Der finale Countdown für die Vorbereitungen des großen Reformationsjubiläums läuft. Erwartungen und Neugierde sind entsprechend groß. Der Kirchenhistoriker Bernward Schmidt blickt voraus, indem er zurückblickt: Was geschah eigentlich im Vorjahr der Reformation? Stichtag: 31. Oktober 1516.
Der 31. Oktober 1517 bietet den Anlass für eine der größten kirchlich-staatlichen Feiern in der deutschen Geschichte. Natürlich sind mit diesem Datum untrennbar Luthers Thesen zum Ablass verbunden, die er an diesem Tag an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg schickte. Auch wenn er für manche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zur protestantischen Identität gehören mag – ein „Thesenanschlag“ ist historisch nicht nachweisbar und scheint wenig plausibel. Doch birgt die Fixierung auf ein Datum die Gefahr von Scheuklappen. Daher scheint es sinnvoll, einmal einen Blick in das „Jahr davor“ zu werfen und zu fragen, was Luther und seine Kirche eigentlich 1516 taten.
Mit einer Prise Ironie schrieb Luther am 26. Oktober 1516 an seinen Studienfreund Johannes Lang (1487-1548): „Ich bin Klosterprediger, Prediger bei Tisch, täglich werde ich auch als Pfarrprediger verlangt; ich bin Studien-Rektor und Vikar, das heißt ich bin elfmal Prior, Fischempfänger in Leitzkau, Rechtsanwalt der Herzberger Mönche in Torgau; ich halte Vorlesungen über Paulus und sammle Material über die Psalmen. Und am meisten meiner Zeit raubt das Briefeschreiben. Selten ist genug Zeit, das Stundengebet zu verrichten, einmal ganz abgesehen von den Versuchungen des Fleisches, der Welt und des Teufels. Du siehst, wie faul ich bin.“ Einen Tag später begann er mit Vorlesungen über den Brief des Paulus an die Galater, womit er noch einmal das paulinische Gottes- und Menschenbild und insbesondere die Gnadenlehre des Apostels zu durchdenken hatte.
Erasmus von Rotterdam schafft ein Novum instrumentum: eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments – vollständig auf griechisch.
Luthers akademische Tätigkeit war bekanntlich stark von der Auslegung der Bibel geprägt. Vor diesem Hintergrund nahm er auch mit großem Interesse eine der wesentlichen theologischen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt wahr. Der berühmte Gelehrte Erasmus von Rotterdam (1466-1536) hatte mit seinem Novum instrumentum eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments geschaffen, die erstmals den griechischen Text vollständig im Druck bot. Der kritische Apparat, der auf Erasmus̕ Beschäftigung mit einer Reihe von Handschriften zurückging, mochte von ihm selbst nur als Begründung und Plausibilisierung seiner Überarbeitung der lateinischen Übersetzung der Vulgata gedacht gewesen sein. Heute würde man an diesem Punkt, nicht in dem bearbeiteten lateinischen Text die eigentliche Leistung des Erasmus sehen. Von Kaiser Maximilian konnte Erasmus ein Exklusivprivileg erwirken: Für einen Zeitraum von vier Jahren sollte kein anderer Text des Neuen Testaments in das Reich eingeführt werden. Damit war einem Konkurrenzprodukt aus Spanien, der sog. Complutenser Polyglotte, die von Kardinal Francisco Jiménez de Cisneros (1436-1517) initiiert und finanziert worden war, der Weg in die Öffentlichkeit weitgehend verbaut. Erst 1520 kam sie aus dem Druck, Erasmus arbeitete sie in die dritte Auflage (1522) seiner Edition ein. Wirkungsgeschichtlich bedeutsamer wurde allerdings Erasmus̕ zweite Auflage von 1519: Auf ihr sollte Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments beruhen (1522).
Im Herbst 1516 war man noch nicht so weit. Luther hatte das Novum instrumentum mitsamt den erläuternden Anmerkungen des Erasmus studiert und war unzufrieden. Seine Kritik zielte nicht auf die Übersetzung, sondern auf die Paulusexegese: Erasmus beziehe die von Paulus verurteilte „Werkgerechtigkeit“ lediglich auf Kultvorschriften und lasse generell zu viel Raum für menschliche Freiheit. Doch fielen nicht auch Werke nach dem Dekalog unter die „Werkgerechtigkeit“? Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus verweist damit schon auf den größeren Schlagabtausch der 1520er Jahre.
Nur am Rande kann hier erwähnt werden, dass auch ein anderer künftiger Gegner Luthers im Jahr 1516 ein bemerkenswertes Buch herausbrachte – übrigens auf Betreiben des Erasmus: Der englische Jurist Thomas More (1478-1535) entwarf in seinem philosophischen Dialog Utopia das Bild einer idealen Gesellschaft. Nach der Löwener Erstausgabe erschienen weitere in Paris (1517) und in Basel (1518) bei Erasmus̕ Verleger Johann Froben. Eine auszugsweise deutsche Übersetzung wurde erst 1524 gedruckt.
Leo X. und das Fünfte Laterankonzil bekräftigen die päpstliche Autorität.
In Rom regierte bereits Leo X. als Papst (1513-21), der von seinem Vorgänger Julius II. (1503-13) das Fünfte Laterankonzil „geerbt“ hatte. Ursprünglich war dieses Konzil einberufen worden, um das in Pisa tagende „Konzilchen“ (conciliabulum) aus einigen Kardinälen und Bischöfen, das Julius II. mit Absetzung bedrohte, zu delegitimieren. Während das Konzil unter Julius II. eine Politik der scharfen Verurteilungen betrieben hatte, ermöglichte Leo X. den Teilnehmern des Pisaner conciliabulum die Rückkehr in die Gemeinschaft mit dem Papst, wobei insbesondere den Kardinälen demütigende Bußriten auferlegt wurden. Auch die politischen Konstellationen ließen sich zum Vorteil des Papsttums wandeln, so dass im August ein Konkordat mit Frankreich abgeschlossen werden konnte, das am 19. Dezember vom Konzil ratifiziert wurde.
Doch die Grundfrage – ein Erbe des 15. Jahrhunderts – blieb: Konnte sich ein Konzil legitimerweise dazu aufschwingen, gegen den Papst zu agieren oder ihn gar abzusetzen? Aus diesem Grund wurde das Konkordat von der päpstlichen Bulle Pastor aeternus begleitet, die ebenfalls die Zustimmung des Konzils erhielt. Das Ziel dieser Bulle ist eindeutig: den Papst als unanfechtbare oberste Autorität der Kirche zu bekräftigen. Der Gehorsam gegenüber dem Papst wird aus der Geschichte und den Schriften der Kirchenväter begründet und wird – ganz in der hochmittelalterlichen Tradition – als heilsnotwendig bezeichnet. Wer daher die Position vertritt, ein Konzil sei dem Papst übergeordnet, mache sich mindestens der Majestätsbeleidigung schuldig und werde entsprechend bestraft. Der theologische Kopf des Konzils, der auch hinter der papalistischen Konzeption von Pastor aeternus steckte, war der hochgelehrte Ordensgeneral der Dominikaner, Thomas de Vio, genannt Cajetan (1469-1534). Dass er in Martin Luther bei ihrer Begegnung in Augsburg 1518 einen verkappten Konziliaristen sah, der die päpstliche Autorität nicht anerkennen wolle, hatte seinen Grund sicherlich in Cajetans besonderer Sensibilität für derartige Fragen aus der Zeit des Fünften Laterankonzils.
Dass dieses Konzil unter Leo X. eine durchaus beachtliche Reformgesetzgebung auf den Weg brachte – angefangen bei einer Kurienreform, die beim Verhalten der Kurialen ansetzte, über Richtlinien zur Predigt und den Status von Ordensleuten in der diözesanen Struktur bis hin zu Fragen nach Darlehenszinsen und dem Buchdruck – ging vor allem in den deutschen Landen unter. An eine Umsetzung oder auch nur ernsthafte Wahrnehmung war nach 1518 kaum mehr zu denken, da die reformatorische Kritik viel fundamentaler war.
Luther beschäftigt sich mit dem Mystiker Johannes Tauler.
Doch zurück zum vielbeschäftigten Doktor Luther in Wittenberg. Dieser beschäftigte sich nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit den Schriften spätmittelalterlicher Mystiker, insbesondere denen Johannes Taulers (um 1300 – 1361). Dessen Predigten hatte Luther Anfang 1516 gelesen und mit Randbemerkungen versehen. Die spätmittelalterliche Mystik mit ihrer Betonung einer unmittelbaren Beziehung zwischen Gott und Mensch verband sich in dieser Zeit mit der augustinischen Theologie Luthers – und konnte so zu einer Alternative zu den Strömungen der Scholastik werden. Im Dezember 1516 brachte Luther ein mit Taulers Predigten verwandtes Werk heraus und versah es mit einem Vorwort: die um 1400 entstandene Theologia Teutsch des (ansonsten unbekannten) „Frankfurters“. Im April 1517 publizierte Luther eine Auslegung der sieben Bußpsalmen, wohl ein Ergebnis seiner Vorlesung an der Universität. Mit diesen Schriften trat Luther zuallererst als geistlicher Schriftsteller in Erscheinung, der grundlegende Fragen der Frömmigkeit aufgriff und dabei keineswegs völlig neue Wege beschritt. Er wandte sich ausdrücklich an die, denen der Kauf von Ablassbriefen zu einfach und unbefriedigend schien; diejenigen, die ihre Gottesbeziehung vertiefen wollten. Einen ersten Schritt dazu konnte das Wissen um die eigene Sündigkeit und die Abhängigkeit von der von Gott geschenkten Gnade sein. In diesem Sinne predigte auch Luthers Mentor Johann von Staupitz (um 1465 – 1524) im Advent 1516 und in diesem Sinne sind auch Luthers Ablassthesen von 1517 sowie der Sermo von Ablass und Gnade (1518) gehalten.
Das „Markenzeichen“ Kirchenkritik wird erkennbar.
Staupitz, den der sächsische Kurfürst gern als Bischof gesehen hätte, sollte dieses Amt nach Luthers Meinung besser nicht übernehmen: „Bischof zu sein, das heißt, in Schwelgerei, Sodomiterei und nach römischer Weise zu leben“, schrieb er dem Kurfürsten im Juni 1516. Die Kirchenkritik, die neben der mystisch-augustinisch geprägten Theologie ein „Markenzeichen“ des Reformators Luther werden sollte, ist hier schon erkennbar.
Kontakt zu Christoph Scheurl, Prior Wenzeslaus Linck, Willibald Pirckheimer und Johannes Eck
Zu Beginn des Jahres 1517 meldete sich dann ein früherer Kollege von der Wittenberger Universität bei Luther: Christoph Scheurl (1481-1542), inzwischen als Jurist für den Nürnberger Stadtrat tätig und ebenfalls ein Verehrer von Staupitz, sollte mithelfen, Nürnberg zu einer Art Kommunikationszentrale der frühen Reformationsgeschichte zu machen. Dort lebten nämlich auch Luthers Freund und ehemaliger Prior Wenzeslaus Linck (1483-1547) und der bestens vernetzte Humanist Willibald Pirckheimer (1470-1530). Über Scheurl bekam Luther zugleich Kontakt zu Johannes Eck (1486-1543), dem berühmten Theologen der Universität Ingolstadt; beide versicherten einander zunächst ihrer großen Wertschätzung. Erst Ecks vertrauliche, aus Eichstätt über Nürnberg durchgestochene Kommentare zu Luthers Ablassthesen ließen das Verhältnis abkühlen – bis zur scharfen Gegnerschaft.
Einer fehlt noch: Am 22. Januar 1517 wurde Johannes Tetzel (um 1460 – 1519) zum Generalsubkommissar für den Ablassvertrieb im Bistum Magdeburg bestimmt. Seine Ablasskampagne erregte Luthers Aufmerksamkeit und prononcierte Kritik – womit wir beim 31. Oktober 1517 angekommen wären, und in gewisser Weise schon im neuen Jahr.
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Bernward Schmidt ist Juniorprofessor für Kirchengeschichte und Europäische Identitätsbildung am Institut für Katholische Theologie der RWTH Aachen University. Zurzeit vertritt er den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster.