit vor dem Jahr 2023, als das Sprachmodell ChatGPT KI über Nacht ins Bewusstsein aller Menschen brachte und die Weltgesellschaft vor die Frage stellte, wie diese Technologie in unser aller Leben auf gute Weise zu integrieren sei. Zu Beginn meiner Forschung war die Beschäftigung mit KI von persönlicher Neugierde getrieben. Ich hatte gerade die letzte Qualifikationsarbeit abgeschlossen und kostete die Freiheit aus, mich denkerisch mit Themen zu befassen, die mich persönlich faszinierten und bestenfalls als „Avantgarde“ in der theologischen Community wahrgenommen würden, vielleicht aber auch als völlig irrelevant. Letzteres war 2017 für das Thema KI mehrheitlich der Fall in theologischen Kreisen[1]. Gleichwohl war für mich sehr deutlich, dass Theologie Vieles und Grundlegendes zur Erforschung einer damals schon klar erkennbar aufstrebenden Technologie beitragen kann. Und doch fand sich für meine Forschungsarbeit zum Thema zunächst nur außerhalb der Theologie eine geistige „Heimat“, also einen Ort, der unhinterfragt und zugleich konstruktiv auffordernd einen Rahmen für meine Forschung bot. Einen solchen Platz bot ein Fellowship bei der Digital Society Initiative in Zürich[2]. Es folgte noch in dieser Phase ein Ruf an eine technische Universität, den ich vor allem deshalb erhielt, weil ich eben gerade nicht bzw. nicht nur „klassische“ theologische Themen beforschte, sondern meine theologische Forschung konstitutiv interdisziplinär gestaltete und auf allen Ebenen an Gegenwartsfragen ausrichtete. Am neuen Ort erwies sich eben dies als Erfolgsfaktor: Ich bin heute als einzige Geisteswissenschaftlerin im Vorstand eines KI Kompetenzzentrums[3]. Einer Theologin wurde in diesem Zentrum die Leitung über den personalstarken und sehr interdisziplinären (bis dato vorrangig technisch ausgerichteten) Forschungsbereich „Responsible AI“ übertragen. Und auch Repräsentation und „Outreach“ des KI Zentrums liegen heute an vielen Stellen in meiner Verantwortung. Ich mache dabei immer wieder und immer neu die Erfahrung, dass Theologie im Kern eine „Wirklichkeitswissenschaft“[4] ist. Theologie hat nach wie vor das Potential, sehr konkret und auf existentiell bedeutsame Weise in gesellschaftlichen Fragen in Politik[5], Bildungspolitik[6], Wirtschaft[7] und Wissenschaft[8] mitzuwirken – und im Gegenzug als relevantes Fach in verschiedenen wissenschaftlichen wie realpolitischen Zusammenhängen wahrgenommen zu werden.
Saskia Wendel hat an diesem (Publikations-)Ort vor kurzem die folgende Frage in den Raum gestellt: „Welche Theologie hat Zukunft?“. Meine – zugegeben – pragmatische Antwort lautet: eine Theologie, „that matters“. Mit dem im Englischen global einzusetzenden Term, für den im Deutschen kein wirklich passendes Äquivalent existiert, ist auf zwei Begriffe reduziert, was Wobbermin und mit und nach ihm weitere als Anspruch an die Theologie formulierte: Wirklichkeitswissenschaft zu sein, also ein Fach, das für den Wissenschaftsdiskurs aber auch darüber hinaus, in die gesellschaftliche Realität hineinwirkt und an diesen Orten einen spürbaren Unterschied macht, den andere Wissenschaftsdisziplinen nicht bieten könnten. Dafür sind insbesondere zwei Bedingungen zu erfüllen – Theologie muss einerseits die jeweils gegenwärtige und vorfindliche Wirklichkeit substanziell in den Blick nehmen und dabei andererseits ihre spezifischen Alleinstellungsmerkmale konstitutiv einbringen. Auf konkret handlungsbezogener Ebene sind weitere Gelingensfaktoren angesiedelt, wie gelingende Kommunikation, passende Methoden uvm. (siehe dazu unten unter 4. Ctrl_Alt_Transform – Theologie als hermeneutische Wirklichkeitswissenschaft).
Gelingt es der Theologie im skizzierten Sinne Wirklichkeitswissenschaft zu sein, wird sie einerseits als uneingeschränkt relevant wahrgenommen, und kann (oder könnte) andererseits aus dieser Relevanzerfahrung wichtige Impulse in die eigene Disziplin mitnehmen – etwa, wenn es um die Frage geht, welche Reformen oder Transformation für das Fach ggf. anstehen. In vielerlei Hinsicht ist die skizzierte Relevanzerfahrung im Kern nämlich eine (selbst-)kritische Relevanzprüfung, wie sie jeder Reform vorausgeht. Und es liegt in der Natur der Sache, dass eine kritische Relevanzprüfung stets ein gewisses Unbehagen und Risiko birgt, da dieser Prozess kein rein interner ist, sondern konstitutiv nach einer gewissen Öffnung und Entäußerung verlangt. Für die Theologie, insbesondere die Theologie an deutschen Universitäten[9] ist unklar, wie ausgeprägt ihre Risikobereitschaft in dieser Hinsicht ist.
Friedrich Wilhelm Graf hat die akademische Theologie in Deutschland einmal als „Theotop“[10] bezeichnet. Damit stellt er die Theologie in Analogie zum Biotop als einen sehr spezifischen Lebensraum dar, in dem nur Flora und Fauna existieren können, die für diesen speziellen Lebensraum geeignet sind. Jedes Eindringen „fremder“ Lebensformen stellt eine unmittelbare Bedrohung für das Theotop dar. Gleiches gilt für Bewohner:innen des Biotops, wenn diese ihren Raum verlassen. Noch scheint es, dass das Theotop an deutschen Universitäten unter Naturschutz steht, doch sollte man dieses Privileg nicht als gesichert annehmen. Das Theotop schrumpft, und – im Bild gesprochen – es bedarf guter Hüter:innen, die die Bewohner des Biotops schützen und sie zugleich in passender Weise für ein Leben außerhalb dieses Schutzraums rüsten. Nachfolgend wird zunächst das Theotop vermessen werden – wie stellt sich Theologie aktuell im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs dar, und welche Alleinstellungsmerkmale und genuinen Beiträge vermag sie einzubringen? In einem zweiten Schritt wird am Beispiel religionspädagogischer Technikforschung zu KI exemplarisch gezeigt, wie eine erfolgreiche „Auswilderung“ theologischer Forschung im interdisziplinären Feld aussehen kann, welche Gelingensfaktoren dabei helfen, und welcher Reformen innerhalb der Theologie es möglicherweise bedarf.
2. Alleinstellungsmerkmale und Beiträge universitärer Theologie
„Welche Theologie hat Zukunft“ fragt Saskia Wendel im Rahmen ihrer Antrittsvorlesung, die in der Maisausgabe dieses Jahres an dieser Stelle publiziert wurde[11]. Saskia Wendel sieht die Theologie in der Universität in existentieller Bedrängnis, da ihre Daseinsberechtigung gleich von zwei Stellen infrage gestellt ist. So schwelt in der Institution selbst von Seiten der Universitätsleitung, aber auch der anderen Fächer immer der latente Vorwurf, Theologie sei weniger Wissenschaft als vielmehr Ideologie und Institutionenpolitik. Die Ursachen und Muster einer derartigen Außenwahrnehmung sind vielschichtig und komplex und können an dieser Stelle nicht umfassend differenziert dargestellt werden. Jedoch ist einzugestehen, dass das Fach über gewisse Privilegien im hochschulpolitischen Tagesgeschäft verfügt[12] und darüber hinaus inhaltliche Eigenheiten aufweist, die auf einer institutionellen Verflechtung mit der Kirche, respektive den Kirchen, zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund sieht Saskia Wendel ein weiteres Bedrohungspotential für die Theologie in Form einer Kirche, die für theologische Forschung ein gewisses Maß an „Konformität“ mit der Kirche – als einer Institution außerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs – verlangt[13]. Auch hier gälte es zwingend zu differenzieren und gäbe es einiges zu diskutieren, was im Rahmen des vorliegenden Texts jedoch nicht geschehen kann. Stattdessen wird abermals nach dem Anlass einer solchen Außenwahrnehmung gefragt und festgestellt, dass die obligate Zustimmung der Kirchen bei der Besetzung einer Professur sowie weitere oft weniger augenfällige Momente durchaus Saskia Wendels These stützen. Zuletzt sei ein weiteres Bedrohungsmoment in Ergänzung zu Wendels Analyse ergänzt, nämlich das der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit. Wir müssen kontinuierlich und markant eine abnehmende Bedeutung von Religion und Kirche in der Gesellschaft für die Gegenwart sowie nahe Zukunft annehmen[14]. Dadurch gerät ein Fach, das (wie eben gesehen) mit Religion und Kirche identifiziert wird, unter gesellschaftlichen Druck, denn „die“ Gesellschaft erwartet als legitimer „Stakeholder“ von Wissenschaft, dass sich diese in irgendeiner Form als existentiell bedeutsam erweist. Dies kann auf diverse Arten geschehen[15]. Entscheidend ist, dass aus der jeweiligen Forschung Impulse nach außen gehen und nicht selbstreferent im Fach, in der Fach-Community, den facheigenen Bezugsgruppen – kurz: im Theotop – bleiben. Ob von außen zugeschrieben oder gerechtfertigt – als Wissenschaftsdisziplin steht die Theologie vor der Herausforderung, ihren Wissenschaftscharakter und ihre Relevanz im weiteren Umfeld von Wissenschaft in gebotener Autonomie für die Gegenwart zu erweisen.
Für die Realisierung des letztgenannten Anspruchs an die Theologie differenziert Saskia Wendel zwischen der aus ihrer Sicht wenig geeigneten Legitimationsstrategie über die berufsqualifizierende Funktion von Theologie (Theologische Fachausbildung im Pfarr- und Lehramt[16]) und einer demgegenüber positiven substanziellen Begründung, die in der Einzigartigkeit des Gegenstandsbereichs von Theologie läge. „Welche Theologie unter den heutigen Bedingungen (noch) Zukunft haben kann, wird daher nicht funktional, sondern inhaltlich in Bezug auf das Verständnis von Theologie zu reflektieren sein, um von dort her dann auch den Beitrag zu entfalten, den die Theologie auch zukünftig leisten kann[17]“, so die Kernthese von Wendels Entwurf einer Theologie mit Zukunft. Weiter sieht sie „Theologie (…) erstens als Reflexion religiöser Selbst- und Weltdeutungen und entsprechender Glaubenspraxen, zweitens als die vernünftige Rechtfertigung einer „Hoffnung, die uns erfüllt“ (1 Petr 3,15) angesichts der „Verletzlichkeit allen Lebens“ (J. Butler) unter, drittens, der Voraussetzung konkreter Grundhaltungen wissenschaftlich-theologischer Praxis.“[18]
Eine zukunftsfähige Theologie dieser Art zeichnet sich nach Wendel weiter durch eine tektonische Verschiebung sowie eine grundsätzliche Perspektivweitung aus. So leitet nicht mehr „primär die Frage nach dem Vernehmen-Können göttlicher Offenbarung den Reflexionsgang (…), sondern die Frage nach dem Aufkommen, der Bedeutung und dem Vollzug von Religiosität.“[19] Und weiter wird die anthropologische Wende dadurch geweitet, dass sie sich nicht länger exklusiv auf menschliches Leben beschränkt ist, sondern „noch andere Formen bewussten Lebens“[20] einschließt – diese Ausweitung kann sich selbst „künstlich erzeugtes bewusstes Leben“[21] erstrecken. Theologische KI Forschung wäre nach diesem Verständnis weit mehr als Begleitforschung – sie wäre im Kern eine theologische Aufgabe.
Saskia Wendels Entwurf einer zukunftsfähigen Theologie ist in jeder Hinsicht zuzustimmen – und zugleich ist er nach meiner Erfahrung in der theologischen KI Forschung strukturell zu weiten. So kann, was Wendel als „Inhalt“ definiert, in spezifischer Weise im Dienst von Wissenschaft und Gesellschaft stehen und insofern auch Funktion sein. Versteht man Theologie nämlich nicht primär als Hüterin spezifischer Inhalte, sondern auch als eine hermeneutische Disziplin, die diese Inhalte analytisch deutend in vielfältige Problemstellungen einbringt, ist durchaus von einer facheigenen Funktion im breiten wissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Diskurs zu sprechen. Eingangs wurde Theologie als Wirklichkeitswissenschaft definiert. Mein eigenes Fach, die Religionspädagogik habe ich stets als eine Anwältin der Lebenswirklichkeit verstanden, die im Gegenüber zu den anderen theologischen Disziplinen im Fächerkanon diese herausfordert, ihre Inhalte einer kritischen Relevanzprüfung zu unterziehen und sich so auf ihre je eigene Art und Weise auch außerhalb des Theotops bewegen zu können. Wie dies in der Praxis aussehen kann, wird im Folgenden am Beispiel theologische KI Forschung erläutert.
3. Theologie als hermeneutische Disziplin in der KI Forschung in Schlaglichtern
Wenn ich versuche meine Erfahrung und Entwicklung als Theologie Forschende in ganz fremden, Kontexten systematisch und in exemplarischer Funktion zu beschreiben, eignet sich eine Orientierung an der Struktur des klassischen Dramas[22].
So erlebte ich in der Exposition bei meinem Auftakt in der KI Forschung eine gewisse Ernüchterung. Ich war in den großen Forschungsverbund zunächst als „Feigenblatt“ hinzugebeten worden. Der Geldgeber (von immerhin bis dato 100 Millionen und fortan weiteren 20 Millionen in jedem weiteren Jahr) erwartet für die Forschung mit potentiell enormen Auswirkungen für die Gesellschaft die Berücksichtigung der sogenannten „ELSI Aspekte“, der „Ethical-Legal-Social Implications). Von einer Theologin, die „irgendwie über KI nachdenkt[23]“ und einer Juristin, die „irgendwas mit Datenrecht macht“, meinte man diese Notwendigkeit abzudecken. Eine gewisse Ratlosigkeit folgte, nachdem dem Antrag auf Verstetigung Erfolg beschieden war, und man das erste Mal in gemischter Fächerrunde aufeinandertraf. Die Erwartung einer „ethischen Checkliste“, die anhand normativer Kriterien „gute“, „kritische“ und „schlechte“ KI zu differenzieren vermag, konnte ich nicht erfüllen, weil sie schlichtweg dem Selbstverständnis von Ethik widerspricht. Und für die Technikforschenden musste ich feststellen, dass mein Schwerpunkt anthropologischer Fragestellungen für sie zumindest auf den ersten Blick keine Rolle spielte. „Wir entwickeln ja Technik[24], da haben wir eigentlich keine Menschenbilder[25]“ ließ man mich wissen. Sprachlich, inhaltlich und in Bezug auf die je eigene Fächer- und Forschungskultur tat sich augenscheinlich ein ‚garstige Graben[26]‘ auf.
Damit war der zweite Akt eingeläutet. Das erregende Moment bestand weniger in der skizzierten problematischen Ausgangslage als in dem intuitiven Gefühl, dass wir Forschenden aus den verschiedenen Fächern doch eine Schnittmenge in unseren Forschungsanliegen hätten, diese jedoch im Verborgenen zu liegen schien. Zunächst galt es also, jene Schichten abzutragen, die gemeinsame Fragestellungen zudeckten – sprachliche Hürden[27], unterschiedliche Formen der (wissenschaftlichen) Kommunikation[28], grundverschiedene epistemische Voraussetzungen von Forschung (und damit zusammenhängen dem facheigenen Selbstverständnis)[29] und natürlich Unterschiede in den Gegenstandsbereichen der jeweiligen Forschung. In diesem Akt gab es nun nicht den einen Moment, in dem alle Erregung kulminiert und den gleich folgenden Höhepunkt einläutet. Vielmehr führten die Summe der Austauschmomente und wachsende Erfahrung miteinander zu Erkenntnissen, die ich als Theologie Forschende durchaus als Höhepunkte meiner Arbeit erachte – zum einen, weil ich meine theologische Forschung als bedeutsam erachte (im Sinne von „it matters!“), zum anderen, weil ich für meine Forschung und mein Fach neue Möglichkeiten[30], aber auch Notwendigkeiten entdecke.
Die Bescheidenheit verbietet es eigentlich, die Bestätigung, respektive die Anschlussfähigkeit (aber auch Modifizierung!) der eigenen Thesen[31] in einem breiten fächerübergreifenden wissenschaftlichen Diskurs als Höhepunkt zu bezeichnen. Und doch kann ich mich dieses Schrittes nicht erwehren, denn gerade für die Theologie ist dies ein leider selten gewordener Glücksmoment (s.o.). Daher ist neben der persönlich affirmativen Erfahrung auf einen weiteren „Höhepunkt“ zu verweisen: Eine vorbehaltlose interdisziplinäre Öffnung erlaubt einen Blick aus der Distanz auf das Eigene, das sich unter Umständen noch einmal anders darstellt als aus der (theologischen) Binnenperspektive. Für meine theologische KI Forschung brachte dieser „fremde“ Blick auf das Eigene Perspektivweitungen[32], zum Teil paradigmatische Wechsel[33], ein erweitertes Methodenrepertoire[34], weitere Gegenstandsbereiche und Zieldimensionen mit sich. Wie ein roter Faden ist allen genannten Entwicklungen gemein, dass sie die Zukunftsfähigkeit von Theologie auch außerhalb des Theotops bezeugen. Als hermeneutisch-analytische Disziplin vermag das Fach Grundlegendes zu hochaktuellen Wissenschaftsdiskursen und gesellschaftlichen Fragestellungen beizutragen – wenn sie sich der notwendigen Öffnung und einigen damit einhergehenden Transformationsprozessen (siehe unten unter 4.) denn stellt.
Als retardierendes Moment bleibt jedoch eine Frage, die ich mir insgeheim für meinen Verantwortungsbereich der „Responsible AI“ in der Phase des personellen und fachlichen Aufwuchses konkret stellen musste, und die vermutlich generell im Raum geistes- und sozialwissenschaftlicher Technikforschung steht: Welche Alleinstellungsmerkmale weist die Theologie gegenüber anderen technikforschenden Geistes- und Sozialwissenschaften auf? Inwiefern unterscheidet sich theologisch konturierte Hermeneutik von philosophischer oder soziologischer? Und welcher besondere Wert erwächst ggf. aus genuin theologischer Hermeneutik im Feld der KI Forschung? In dieser Frage ist nun an obenstehende Kernthese zu erinnern: Theologie erschöpft sich nicht bzw. nicht nur (in Anlehnung an Wendel) in ihren spezifischen und sehr besonderen Inhalten[35], sondern kann diese in hermeneutischer Funktion einbringen und so eine Deutung von Gegenwartsphänomenen erzeugen, für die andere Wissenschaftsdisziplinen weitgehend blind sind. Für das Feld der KI könnte ich diverse theologischen Lehren zitieren, die die religiöse Aufladung der Technologie in Entwicklungs- und Designprozessen sowie in der Wahrnehmung und Gestaltung von Anwendungssettings beschreiben und in besonderer Art analysieren. Exemplarisch sei ein Phänomen an der Basis von KI Entwicklung zitiert. Die epistemischen Voraussetzungen der KI Entwicklung sind im Kern als solutionistisch zu beschreiben: Es gilt auf Basis von Daten, ein Modell zu entwickeln (oder zu trainieren[36]), das Lösungen für ein in Daten zu erfassendes, quantifizierbares Problem bietet[37]. Diese Beobachtung bietet per se schon reichlich Anlass zur (kritischen) Reflexion. Erweitert man die Betrachtung nun und nimmt KI als Komponente in einem soziotechnischen System an, und unterzieht man dieses einer theologisch-hermeneutischen Analyse, so finden sich in dieser solutionistischen Veranlagung in den Praxen der Entwicklung und der Anwendung deutlich soteriologische Konnotationen. KI wird nicht einfach nur als zweckdienliche „Lösung“ wie andere Technik(en) wahrgenommen, sondern in gewisser Weise als Heilsbringer (der bislang unlösbare Probleme qua höheren Wissens löst[38]) oder als Schöpfungskraft (die unsere Welt transformieren wird). Nimmt man sich Zeit für das retardierende Moment, finden sich zahlreiche weitere Phänomene, die trefflich – und ich neige zu sagen in Differenziertheit und analytischer Rückbindung an systematische Lehren und Phänomenologien auf einzigartige Art und Weise – von der Theologie beschrieben und beurteilt werden können, ganz im Sinne einer substantiell bestimmten und zugleich funktional relevanten Wirklichkeitswissenschaft.
Für die Lösung im interdisziplinären „Forschungsdrama“ der Theologie bietet sich nun der Ausblick auf zahllose Analysen der diversen Kontexte und Praktiken der KI Entwicklung und Anwendung, derer da legion sind. Offen bleibt indes, welche Veränderungen oder Ergänzungen im Theotop stattfinden sollten, damit das Fach, respektive die theologischen Fächer in Breite und relevanter Zahl ihren „Lebensraum“ in skizzierter Manier erweitern (sofern dies gewünscht ist – die Frage steht in meiner Wahrnehmung durchaus offen im Raum).
4. Ctrl_alt_reform – Theologie als hermeneutische Wirklichkeitswissenschaft
Es liegt auf der Hand, dass an dieser Stelle nur sehr eingeschränkt und themenspezifisch in exemplarischer Funktion Impulse an eine als hermeneutische Wirklichkeitswissenschaft verstehende Theologie ergehen können. Die Überlegungen von Saskia Wendel zu einer zukunftsfähigen Theologie und die Erfahrungen im Feld der interdisziplinären KI Forschung bilden den Hintergrund für die nachfolgenden thesenartigen Überlegungen, welche auf vier Ebenen anzusiedeln sind.
Erstens ist mit Wendel zu fragen, welche impliziten Leitdisziplinen die Theologie in ihrem Selbstverständnis zentrieren[39]. Im Wissen, dass kein homogenes statisches Fachverständnis für die Theologie gibt und geben kann, ist doch festzustellen, dass manche Fächer aus dem Tableau theologischer Fächer verschwunden bzw. in andere benachbarte Disziplinen abgewandert sind. So finden sich Religionssoziologie und Religionspsychologie in keiner theologischen Fakultät in Deutschland[40], obwohl gerade diese Disziplinen dringend benötigte Brücken[41] darstellen könnten. Wie die Religionspädagogik nehmen die genannten Teilfächer in theologischen Fächerkanon eine gewisse Gegenüber-Stellung zu den klassischen Fächern dar. Dies macht sie mitunter herausfordernd – zugleich würden sie aber Robustheit und Anschlussfähigkeit im Theotop fördern. Dieser Anspruch wäre unter anderem durch eine fundamentale Weitung von Forschungsparadigmen und des methodischen Repertoires einzulösen – dies ist der zweite Impuls der an die Theologie ergeht. International, aber insbesondere in Deutschland hinkt die Theologie markant hinterher, wenn es darum geht, neue Möglichkeitsräume über die computationellen Verfahren der Digital Humanities fachspezifisch zu erschließen. Es ist im Grund nur schwer nachvollziehbar, dass ein Fach, für das Texte zentral stehen, das für sich (zurecht!) allergrößte Expertise im Umgang mit Text und Sprache beansprucht, hier so weit ins Hintertreffen geraten könnte. Positiv gewendet ist festzustellen, dass in unseren Forschungsgegenständen noch zahlreiche ungeborgene Schätze liegen, die wir mithilfe automatisierter Verfahren bergen können. Dass dafür ein differenziertes Grundverständnis der Technologie sowie eine technisch-instrumentelle Anwendungskompetenz erforderlich sind, ist klar. Die sich eröffnenden Möglichkeitsräume dürften aber jede Anstrengung und Reform (ggf. auch der theologischen Ausbildung) wert sein. In nuce werden mit den skizzierten Impulsen, drittens neue Forschungsgegenstände und Funktionen Eingang in die theologische Forschung aller Fächer finden. Diese erweitern das klassische Feld im Sinne eines Spielbeins, das Neues erschließt und dabei das Althergebrachte in Bewegung bringt. Der vierte Impuls ist im operativen Geschäft des Wissenschaftsdiskurs und der Wissenschaftskommunikation angesiedelt. Theologische Sprache ist nicht nur aufgrund ihrer Forschungsgegenstände für andere Fächer schwer verständlich. Unsere Sprache ist im gesprochenen wie geschriebenen Wort oft unnötig kompliziert, redundant und verklausuliert, was gerade für Fächer außerhalb der Geisteswissenschaften eine exklusivistische Wirkung hat. Hinzu kommt, dass theologische Publikationen erst allmählich open acces oder an interdisziplinären Publikationsorten verfügbar sind.
Wenn wir Theolog:innen nur auf manchen der genannten Ebenen beweglich werden, bin ich der Überzeugung, dass wir keine Theolo:KI brauchen, denn im Kern sind wir längst ein Theologie, that matters.
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https://doi.org/10.15496/publikation-99793
Birte Platow ist Professorin für Religionspädagogik am Institut für evangelische Theologie der TU Dresden und leitet den Forschungsbereich „Responsable AI“ des Kompetenzzentrums KI „ScaDS.AI“ Dresden.Leipzig.
[1] Natürlich gab es schon zahlreiche Forschungen zur Digitalisierung, Digitalität und Virtualität (exemplarisch sei auf die Arbeiten von Ilona Nord und Manfred Pirner verwiesen). Allerdings gibt es erst seit etwa 2022 theologische Forschungsarbeiten zu KI als treibende Technologie hinter den Phänomenen. (etwa die Arbeiten von Anna Puzio, Lukas Brandt u.a.)
[2] Siehe https://www.dsi.uzh.ch/de.html
[3] In der BRD gibt es KI Zentren, die vom BMBF und dem jeweiligen Bundesland gefördert sind. Seit 2021 ist die Förderung verstetigt und der Zentrumsstatus etabliert. Die Autorin ist Mitglied im Vorstand, Leiterin des Forschungsbereichs Responsible AI und Principal Investigator bei ScaDS.AI (https://scads.ai) der TU Dresden und Universität Leipzig.
[4] Pfleiderer, Georg (1992): Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler. Tübingen.
[5] Im Rahmen der Funktionen im KI Zentrum ist die Autorin in beratender Funktion im sächsischen Justizministerium und der Staatskanzlei eingebunden (2024 hat Sachsen als erstes Bundesland einen Beirat für digitale Ethik auf Landesebene per Kabinettsbeschluss eingerichtet)
[6] Die Autorin berät im Kulturministerium und Landesamt für Schule und Bildung zu Schulentwicklung und Ausbildung
[7] Zahlreiche Fortbildungen und Beratungen in den Bereichen Pflege, Medizin und Industrie wurden von der Autorin wahrgenommen.
[8] Die interdisziplinäre und kooperative Forschung am KI Zentrum ScaDS.AI manifestiert sich aktuell in einem interdiszplinär verantworteten Zertifikatskurs zu Responsible AI. Aufbau und Leitung liegen bei der Autorin.
[9] Im internationalen Vergleich ist die Theologie in der BRD weiter traditionell geprägt und (noch) gut etabliert. Gleichwohl gerät sie im Sog gesellschaftlichen Wandels und sinkender Studierendenzahlen zunehmend unter Legitimationsdruck.
[10] Graf, Friedrich Wilhelm: Tumult im Theotop. Akademische Theologie in der Krise, in: FAZ, 21.02.2008.
[11] Saskia Wendel an diesem Ort im Mai 2024; https://www.feinschwarz.net/welche-theologie-hat-zukunft/
[12] Katholischerseits ist hier an das „Nihil obstat“ zu denken, auf evangelischer Seite ist begrifflich nicht festgelegt auch eine Form des Placet einzuholen. Weiter ist festzustellen, dass das Konkordat bzw. Staatskirchenverträge an so manchem Ort die Schließung von theologischen Instituten und Fakultäten verhindern. Dieser Schutz wird von anderen Fächern, die dieses Privileg nicht haben, aus nachvollziehbaren Gründen kritisiert.
[13] Saskia Wendel an diesem Ort im Mai 2024; https://www.feinschwarz.net/welche-theologie-hat-zukunft/
[14] Statistische Erhebungen belegen, dass die Mitgliedszahlen beider Kirchen markant und stabil im Sinkflug sind und die Mehrheit der Gesellschaft bereits heute keine kirchliche Bindung aufweist. Vgl. https://fowid.de/meldung/kirchenmitglieder-47%2C45-prozent
[15] Hier ist an Erkenntnisse, (Produkt-)Entwicklungen aber auch auf der Metaebene am Reflexion und Kritik zu denken.
[16] Hierin sieht Wendel keine gute Absicherung, weil funktionale, berufsqualifizierende Ausbildung auch an eigenen Ausbildungsstätten (wie biblical colleges in den USA) stattfinden könnten. Hier wäre m.E. zu bedenken, dass dies zunächst nur für das Pfarramt gilt. Die zahlenmäßig deutlich größere Gruppe der Lehramtsstudierenden müsste weiter an den Universitäten bleiben, da in der Regel mehr als ein Schulfach zu studieren ist.
[17] Saskia Wendel an diesem Ort im Mai 2024; https://www.feinschwarz.net/welche-theologie-hat-zukunft/
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Bekanntlich besteht das klassischee Drama aus Exposition, erregendes Moment, Höhepunkt, retardierendes Moment, Lösung
[23] Man bezog sich auf meine Forschung als Fellow in Zürich, die sich mit „Anthropologische(n) Übertragungen als Konstitutivum menschlicher KI Wahrnehmung“ befasste.
[24] Die Antworten waren an dieser Stelle natürlich differenzierter. Unter „Technik“ sind Machine Learning, Foundation Models, Symbolic AI, Mathematische Grundlagen u.a. metaphorisch subsumiert. Die Aussage „kein Menschenbild“ zu haben, gab es indes wortgleich mehrfach.
[25] Im Austausch manifestierte sich eine Reihe an Menschenbildern: DAU (dumbest assumable user als risikorelevante Arbeitshypothese, Wetware (zwischen Hard- und Software), bias donner und user. Alle bestätigen in verschiedenen Facetten meine Vorannahmen zur Annahme eines im Vergleich zu Maschine defizitären Menschen, den es in verschiedener Form zu kompensieren gilt.
[26] Man denke an Lessings Gedanken zum historischen Graben zwischen biblischer und gegenwärtiger Welt.
[27] Die Verständigungssprache ist Englisch, was für die in der Regel deutsche Theologie eine erste Hürde darstellt. Weitere Hürden liegen auf den Ebenen der Semantik und Syntax (siehe dazu Abschnitt 4 in diesem Text).
[28] Vgl. Abschnitt 4 in diesem Text
[29] Als vergleichsweise junge Disziplin findet sich die Informatik im Sog von KI, die sie von einer Hilfswissenschaft (wechselweise der Mathematik, Kognitionswissenschaft und strukturalistischen Linguistik) im Abschluss eines Emanzipationsprozesses (vgl. Rudolf Seising (Hg.): Geschichten der Künstlichen Intelligenz in der Bundesrepublik Deutschland. https://d-nb.info/1315977907/34) . Herausforderungen liegen aber auch in der Klärung epistemischer Bestimmungen, wenn KI selbst zur Forscherin wird. So bringen Foundation Models durch Modellanwendungen und Modifizierungen inzwischen selbst Forschungsergebnisse hervor (etwa in der Proteinfaltung), die menschliche Forschende nachvollziehen.
[30] Hermeneutische Analysen zu Kernbeständen der Theologie stünden auch im Feld von KI an – etwa zu ihren Narrativen, Erzähltraditionen und Tradierungsstrategien, Ritenbildung und Institutionalisierungsprozessen, hinzu kommen zahlreiche Forschungsfragen im Umgang mit Text im Kontext von Large Language Models, die die Theologie als Textwissenschaft mit besonderen Perspektiven bearbeiten kann.
[31] Richtete sich meine Forschung zu nächst exklusiv an religiös konnotierten anthropologischen Fragestellungen im Kontext von KI aus, musste ich feststellen, dass dieser Zugang zu „eng“ war. So stellen sich die Technologie und die Praktiken in ihrem Umfeld als ein quasireligiöses System dar, in dem es viele weitere Phänomene und komplexe Konstellationen zu beschreiben und analysieren gilt.
[32] KI soziotechnisches System, Ethics by design
[33] Es zeigte sich, dass Technik-Wissen und der Zugriff über eine deskriptive Ethik besondere Eignung aufweisen.
[34] KI gestützte muster- und sprachanalytische Verfahren eröffnen auch für die Theologie ganz neue Forschungsmöglichkeiten, siehe unter 4.
[35] Bei Wendel eine „Hoffnung, die trägt“.
[36] Natürlich sind hier weitere Differenzierungen geboten, etwa die Unterscheidung von LLMs, foundation models, ML oder Symbolic AI. Sie seien hier jedoch nur genannt, da die technische Unterscheidung an dieser Stelle zweitrangig ist. Zwar zeichnen sich die genannten Zugriffe in technischer Hinsicht markant, in Bezug auf ihre epistemischen Grundlagen fallen sie jedoch in dasselbe, solutionistische Paradigma.
[37] Interessant freilich, dass die Reihenfolge variieren kann, und das manchmal das Problem erst durch die Lösung identifiziert oder überhaupt erst manifest wird. (Vgl, Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, Bonn).
[38] Exemplarisch sei auf die häufige Annahme verwiesen, dass mit besserer Datenanalyse sich Lösungen für den Klimawandel ergäben.
[39] Kirche(ntheorie) auf dem Prüfstand – praktisch-theologische und religionspädagogische Perspektiven im Gespräch, so lautete das Thema der WGTh Jahreskonferenz 2023, eine gleichnamige Publikation ist in Vorbereitung und verweist auf das Problembewusstsein, dass es möglicherweise einer Neuorientierung bedarf.
[40] Dies war in der Vergangenheit durchaus anders.
[41] Methodisches Repertoire, Anschluss an Gesellschaft und andere Fächer (weit über platte Empirie hinaus)