Ein Erlebnisbericht von Frida Mausehund, Luisa Schnitker und Lia Schüler (Schülerinnen der 8. Klasse des Engelsburg-Gymnasiums in Kassel), gerahmt und ergänzt in Kursivschrift von Annegret Reese-Schnitker.
Am Engelsburg-Gymnasium in Kassel gibt es in allen 8. Jahrgängen eine besondere erlebnis- und reformpädagogisch ausgestaltete Fahrt: 12 Projekttage außerschulischen Lebens und Lernens. Jede Klasse fährt zu einem nahe gelegenen Gut, in dem die Schüler*innen für zwei Wochen gemeinsam leben, lernen und ihre Freizeit verbringen, ohne medialen Kontakt zu ihren Eltern und Familien, ohne Handy und Fernsehen. Die tragende Idee des Projektes ist es, außerhalb der schulischen festen 45-minütigen Rhythmen den Jugendlichen eine neue, ganzheitlichere Erfahrung des fachlichen Lernens zu ermöglichen und durch die vorgegebene Selbstverantwortung bei der eigenen Versorgung grundlegende Kompetenzen des Miteinanders und des sozialen Zusammenlebens zu stärken. Drei Schülerinnen berichten hier von ihren konkreten Erfahrungen.
Wir, Lia Schüler (14 Jahre), Frida Mausehund (12 Jahre) und Luisa Schnitker (13 Jahre), sind gute Freundinnen, verbringen in der Freizeit viel Zeit miteinander und gehen gemeinsam in die 8. Klasse des Engelsburggymnasiums. Vom 9. bis zum 21. September 2024 waren wir mit unserer Klasse und unseren Klassenlehrer*innen auf dem Gut Kragenhof. Wir hatten vorher nur wenige Informationen, wussten, dass wir keine Handys mitnehmen dürfen, selbst kochen müssen und mit dem eigenen Fahrrad in der Gruppe von der Schule dort hinfahren sollten (unsere Koffer wurden transportiert).
Gemischte Gefühle: Was erwartete uns vor Ort?
Vor der Fahrt hatten wir gemischte Gefühle, da wir uns natürlich auf die Zeit mit unserer Klasse freuten. Allerdings hatten wir auch Bedenken, da wir unser Handy nicht mitnehmen durften und 12 Tage lang als Klasse für uns selbst sorgen, kochen und putzen mussten. Natürlich waren wir auch sehr aufgeregt und etwas unsicher: Was erwartete uns vor Ort? Wie würde es uns gefallen? Und würden wir uns mit der Klasse wohl fühlen? Aber nachdem wir uns in der Schule getroffen, uns von den Eltern verabschiedet und mit unseren Fahrrädern gemeinsam losgefahren sind, war die Unsicherheit weg und es war nur noch Vorfreude da.
12 Kilometer lang war die Fahrt – anstrengend, aber wir hatten trotzdem Spaß. Das Gut Kragenhof liegt in einer Fuldaschleife außerhalb eines kleinen Ortes, sehr schön gelegen direkt am Fluss und mitten im Grünen. Zuerst haben wir das Gelände rund um das Gut erkundet. Wir hatten eine große Rasenfläche mit Hängematten, einem Volleyballfeld und einem Ufer zur Fulda. Es gab einen gemütlichen Aufenthaltsraum, einen großen Speisesaal und Zimmer verteilt auf mehreren Fluren.
Workshops am späten Nachmittag
Ein normaler Tag war zeitlich streng durchgetaktet und sah wie folgt aus:
Morgens sind wir um 6 Uhr aufgestanden und haben uns für den Frühsport fertiggemacht. Jeden Tag, außer am Wochenende, gab es 15 Minuten angeleitete sportliche Übungen zum Munterwerden. Weil es draußen eiskalt war und wir noch müde waren, fanden wir das alles furchtbar. Danach gab es Frühstück, das wechselnd von einer Gruppe von Schüler*innen vorbereitet wurde. Während eine Gruppe am Vormittag dann das Mittagessen kochte, hatten die anderen Unterricht. Nach dem Mittagessen hatten wir Freizeit und konnten zum Beispiel Gesellschaftsspiele spielen, Ketten selbst gestalten oder auch das Klavier nutzen, das in unserem Aufenthaltsraum stand. Am späten Nachmittag fanden die Workshops statt, zu denen man sich für die gesamte Zeit anmelden musste und die praktisch und handwerklich ausgerichtet waren. Für uns wurde angeboten eine Holzwerkstatt, in der man Balancierboards herstellte, einen Theaterworkshop, in dem wir uns schauspielerisch ausprobieren konnten, und einen Siebdruckworkshop, bei dem Shirts und Taschen bunt bedruckt wurden. Anschließend hatten wir wieder Freizeit bis zum Abendessen um 18.30 Uhr, für dessen Zubereitung erneut eine Gruppe von Schüler*innen verantwortlich war. Nach dem Abendessen haben wir uns die Zeit bis zum Silentium mit Spielen überbrückt.
Jeden Tag von 21 Uhr bis 21.30 Uhr waren wir gemeinsam still.
Jeden Tag von 21 Uhr bis 21.30 Uhr sind wir alle im Aufenthaltsraum zusammengekommen und waren gemeinsam still. Einige von uns haben in dieser Stille Tagebuch oder Briefe an die Eltern oder an Freund*innen geschrieben, andere haben Armbänder gebastelt, wieder andere sich einfach ausgeruht. Anschließend ging es ins Bett und es war Nachtruhe ab 22 Uhr.
Das Silentium hat vielen gut gefallen. Es war eine Zeit, in der man Ruhe hatte und für sich war, neben all dem Trubel am Tag. Die 30 Minuten gingen sehr schnell vorbei – die Zeit war eigentlich zu kurz.
Einige Elemente eines einfachen, naturverbundenen und spirituellen Lebens
Teil des Projektes ist es, den Schüler*innen einen neuen, ungewohnten und durchgeplanten Tagesablauf vorzugeben, der einige Elemente eines einfachen, naturverbundenen und spirituellen Lebens aufgreift (Frühsport in der Natur, regelmäßige gemeinsame Stille- und Meditationszeiten) und dem Miteinander (gemeinsame Aktivitäten), dem Füreinander (eigene Versorgung) und der Gemeinschaft einen hohen (nicht nur) zeitlichen Stellenwert zuweist. Damit sollen den Jugendlichen vermutlich Kontrasterfahrungen zu ihrem im 21. Jahrhundert stark medial dominierten Alltagsleben ermöglicht werden. Das zeigt sich auch beim Blick auf den dort stattfindenden Unterricht:
Auf der Homepage unserer Schule steht: Auf dem Kragenhof soll anders unterrichtet werden: handlungsorientiert, ohne Stundentaktung und mit vielen Gestaltungsfreiräumen. Unsere verschiedenen Fachlehrer*innen sind für einen gesamten Vormittag zu uns auf das Gut gekommen. Unser Geografie-Lehrer war mit uns draußen im Wald und wir haben uns die Natur und die Vegetation angeschaut und untersucht. In Physik haben wir aus Papier Raketen gebaut und diese draußen fliegen lassen. Mit unserem Chemielehrer haben wir verschiedene Experimente gemacht, z.B. haben wir Cola zusammengemischt, die hinterher ziemlich eklig geschmeckt hat. Wir haben in Englisch über den Nine-Eleven-Anschlag gesprochen und uns dazu einen Film angeschaut. In Sport haben wir Capture the flag im Wald gespielt – das war sehr lustig! An zwei Tagen haben wir auch in der Klasse gruppendynamische Spiele gemacht, die unsere Klassengemeinschaft stärken sollten.
Ein Gottesdienst in der Gemeinde vor Ort
Am Sonntag haben wir in der Gemeinde vor Ort einen Gottesdienst gefeiert, den wir vorher zum Thema Familie und Freundschaft eigenständig mit unserer Religionslehrerin vorbereitet hatten. Einige von uns haben Lieder ausgesucht, andere Gebete geschrieben und vorgelesen. Wieder andere haben die biblischen Texte herausgesucht und dann beim Gottesdienst vorgetragen. Eine kleine Gruppe hat durch den Gottesdienst geführt und moderiert und einige waren für die Dekoration verantwortlich.
Am letzten Tag gab es ein offenes Frühstück und danach mussten wir unsere Koffer packen. Die gemeinsame Zeit in der Klasse ging dem Ende entgegen. Wir mussten das Haus aufräumen und alles sauber machen. Als alles fertig aufgeräumt und verstaut war, haben wir für die ganze Klasse Pizza bestellt und gemeinsam unser letztes Essen im Hof eingenommen. Unsere Eltern durften ab 14 Uhr zum Abholen kommen. Wir haben uns sehr auf das Wiedersehen gefreut und ihnen das Gut Kragenhof gezeigt, wo wir geschlafen, gegessen und die gemeinsame Zeit verbracht haben. Und wir haben ihnen vorgestellt, was wir in den praktischen Workshops gestaltet und erarbeitet haben.
Eine tolle Erfahrung und eine sehr schöne Zeit
Nach der Fahrt und zurück im (Schul)Alltag können wir sagen, dass es eine tolle Erfahrung und eine sehr schöne Zeit war. Unsere Klasse ist mehr zusammengewachsen und wir verstehen uns untereinander viel besser als vorher. Vor allem haben uns die gemeinsamen Spiele, das gemeinsame Essen, die gemeinsamen Partys am Abend, das gemeinsame Musikhören, der Filmabend und die gemeinsam verbrachte Zeit gefallen.
Natürlich haben wir unsere Eltern und unsere Geschwister vermisst, aber so richtig Heimweh hatten wir nicht. Es war eine sehr gute Erfahrung mal allein und für sich zu sein. Viele von uns, auch wir drei, hatten durch die Möglichkeit, sich Briefe zu schreiben, regelmäßig Kontakt zu den Eltern. So wussten wir immer auch, was zuhause los war.
… dass es gar nicht schlimm war ohne Handy.
Im Nachhinein können wir sogar sagen, dass es gar nicht schlimm war ohne Handy. Wir haben nichts vermisst! Wir hatten einen MP3-Player dabei, konnten gemeinsam Musik hören und hatten auch einen gemütlichen Filmabend.
12 Tage mit der Klasse zu verbringen, war wirklich cool, aber auch anstrengend, denn es war immer etwas los!
Das Miteinander und die erlebte Gemeinschaft … haben offensichtlich deutliche Spuren hinterlassen.
Das Resümee der Mädchen zeigt, dass das Miteinander und die erlebte Gemeinschaft in unterschiedlichen Aktivitäten bei den Schüler*innen offensichtlich deutliche Spuren hinterlassen haben. Im Zentrum dieser Tage stand der gemeinsam gestaltete und verantwortete Alltag, der durchaus auch als Herausforderung wahrgenommen und als anstrengend beschrieben wurde. Der Verzicht auf das Handy wurde zunächst als ungewohnt und seltsam erlebt, hatte aber mit der Zeit keine Bedeutung mehr. Die Erfahrung, dass ein Leben ohne Handy und ohne ständige Erreichbarkeit einen eigenen Wert hat, ist sicherlich gelungen. Die einzelnen (spirituellen) Verpflichtungen (Silentium, Frühsport, Gottesdienst) und Angebote wurden von den Schüler*innen selbstverständlich genutzt. Ob diese bei einigen Schüler*innen auch Spuren hinterlassen haben, nachhaltig sind und für das eigene zukünftige Leben relevant, bleibt eine offene Frage.
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Frida Mausehund, Luisa Schnitker und Lia Schüler sind Schülerinnen der 8. Klasse des Engelsburg-Gymnasiums in Kassel.
Foto: privat
Annegret Reese-Schnitker ist Professorin für Religionspädagogik an der Universität in Kassel.
Foto: Yvonne Thöne
Beitragsbild: Privat