Am 2. Dezember 2024 jährt sich der Todestag von Johann Baptist Metz zum fünften Mal. Ottmar Fuchs mit einem Blick auf dessen Umgang mit der Bibel.
Ich werde nie vergessen, wie damals Johann Baptist Metz bei der Synode in Würzburg die christliche Vision in der Verteidigung des Hoffnungspapiers, in einer frischen und prickelnden Weise, ebenso präzis, wie brillant und emotional mitreißend zum Ausdruck gebracht hat. Ich war damals schon „stolz“ darauf, dass wir beide Priester des Erzbistums Bamberg sind. Und wann immer wir uns begegnet sind, haben wir auch diese Gemeinsamkeit erinnert, neben vielen gemeinsamen inhaltlichen Anliegen und, in Freundschaft, wenigen Unterschieden.
Brilliante Verteidigung des Hoffnungspapiers
Die folgenden Gedanken sind im Anliegen von Johann Baptist Metz selbst begründet, insofern sie seine Perspektive und seine Theologie, seine kritische Theorie im Horizont der Compassio auch in die Bibel selbst hinein zu erweitern versuchen. Dabei geht es mitnichten um eine Entschärfung der Memoria passionis und der Compassio, sondern um ihre Radikalisierung in den Bereichen, die ich hier anspreche.[1]
1. „Gut, dass die Exegeten uns versichern …“[2]
Das Zitat bezieht sich auf Mk 8,31-38. Metz findet es hier gut, dass die „Exegeten“ die Reaktion des Petrus auf die Vorhersage des Kreuzes nicht als Affekt gegen Petrus verstehen, sondern dass hier Petrus für uns alle „in unser aller Namen“ reagiert, insofern Petrus den Messias „in Kategorien des Sieges“ haben will. Man fragt sich: Wie würde Metz reagieren, wenn die Exegeten dies nicht versicherten? An seiner Auslegung würde sich kaum etwas ändern! Diese scheint schon entschieden zu sein, bevor die Exegeten dies versicherten. Es ist zusätzlich gut, dass sie es tun! Und es würde eher die Exeget:innen desavouieren, wenn sie dies nicht täten. Die Souveränität des Bibelauslegers Metz wäre darin aber nicht in Frage gestellt. Gott sei Dank! Denn man kann für jede humanisierende kritische Perspektive auf die Bibel nur dankbar sein![3]
Erinnerungspolitische Korrekturen
Metz formuliert seine inhaltliche Perspektivität auf die Bibel als „Gestalt der Memoria passionis“ in der „biblischen Memoria“.[4] In dieser Form ist für Metz dann auch die biblische Erinnerungskultur gegenüber der reinen Ideenkultur und der nur kultischen Anamnese der entscheidende kritische Erinnerungsposten. In diesem Korrekturanliegen leistet sich Metz eine positive pars pro toto-Identifizierung der biblischen Erinnerung mit den von ihm so benannten, in der Christentumsgeschichte marginalisierten und verdrängten biblischen Traditionen.
2. Positive Gesamtsicht der Bibel?
Metz bringt derart innerbiblisch genau jene Gottesdimensionen zum Vorschein, die zu seiner Theologie der Memoria passionis passen.[5] Das ist weiter nicht schlimm, wenn die je eigene Investition gesteigerter Humanisierung dient, was ja bei Metz entschieden der Fall ist.
Nur könnte man sich dessen bewusst werden, dass man dies tut und was man dabei mit der Bibel nicht tut, nämlich dass die biblischen Texte, die diese humanisierende Lesart konterkarieren, explizit zu nennen wären. Wie Metz in seiner politischen Theologie die jeweils jetzigen Gegner in Wort und vor allem in der Tat beim Namen nennt, wäre dies auch gegenüber biblischen Texten notwendig, indem auch jene Passagen in Erinnerung gebracht werden, die die Praxis der Compassion hintertreiben. Mit der biblischen Wirklichkeit ist in ähnlicher kritischer Weise umzugehen, wie mit der jeweils historischen und gegenwärtigen. Metz kümmert sich allerdings wenig um die Ambivalenzträchtigkeit biblischer Texte. Programmatische Bedeutung hat sie jedenfalls nicht.
Wenn Tiemo Rainer Peters formuliert, dass Metz mit der Bibel genauso umgeht wie die Bibel mit sich selber,[6] dann greift dies bei Metz zu kurz: denn mit dieser formalen Bestimmung ist noch nicht der Inhalt der gefährlichen und verletzbaren Erinnerung gesichert. Es gibt nämlich innerbiblisch auch jene kontrastiven Selbstauslegungen, die die Dynamik ins inhaltliche Gegenteil haben.
Metz idealisiert die Bibel
Ein Beispiel: Metz spricht von dem „authentischen biblischen Monotheismus“, der kein „machtpolitischer Monotheismus“ sei, sondern eine „leidempfindliche Flanke“ habe.[7] Es gehe hier nicht um eine Sieger-Geschichte, auch nicht um eine Sündigkeitsgeschichte sondern um die Leidensgeschichte der Menschheit. Letzteres operiert Metz allerdings aus biblischen Texten heraus und stemmt sich damit gegen die in der Bibel immer wieder dominant vertretene Sündengeschichte der Menschheit.[8]
Israels Erwählung besteht nicht nur in seiner „Gottfähigkeit“, die auch anderen zugutekommt, sondern auch in massiven chauvinistischen, exkludierenden und nach außen hin (in der Phantasie oder in der Wirklichkeit) vernichtenden Aktionen. Man kann es so widersprüchlich formulieren: Metz, der jeder Idealisierung widerstrebt und sich für konkrete Leidsensibilität einsetzt und dieser Konkretion jede Theologie aussetzt, idealisiert gerade deswegen die Bibel, um mit seinem Bibelbezug eben diesem Anliegen Ausdruck und Autorität zu verschaffen.[10] Den biblischen Monotheismus nicht als auch in der Bibel realisierten Herrschaftsanspruch wahrzunehmen, sondern als pathischen Monotheismus „mit einer schmerzlich offenen eschatologischen Flanke“,[11] macht die Bibel unangemessen unschuldig.
Ambivalenz biblischer Texte einblenden
Jedenfalls wird nicht programmatisch in den Blick genommen, dass auch das Gegenteil davon biblisch ist. Die Vorherrschaft der Schuldempfindlichkeit und Sündenbezogenheit in der Bibel müsste dem Votum für die Leidempfindlichkeit kritisch ausgesetzt werden. Und wie die Leidverursacher:innen in der politischen Theologie zu identifizieren sind, so gilt dies auch für die biblisch erzählte Praxis.
3. Kritische Ehrerbietung Heiligen Schriften gegenüber[12]
Indem Metz mit Recht die nicht-compassionsgeleitete Wirkungsgeschichte der Bibel kritisiert, bestätigt er indirekt, dass es entsprechende Texte der Bibel gibt, in denen sich seine Sichtweise nicht bestätigt sieht, und dass es Strategien gibt, von diesen anderen Texten her den „Gesamttext“ der Tradition dominieren zu lassen. Gerade auf diesem Hintergrund wäre es angemessen, sich von der compassionsgetragenen Hermeneutik auf solche Gegentexte und entsprechende Strategien auch in der Bibel zu beziehen und damit innerbiblisch die Gegnerschaften zur „gefährlichen Erinnerung“ zu identifizieren. Doch ist Metz überzeugt, dass der biblische Text im Ganzen einen befreienden und transformativen Charakter hat.
In diesem Zusammenhang wäre Adornos Einsicht zu beherzigen, dass man keiner Tradition ungeprüft trauen kann. Das Verhältnis zur Bibel kann so zur frei angenommenen geschwisterlichen (Abel und Kain!) Autorität des Lebens werden. Die Tradition ist dann nicht mehr „wesentlich feudal“, weil sie den Widerspruch zu sich selber auszuhalten hat. Was Adorno hinsichtlich der Dichtung sagt, kann man, jedenfalls in der Tendenz, auch für die Theologie beanspruchen: „Dichtung errettet ihren Wahrheitsgehalt nur, wenn sie im engsten Kontakt mit der Tradition diese von sich abstößt.“[13]
So wie Metz es selbst wenigstens an einer Stelle tut:[14] Metz ruft hier einen biblischen Gegentext auf, um ihm zu widersprechen. „Lasst doch die Toten ihre Toten begraben! Doch die Frage nach dem Leben der Toten zu vergessen und zu verdrängen ist zutiefst inhuman.“[15] Hier widerspricht Metz entschieden einem Wort Jesu (Lk 9,60), das absolut nicht in die Metz‘sche „Memoria passionis“ passt.
Probleme eines feudal-ehrerbietigen Verhältnisses zur Gesamtbibel
Ansonsten scheint Metz eher ein feudal-ehrerbietiges Verhältnis zur Gesamtbibel zu haben. Diese Kritik beziehe ich selbstverständlich auch auf mein eigenes jahrzehntelanges Verhältnis zur Bibel. Es ist eben nicht zutreffend, dass insgesamt das biblische „Gottesgedächtnis an das Eingedenken fremden Leids gebunden ist.“[16] Und es trifft auch nicht zu, dass „Jesus“ durchgehend eine elementare Empfindlichkeit für das Leid der anderen kennzeichnet, denn wehe denen, die seiner Leidempfindlichkeit nicht nachkommen und in der dualistischen Apokalyptik verloren sind. Jesus hat kein Mitleid mit den Frauen, die zu töricht sind, genug Öl für ihre Lampen dabeizuhaben (Mt 25, 1-13). Und da handelt es sich nicht nur um Einzelpassagen, sondern es gibt so etwas wie eine mächtige Dynamik scharf und endgültig dualistischer, fundamentalistischer und identitärer Sichtweisen. Manchmal erscheint es eher, dass die herrschenden dualistischen Texte durch offene Texte unterbrochen werden (wie Lk 16, 19-21 durch Mt 19, 16-25). „Unterbrechung“ wäre dann auch hier die kürzeste Definition einer guten Religion.
Ansonsten unterstreicht Metz genau diese Fähigkeit: nämlich auch das Leiden der anderen, „die Leiden der bisherigen Feinde nicht zu vergessen und bei ihrem eigenen politischen Handeln in Betracht zu ziehen“:[17]
4. Shoa-Erinnerung und postkoloniale Leidwahrnehmung
Denn Metz vertritt mit der Singularität von Auschwitz zugleich seine Universalität, indem er die zum Äußersten gekommene Leidenserinnerung und Leidenswahrnehmung auf alles Leiden der Menschen bezieht. Metz verbindet beides in gegenseitig steigernder Dynamik, die Erinnerung an die Shoa und das universale Eingedenken fremden Leides. Auschwitz hat an die Tiefengeschichte der Menschheit gerührt und diese für alles Leiden an die Oberfläche gebracht. So schreibt er: „Dieses ethische Axiom vom Eingedenken fremden Leids ist von höchster politischer Brisanz heute.“[18]
Damit könnte er direkt in den gegenwärtig akuten Diskurs um das Verhältnis von Shoa Erinnerung und postkolonialer Leidwahrnehmung eintreten.[19] „Metz … became capable of developing and living a theology of resistance and transformation that finds in postcolonial and liberation-theological hermeneutics its closes equal.” So bringt Metz einen „fascinating dialogue with Biblical Hermeneutics in postcolonial and liberation-theological traditions.“[20]
Metz als Inspiration postkolonialer Theologien
So ist es eine immer wieder neu aufbrechende Quelle der Verfeindung, wenn nur die eigene Leidensgeschichte erinnert wird. So schreibt er: „Unvergessen ist für mich die Szene, in der der Israeli Rabin und Palästinenser Arafat einander die Hand reichen und sich gegenseitig versichern, dass sie künftig nicht nur auf die eigenen Leiden schauen wollen, sondern dass sie bereit seien, auch die Leiden der Anderen, die Leiden der bisherigen Feinde nicht zu vergessen und beim eigenen Handeln in Betracht zu ziehen … das ist eigentlich Friedenspolitik aus der biblischen Memoria passionis! Ich weiß, dass die Verständigung auf dieser Basis höchst fragil ist, dass sie große Opfer von beiden Seiten erfordert. Aber gibt es wirklich eine Alternative?“[21]
5. Verantwortungsvolles Erbe!
Konsequent kritisiert Metz die praktische Bibelauslegung, „die wir in der Geschichte des Christentums in der Kirche betrieben haben“, insofern darin die „Zwischenräume des anonymen Leidens“ durch das Leiden des Menschensohns und der ihm Nachfolgenden übersehen werden.[22] „So als hätte dieses Leid keine sühnende Kraft und als lebten wir nicht auch zulasten dieser Leiden?“[23] Dies ist ein Satz, der unabsehbare Konsequenzen und Unterbrechungen für die Innen-Außen Beziehung christlicher und kirchlicher Existenz hat. Wenn die leidsensible Haltung sich nur auf die Innenbereiche einer mitleidenden Christusmystik bezieht, ist alles verloren![24]
Wir werden noch viel daran zu arbeiten haben, diesem Erbe von Johann Baptist Metz in Wort und Tat gerecht zu werden!
______
Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
Bild: Sterbebild Johann B. Metz
[1] Vgl. Ottmar Fuchs, „Politische Theologie“ in der Bibelhermeneutik bei Johann Baptist Metz, erscheint in: Lukas Bormann, Ansgar Kreutzer (Hg.), Politische Theologien (Quaestiones disputatae 344), Freiburg i.B. 2025.
[2] Johann Baptist Metz, Messianische Geschichte als Leidensgeschichte, in: Ders., Jürgen Moltmann, Leidensgeschichte, Freiburg i. B. 1974, 39-58, 41, auch folgende Zitate.
[3] Vgl. Ottmar Fuchs, Nichts ist unmöglich. Gott! Aspekte einer postkolonialen Bibelhermeneutik, Würzburg 2023, 21-23.
[4] Vgl. Johann Baptist Metz, Dimensionen der Anamnetik, in: Klaus-Peter Pfeiffer, Vom Rande her?, Würzburg 1996, 155-161, 155.
[5] Vgl. Johann Baptist Metz, Tiemo Rainer Peters, Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute, Freiburg i. B. 1991, 30 Anm. 15; vgl. ebd. 28
[6] Vgl. Julia D. E. Prinz, Endangering Hunger for God. Johann Baptist Metz and Dorothee Sölle at the Interface of Biblical Hermeneutic and Christian Spirituality, Berlin 2007, 163, Anm. 120; und 211.
[7] Metz, Anamnetik 159.
[8] Vgl. Fuchs, Nichts ist unmöglich 208-212.
[10] Nach Prinz, Hunger 211 Anm.11, ist Metz überzeugt: der biblische Text „as a whole has a liberating and transformative character“, wobei man dabei auch mal einen Text „against the grain“ lesen müsse. Aber da es zu viele Texte sind, stimmt das „as a whole“ nicht mehr!
[11] Metz Gottespassion 27.
[12] Vgl. Ottmar Fuchs, Ohne Freiheit keine Heiligkeit, erscheint in: Jahrbuch für Biblische Theologie 39 (2024), Heilige Schriften, Göttingen 2025.
[13] Theodor W. Adorno, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a.M. 1967, 29 und 40.
[14] Ich habe jedenfalls bislang keine weitere gefunden, aber selbstverständlich kenne ich nicht alle seine Publikationen.
[15] Metz, Leidensgeschichte 46.
[16] Johann Baptist Metz, Memoria passionis, Freiburg i. B. 2006, 163, vgl. auch 164.
[17] Ebd. 168.
[18] Metz, Anamnetik 160.
[19] Vgl. Charlotte Wiedemann, Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Berlin 2022; Ottmar Fuchs, Nicht „ja-aber“, sondern „und“!, in: https://www.feinschwarz.net/nicht-ja-aber-sondern-und/.(10.8.2024).
[20] Prinz, Hunger 208 und 207.
[21] Metz, Anamnetik 160.
[22] Metz, Gottespassion 56.
[23] Ebd. 56.
[24] Vgl. zu diesem Grundproblem der Religion Ottmar Fuchs, Schiitische Trauer- und Leidensmystik, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 38 (2023), Mystik, Göttingen 2024, 285-300.