Theologie als Wissenschaft hat ihren interdisziplinären Nachholbedarf erkannt, denkt man. Sarah Marie Neumann fragt, was dann die Abwertung derjenigen soll, die von Anfang an mehrere Fachexpertisen zu verbinden suchen.
Beginnen wir in einem schicken Tagungsraum voller etablierter Professor:innen der Praktischen Theologie, arrivierte Wissenschaftler:innen und Doktorand:innen, die sich im Tagungs-U gegenübersitzen. Dass sich die Professor:innen mit langen, bereits tausendfach erprobten Vorstellungstexten selbst anmoderieren, ist eigentlich überflüssig, kennt doch das scheinbar ebenbürtige Publikum längst ihr Gesicht samt zugehörigem Werdegang. Das Unterfangen zielt eigentlich darauf ab, den Doktorand:innen am hinteren Ende der Tischreihen wenigstens ein Forschungsthema, eine Universität, besser aber noch bekannte Doktoreltern zuzuordnen, um gegebenenfalls Zugehörigkeiten festzustellen.
bekannte Doktoreltern
Das U präsentiert sich: Fakultäten in Tübingen, Hamburg, Göttingen – allesamt an Lehrstühlen der Praktischen Theologie. Nur ein Vorstellungstext weicht ab und der gehört leider zu mir: Ein Institut in Dresden, Religionspädagogik. Ein hörbares Schmunzeln geht durch den Raum, dann das Unvermeidbare „die Praktische sei ohne die Religionspädagogik eh nicht denkbar“, zustimmendes Gemurmel. Einige Huldigungen später öffnet sich der Abend zum lockeren Geplänkel am Stehtisch, wo bei Sekt und Canapés bisher festgestellte Zugehörigkeiten besprochen werden.
Religionspädagogik – ein hörbares Schmunzeln geht durch den Raum.
Eine dieser Gruppenspezifika erfülle ich nicht – ich bin keine Volltheologin. Etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es nicht bin, bis es im Rahmen solcher Tagungsrunden zum Gespräch gemacht wurde. Gruppen müssen einander über scheinbar zufällig gewählte, zur Norm etablierte Kategorien voneinander abgrenzen, identitätsstiftende Klassifikationen finden, die einzelne Subjekte erst zur Gruppe machen. Aus soziologischer Perspektive ein nachvollziehbarer Prozess der Gruppen- und letztlich auch Identitätsbildung des*der Einzelnen. Innerhalb einer vermeintlich einheitlichen wissenschaftlichen Disziplin nun aber noch Subgruppen zu etablieren, die sich nach dem Grad der akademischen Vollwertigkeit der Mitglieder unterscheiden, wirft bei mir persönlich aber mehr Fragen als Erkenntnisse auf. Was füllt bloß das Glas bis zur Volltheologie? Und womit hab ich mir bis zur Hälfte eingeschenkt?
Subgruppen nach dem Grad der akademischen Vollwertigkeit der Mitglieder.
Start der Erkenntnisgenese sollte wohl der Blick ins Studiensystem sein: Ein Studium der Evangelischen Theologie ist standortabhängig und abschlussspezifisch, eint aber den Wissenserwerb in Systematischer Theologie, exegetischen Studien im Ersten sowie Zweiten Testament, Kirchen- und Theologiegeschichte sowie Praktischer Theologie. Je nach Standort werden die fünf Teildisziplinen um Diakoniewissenschaften, Kunst- und Musikgeschichte, Genderwissenschaften oder Religionssoziologie erweitert. Magister, Staatsexamen und Masterstudiengänge bereiten dabei entweder auf ein Pfarr- beziehungsweise Lehramt oder eben das weite geisteswissenschaftliche Berufsfeld vor. Je nach Studienziel entscheidet sich, womit der Stundenplan fachlich gefüllt wird und welche altsprachlichen Zertifikate nötig sein werden, um den Studienerfolg zu garantieren. Was zeichnet also das volltheologische Studium aus? Das Graecum, das Hebraecum, Kenntnisse in Liturgie und Poimenik, auf deren Vermittlung der Studienablaufplan des Lehramts zugunsten einer weiteren Fachwissenschaft samt zugehöriger Didaktik, zudem Module in Psychologie und Erziehungswissenschaft verzichtet? Reicht das zum Alleinstellungsmerkmal und schließlich dafür, Absolvent:innen als theologisch weniger vollwertig zu bezeichnen?
Was zeichnet also das volltheologische Studium aus?
Das Problem daran ist nicht einmal, eine Unterscheidung zwischen dem Theologiestudium auf Magister beziehungsweise Pfarramt und anderen theologischen Studiengängen zu unternehmen – natürlich gehört der spezifische Wissenserwerb in anderen Disziplinen neben der Theologie zwangsläufig zu einem Lehramtsstudium dazu und logischerweise geht das zu Lasten einiger Fachinhalte der einzelnen Disziplinen. Allerdings wurde mir in der Germanistik noch nicht angekreidet, dass meine Kenntnisse in Mittelhochdeutsch stark limitiert sind. Problematisch ist die Wertung, die vorgenommen wird, wenn zwischen der Vollwertigkeit der Studienleistung der einzelnen Wissenschaftler:innen unterschieden wird. Die Zuschreibung gruppendefinierender Kategorien wird zum Urteil, letztlich zum Makel, denn die vorgewiesene Leistung ist innertheologisch eben nur als halbwertig markiert. Wenngleich während des Theologiestudiums, selbst in der abgespeckten Variante, die nötigen Kompetenzen vermittelt werden, die es braucht, um theologischen Fragen und Argumentationslogiken selbständig nachzugehen und möglicherweise auch gehaltvolle Antworten zu finden. Literaturstudium steht ebenso auf dem Tableau wie Spracherwerb; den Lehramtsanwärter:innen, Religionspädagog:innen und Geisteswissenschaftler:innen fehlt es vielleicht am spezifischen Fachwissen der einzelnen theologischen Teildisziplinen, nicht aber an vermittelten Kompetenzen, eben jene fachwissenschaftlichen Detailfragen im Nachgang zu klären – schließlich wird ein Großteil dieser Studierenden dazu befähigt, die Fragen später einmal zu erklären.
Makel: die vorgewiesene Leistung ist innertheologisch eben nur als halbwertig markiert.
Selbstverständlich bin ich dabei auf Wissenschaftler:innen angewiesen, die sich dezidiert einem theologischen Schwerpunkt zugewandt haben, ihr Wissen füllt Regalmeter, die ich gelesen habe, ich profitiere von Volltheolog:innen, dann aber eben auch von Vollsoziolog:innen, Volldidaktiker:innen, Vollgermanist:innen – und die Reihe lässt sich unendlich erweitern. Ich erweise all den Menschen, die in ihrer Disziplin schon einmal etwas gedacht und zu Papier gebracht haben, den nötigen Respekt, zitiere und rezipiere – ziehe meinen imaginären Hut vor der Leistung, unterschiedlichste Examina absolviert zu haben und überhaupt in der akademischen Welt bestehen zu können. Gleichzeitig schmälert dies in keiner Hinsicht meine Bewunderung für Menschen mit Abschlüssen in interdisziplinären Masterprogrammen oder sonst breit aufgestellten Studiengängen, au contraire: handelt es sich hier doch zwangsläufig immer auch um Personen, die gelernt haben, flexibel Fachgrenzen überwinden, dabei möglicherweise interdisziplinären Fragen nachzugehen und über einen Strauß diverser Forschungsinstrumente zu verfügen. Kein Gründe für Halbwertigkeiten.
…Volltheolog:innen, Vollsoziolog:innen, Volldidaktiker:innen, Vollgermanist:innen…
Eigentlich muss sich die Theologie mehr denn je der Forschungsmethoden anderer Disziplinen bedienen, um weiterhin diskurs- und anschlussfähig zu bleiben, um als Geisteswissenschaft Aussagen mit gesellschaftlicher Relevanz zu treffen, die beispielsweise Zusammenhänge zwischen Religion, Politik und Gesellschaft darstellen, die sich außerhalb der engen Grenzen der eigenen Disziplin bewegen und sich mitnichten durch exegetische Bemühungen beleuchten lassen. Würde sich dabei ein Zugriff auf die personellen Ressourcen intradisziplinär nicht sogar als besonders lohnenswert erweisen? Schließlich zeichnet die halben Theolog:innen in der Regel mindestens ein weiteres abgeschlossenes Fachstudium aus, unter ihnen finden sich Sozialwissenschaftler:innen, Sprachwissenschaftler:innen, Menschen mit spezifischem Wissen aus der Informatik und künstlichen Intelligenzforschung, Politikwissenschaftler:innen und Soziolog:innen, die die Welt quantitativer beziehungsweise qualitativer Sozialforschung aufs Genaueste erkundet haben. Meine volltheologischen Abstriche könnten zum Vorteil werden, sobald ein lehramtbezogener Abschluss in Theologie, Germanistik und Theaterpädagogik nicht mehr als Makel klassifiziert wird.
Die halben Theolog:innen zeichnet in der Regel mindestens ein weiteres abgeschlossenes Fachstudium aus.
Es zeugt von ordentlichem Geltungsbewusstsein einer eh schon kleinen Geisteswissenschaft, sich nicht nur nach außen abzugrenzen. Volle sowie halbe Theolog:innen sind gemeinhin den Vorwürfen ausgesetzt, etwas weltfremden Fragen nachzugehen; wahlweise entrückte Mystik oder rückwärtsgewandt Geschichtswissenschaft zu betreiben, wodurch der Eindruck entsteht, als Disziplin im Angesicht einer säkularisierten Gesellschaft schrittweise obsolet zu werden. Wenn nun auch noch in der eigenen Disziplin die Gräben für diejenigen tiefer gezogen werden, die womöglich mit einem Fuß in weniger vergeistigten Fachbereichen stehen, befeuern wir kollektiv das eigene Verschwinden. Die viel besungenen Synergieeffekte könnten Abhilfe schaffen – nur muss dafür auf Augenhöhe miteinander geforscht werden.
Es zeugt von ordentlichem Geltungsbewusstsein einer eh schon kleinen Geisteswissenschaft, sich nicht nur nach außen abzugrenzen.
Ob sich examinierte Religionslehrer:innen daran stoßen, wenn Pfarrpersonen schulischen Religionsunterricht geben? Sicherlich. Dass wiederum eben diese Pfarrpersonen an den Qualitäten einer Gemeindeleitung durch Religionslehrende zweifeln, ist komplett richtig. Es fehlt schließlich beiden Gruppen am spezifischen Handwerkszeug der anderen. Aber der Kern ist ja: ich will mich nicht im Pfarrhaus einquartieren – ich möchte als vollständig ausgebildete Person Wissenschaft betreiben. Praktisch theologisch, vollwertig angenommen und im gemeinsamen Lehr- und Lernprozess mit Kolleg:innen. Aber naja, vielleicht spricht da auch nur die nette Relilehrerin aus mir.
Sarah Marie Neumann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Evangelische Theologie an der Technischen Universität Dresden. Sie ist Mitgründerin der
gender_schaft und lebt in Leipzig.
Beitragsbild: Joseph Grewe, unsplash.com