Sr. Marie-Pasquale Reuver, selbst Betroffene sexualisierter Gewalt, reagiert auf den Artikel von Annette Meyer.
Voraus ein herzlicher Dank an Hannah Ziegler für ihre Reaktionen auf den Artikel – ich stimme ihren Aussagen vollkommen zu und möchte sie lediglich ergänzend untermauern durch 1. Ein paar Gedanken aus der Psychologie zur Frage nach der Heilsamkeit von Vergebung, 2. Erfahrungen aus der Begleitung von Missbrauchsbetroffenen und Desideraten aus Betroffenenberichten zum Thema Vergebung und 3. einen liturgischen Alternativvorschlag.
Vergebung – Gedanken aus der Psychologie
Zahlreiche Studien belegen, dass Vergebung im Kontext auch schwerster Gewalterfahrungen eine heilsame Wirkung haben kann, da sie oftmals hilft aus der Opfer-Täter Beziehung auszusteigen, so zu mehr Freiheit vom Tatgeschehen führen kann und Ressourcen für neue Perspektiven frei werden. Vergebung wird hier verstanden als Reduktion bzw. Beendigung von Ärger und Groll auf eine Person, die Verletzung oder Verrat verursacht hat.[i] Voraussetzungen dafür sind aber, dass zunächst einmal Wut- und Rachegefühle, die eine angemessene Reaktion auf die erlittene Tat sind, gespürt werden können. Vergebung ist demnach kein grundsätzliches Ziel in der Psychotherapie, sondern eine Möglichkeit ein höheres Maß an Autonomie und damit ein breiteres Entscheidungsspektrum, wie man mit den zugefügten Verwundungen umgehen möchte, zu gewinnen.[ii]
Jedoch ist Vergebung, gerade in christlichem Kontext, oft mit einem moralischen Druck verbunden, der z.B. Wut und Rachegedanken erst gar nicht erlaubt und zu einer Vergebung drängt, die das erlittene Unrecht kleinmacht und zusätzliche Schuldgefühle aufkommen lässt, wenn Vergebung nicht so einfach gelingt, wie es erwartet wird. Demnach kann auch gerade die Entscheidung, nicht zu vergeben eine befreiende Entscheidung sein, die Selbstwirksamkeit (neu) erfahren lässt. Nicht vergeben kann auch eine Kraftquelle sein, die hilft in Zukunft sich vor neuem Unrecht wehren zu können.[iii]
In der Psychologie finden sich also durchaus Belege für die Heilsamkeit von Vergebung, aber nicht ohne den Raum für Wut und Rache und auch nicht als allein anzustrebendes Ziel. Ziel ist die Zurückgewinnung der Autonomie und eine weiter fortschreitende Loslösung vom Tatgeschehen – hier kann Vergebung ein Bestandteil sein, muss es aber nicht. Eine Liturgie also, die nur Vergebung im Zentrum hat, übersieht die Notwendigkeit von Wut und dem (An)erkennen des Unrechts und sorgt für zusätzliche Schuld- und Schamgefühle, wenn Vergebung nicht gelingt.
Gedanken aus der Praxis und ein Blick in Betroffenenberichte
In der Praxis erlebe ich es häufig, dass Menschen zwar eine Sehnsucht nach Vergebung benennen, im Gespräch sich aber zeigt, dass dahinter ein moralischer Druck steckt und/oder die Hoffnung, dass durch Vergebung das Leben leichter wird. Oft spielen, je nach religiöser Herkunft, Schuldgefühle eine Rolle: dass die Tat nicht vergessen werden kann, dass man es „nicht gut sein lassen kann“ und nicht stattdessen Gott dankbar dafür ist, dass das eigene Leben doch heute auch andere Seiten bereithält. Hier erleben es Betroffene als befreiend, wenn sie erfahren, dass Vergebung von Gott nicht verlangt ist, dass es wichtig ist, zunächst einmal das Unrecht, das ihnen geschehen ist, anzuerkennen und Klage und Wut, auch Gott gegenüber, zuzulassen und sich nicht zu verbieten. Meines Erachtens bedarf es eines Spürens des Unrechts und einer Wut auf die Täterperson, um wieder einen (tieferen) Zugang zur eigenen Würde zu erlangen. Vorher Vergebung ins Spiel zu bringen, verhindert das Zurückgewinnen der eigenen Würde und das Bearbeiten von falschen Schuld- und Schamgefühlen.[iv]
Heilsamer als Vergebung der Täterperson gegenüber erlebe ich das sich selbst vergeben, wobei ich den Ausdruck in diesem Kontext unglücklich finde. Gemeint ist das Loslassen von dem Gefühl selbst schuld zu sein, einen Beitrag am Tatgeschehen zu haben oder sich dafür zu verurteilen, sich nicht stärker gewehrt zu haben bzw. früher angezeigt oder sich jemandem anvertraut zu haben. Solch falsche Selbstvorwürfe loszulassen befreit. ‚Sich selbst vergeben‘ finde ich jedoch als Ausdruck unglücklich, da er eine eigene Schuld und Verantwortung suggeriert, die jedoch in den allermeisten Fällen nicht gegeben ist.
Schaut man in Betroffenenberichte, finde ich erstaunlich wenig über Vergebung als Heilungsschritt. Es kommt vor, dass Betroffene dies schildern. Viel häufiger jedoch wird von Vergebungsdruck berichtet. Positive Begriffe, die im Kontext Heilung fallen, sind solche, die in Richtung von ‚Freiheit‘ und ‚Selbstwirksamkeit‘ gehen, von der Erfahrung von Annahme und von Widerstand gegen das Unrecht.[v]
In einer Studie, in der Betroffene von Missbrauch nach den Erfahrungen mit geistlicher Begleitung gefragt werden, antworteten die Teilnehmenden, dass Begleitung da für sie schwierig wurde, wo sie Richtung Vergebung gedrängt wurden und Glaubenszweifel und Fragen keinen Raum hatten. Hilfreich stattdessen wurde erlebt, wenn genau dieser Raum für Wut und Zweifel da war, das eigene Tempo in der Verarbeitung ernst genommen und überhaupt das Thema nicht beschämt klein geredet wurde. Dies deckt sich mit meinen Erfahrungen.[vi]
Liturgische Verantwortung der Kirche
Ob Betroffene sich nach einem liturgischen Rahmen zur Verarbeitung der eigenen Geschichte sehnen oder nicht, sollte ein fragender Stachel bleiben. Leichter tun sich hier wahrscheinlich Betroffene, die nicht im kirchlichen Kontext Missbrauch erfahren haben. Im kirchlichen Kontext Betroffene brauchen oft erst einmal einen Raum, der nicht in irgendeiner Weise an das Tatgeschehen erinnert: (Wie) kann die Kirche Vermittlerin von Heilung sein, wenn in ihr das Unheil geschah?
Jedoch haben wir in unseren Liturgien eine hohe Zahl von Betroffenen sexualisierter Gewalt sitzen: Jeder siebte bis achte Erwachsene hat in Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlitten, davon jede fünfte bis sechste Frau.[vii] Wie kann Liturgie darauf reagieren? Ein paar Anregungspunkte:
- Keine „extra“ Liturgie, sondern ein Raum für das Thematisieren von sexualisierter Gewalt in der Liturgie. Gemeinsames Erinnern an das Unrecht kann die Scham lindern.[viii] Hier braucht es eine Achtsamkeit, wie das geschehen kann, ohne dass das Erinnern für Betroffene zu schmerzhaft ist, aber dem Unrecht nicht ausgewichen wird.
- Eine möglichst gewaltfreie liturgische Sprache und eine Sensibilität im Umgang mit Begriffen wie „Allmacht“, „Opfer“, „Wille Gottes“, „Vergebung“, „Schuld und Sünde“.
- Ein Gottesbild, das einen biblischen Gott zeichnet, der parteiisch auf der Seite derer steht, die Unrecht erleiden und an den ich mich in meinem Schrei nach Gerechtigkeit wenden kann. Ein Gott, der mehr als männlich ist: Da die Zahl der Täter höher ist als die der Täterinnen, ist die Rede in sehr männlichen Gottesbildern für viele Betroffene eine Hürde in der eigenen Gottesbeziehung.
- Eine Verkündigung, die im Zentrum das (Wieder)entdecken der eigenen von Gott geschenkten Würde hat.
- Eine Verkündigung, die Raum lässt für Zweifel und Fragen und Leid nicht einfach mit tröstenden Worten überdeckt.
- Hohe Transparenz bei Ritualen: z.B. Ankündigen wie genau eine Einzelsegnung abläuft und welchen Entscheidungsraum man hat.
- Und nicht zuletzt: Im Gespräch mit Betroffenen sein und die Rückmeldungen, was sie als schwierig empfinden, ernst nehmen.
Diese Aufzählung ist bei Weitem nicht als vollständig zu verstehen, sondern als Denkanstoß für die Gestaltung von Liturgien. Ich persönlich habe erlebt, dass, wenn ich Liturgien besonders traumasensibel feiere, auch nicht Betroffene davon profitieren: „Die Atmosphäre war so, dass ich gut da sein konnte, gut beten konnte.“
Sr. Marie-Pasquale Reuver ist Pastoralreferentin, selbst Betroffene sexualisierter Gewalt und setzt sich gerade wissenschaftlich mit der Frage „Glaube nach Missbrauchserfahrungen“ auseinander.
[i] Vgl. Legaree TA, Turner J, Lollis S: Forgiveness and therapy: a critical review of conceptualizations, practices, and values found in the literature. J Marital Fam Ther 2007; 33:192–213.; zitiert nach: Knaevelsrud/Kämmerer in: Verhaltenstherapie 2010, 20:136.
[ii] Knaevelsrud, Christine in: Verhaltenstherapie 2010, 20:136-137.
[iii]Kämmerer, Annette in: Verhaltenstherapie 2010, 20:137-138.
[iv] Vgl. auch Reuver, Sr. Marie-Pasquale: Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen, 2024. S. 134-139.
[v] Vgl. z.B. in den Sammelbänden „Erzählen als Widerstand“ und „Selbstverlust und Gottentfremdung“.
[vi] Vgl. Rudolfsson, Lisa; Tidefors, Inga: The struggles of victims of sexual abuse who seek pastoral care. In: PastoralPsychol (2015) 64: 453-467.
[vii] Vgl. https://beauftragtemissbrauch.de/fileadmin/Content/pdf/Zahlen_und_Fakten/240703_Fact_Sheet_Zahlen_und_Fakten_zu_sexuellem_Kindesmissbrauch_UBSKM.pdf, 3.
[viii] Vgl. van Ommen, Armand Léon: Remembering for Healing: Liturgical communities of reconciliation provide space for trauma. 203-225 in: Ganzevoort, R.Ruard, Sremac, Srdjan: Trauma and lived religion. Transcending the ordinary. 2019.