Theologie queer zu denken ist notwendig, aber anspruchsvoll. Vera Uppenkamp und Juliane Ta Van zeigen Chancen und Fallstricke auf – so auch antisemitisches Denken.
Queere Theologien – hier als Sammelbegriff für verschiedene queer-theologische Ansätze und Theologien queerer Menschen verstanden – können sehr bereichernd sein, insbesondere für Menschen, die sich selbst als queer bezeichnen. In oftmals ungewohnt poetischer Sprache werden in einer insgesamt doch recht kritischen Grundhaltung Erfahrungen, Beobachtungen, Fragen, hermeneutische Zugänge und theologische Positionen entfaltet, für die andernorts kein Platz zu sein scheint. Während es lange nur die Theologie zu geben schien, also die eine, die richtige, die universale Theologie, differenzierte sich das Verständnis von Theologie als Theologien in bestimmten Kontexten insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Nachdem feministische Theologien die Relevanz von Geschlecht (als Identitätskategorie, Zuschreibung, Positionierung etc.) auch und gerade für das theologische Denken hervorgehoben hatten, konnten Queere Theologien empowernde Perspektiven für queere Menschen und auch dekonstruierende Zugänge zu Geschlecht und Theologie insgesamt bereithalten. Mit Queeren Theologien und dem Queeren als theologische Praxis lassen sich normative Kategorien nicht nur in Bezug auf Geschlecht und sexuelle Orientierung anfragen, hinterfragen und dekonstruieren.
theologische Positionen entfalten, für die andernorts kein Platz zu sein scheint
Der erkenntnistheoretisch relevante, eigene Standort ist nicht dazu geeignet, universal gültige Aussagen zu treffen – auch und insbesondere nicht in der Theologie. Genauso wie ein Zylinder je nach Perspektive für die einen ein Kreis ist und für die anderen ein Rechteck, so ist davon auszugehen, dass sich die theologische Reflexion von Erfahrungen mit der Offenbarung G*ttes jeweils ganz unterschiedlich gestaltet und dass es Standorte gibt, von denen aus in etwa das Gleiche zu sehen ist. Queere Theologien leben von der Annahme ähnlicher, vergleichbarer Erfahrungen von Menschen, die sich als normabweichend in dem machtvollen System der Heteronormativität zurechtfinden müssen. Queere Menschen erleben die Welt oft als eine, in die sie irgendwie nicht hineinpassen und in der sie sich regelmäßig für ihr Anderssein rechtfertigen sollen. Die Heteronormativität in der Grundgestalt der meisten christlichen Kulturen und die starke Regulierung von Formen des Zusammenlebens unter Berufung auf ein wie auch immer gedachtes traditionell-christliches Ehe- und Familienverständnis verstärken oftmals diese Erfahrung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich zahlreiche queere Theolog*innen in einer befreiungstheologischen Tradition verorten. Das starke Narrativ ist das der Befreiung aus heteronormativen Strukturen. Aber ist das schon alles?
sich im machtvollen System der Heteronormativität zurechtfinden müssen
Die bei manchen Vertreter*innen starke Fokussierung auf das grenzüberschreitende, befreiende Handeln Jesu macht zumindest nachdenklich. Denn auch wenn es nicht beabsichtigt sein muss, wird hier eine Erzählung groß gemacht, die anschlussfähig ist an antisemitische Narrative. Wird Jesus Christus wie bei Patrick Cheng als „boundary-crosser extraordinaire“[1] verstanden, dann weitet das nicht nur den Blick für göttliche, soziale, sexuelle und geschlechtliche Grenzüberschreitungen, sondern bringt auch die Frage mit sich, auf wessen Grenzen sich Jesu Handeln eigentlich bezieht. Und dort, wo das nicht benannt wird, öffnet sich bereits das erste Einfallstor für Antisemitismus. Wo keine Konkretisierung auftaucht, lässt sich als Gegenüber „die Juden“ denken.
Auf wessen Grenzen bezieht sich Jesu Handeln eigentlich?
Ein wichtiges Element in der Erzählung von Jesus als dem, der Grenzen überschreitet, der als ganz G*tt und ganz Mensch bereits so manche Grenze der Vorstellungskraft sprengt, ist sein Tod am Kreuz und die Auferstehung. Besonders sein Kreuzestod gilt als ein Ankerpunkt für antijudaistische Erzählungen, die in der Form des Vorwurfs, „die Juden hätten Gott ermordet“[2], Ausdruck findet. Auch bei queeren Theolog*innen, wie zum Beispiel Cheng und Robert Shore-Goss, sind, bewusst vorsichtig formuliert, Spuren einer Christologie erkennbar, die den Tod am Kreuz als Strafe für Befreiungshandeln aus der Unterdrückung verstehen und dabei Deutungshorizonte bereithalten, die diesen Vorwurf aufgreifen können. Robert Shore-Goss ruft in den 1990ern in seinem Buch Jesus Acted Up zum grenzüberwindenden, gewaltfreien, zivilen Ungehorsam auf gegenüber „churches, that ‚crucify queer Christs in their midst‘“[3] und bezieht sich auf das Verhalten der römisch-katholischen Kirche während der AIDS-Epidemie. Inwiefern hier ein Vergleich mit den Jüdinnen*Juden gezogen wird, denen die Kreuzigung von Jesus als einem von ihnen vorgeworfen wird, lässt sich nur vermuten. Allerdings ist in einem späteren Text von Shore-Goss eine recht differenzierte Darstellung zu finden, in der die politische Bedeutung von Jesu Handeln betont wird.[4] Trotzdem bleibt es ambivalent. So werden in einem Satz „die Mächtigen“[5] als Schuldige genannt, was erst später inhaltlich ausgefüllt wird. Die unbenannten, mächtigen Anderen – das sind in antisemitischen Erzählungen „die Juden“.[6] Demgegenüber wird bei Shore-Goss wenige Absätze später eine Distanzierung von diesem Narrativ erkennbar, indem er deutlich betont, dass Jesu Tod „was handed down and executed by Romans.“[7]
Jesu Kreuzestod – ein Ankerpunkt für antijudaistische Erzählungen
Was wir an dem kleinen Einblick in queere Theologie – und insbesondere in queere Christologie erkennen: Es lohnt sich, weiter zu fragen, zu suchen und zu forschen, welche Interpretationsspielräume queere Befreiungserzählungen öffnen. Jesus Christus als queeres Idol ermöglicht auch unbeabsichtigt antisemitische Deutungen und Queere Theologie stellt das passende methodische Repertoire bereit – für uns Grund genug, um queere Theologien antisemitismuskritisch zu erschließen.
Eine weitere Spur, die antisemitismuskritisch verfolgt werden könnte, ist die Spur der Dekonstruktion von Geschlecht. Queeren als Tätigkeit beschreibt in der Regel das Dekonstruieren von Geschlechterkategorien, Zuordnungen etc. So lässt sich zum Beispiel beim theologischen Queeren damit anfangen, dass die Geschichte hinter der Vorstellung eines männlichen G*ttes rekonstruiert wird. Wie wurde G*tt männlich? Wer hat dazu beigetragen und was hält dieses Bild so stabil? Diese Arbeit lohnt sich, lässt sich G*tt damit doch wesentlich vielfältiger und auch geschlechtergerechter denken.[8] Allerdings geben wir auch hier zu bedenken, dass ein solches Vorgehen Türen öffnet für Bilder von G*tt, die per se eine Abgrenzung zum Judentum darstellen, da sie in christlicher Vereinnahmung von G*tt das Bilderverbot übergehen.
Bilder von G*tt, die per se eine Abgrenzung zum Judentum darstellen…
Auch der Wechsel des Blickwinkels bietet Potenzial: Erkenntnisse Queerer Theologien können dazu dienen, den Kampf gegen christlich geprägten, heute häufig säkularen Antisemitismus zu stärken. Wir sind uns bewusst, dass wir in einer Gesellschaft leben, die zutiefst von antisemitischen Bildern geprägt ist und der dieses Wissen in aller Regel nicht direkt zugänglich ist. Antisemitische Bilder „vom Juden“ enthalten eine Projektion von überzeichneter, geschlechtlicher Eindeutigkeit bei zugleich geschlechtlicher Nicht-Fassbarkeit.[9] Auf dieser Spur könnte die Dekonstruktion von Geschlechterkategorien Queerer Theologien helfen, antisemitische (säkulare) Bilder zu entschlüsseln, gerechtere, gendersensiblere Theologien zu skizzieren sowie Methoden und Erkenntnisse bereitzustellen, die für die Bearbeitung von christlichen und säkular gewordenen Antisemitismus verwendet werden können.
Wir leben in einer Gesellschaft, die zutiefst von antisemitischen Bildern geprägt ist.
Wir denken, eine antisemitismuskritische Spurensuche u.a. in Queeren Theologien lohnt sich, um sich der eigenen Verstrickungen vor allem in den Denklogiken immer wieder bewusst zu werden und diese zu bearbeiten. Heutiger Antisemitismus kann aus unserer Sicht nur dann bekämpft werden, wenn dessen christliche Wurzeln auch in den Theologien erkannt werden.
Dr. Juliane Ta Van ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Comenius-Institut und vertritt zurzeit die Professur für Evangelische Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Duisburg-Essen. Zudem ist sie Mitglied der Steuerungsgruppe des Netzwerks antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie (narrt).
Dr. Vera Uppenkamp ist Juniorprofessorin für Evangelische Religionspädagogik am Institut für Ethik und Theologie der Leuphana Universität Lüneburg.
[1] Cheng, Patrick S. (2011): Radical Love. An Introduction to Queer Theology. New York: Seabury Books, S. 79.
[2] Kellenbach, Katharina von (2024): Antijudaismus, in: Ullrich, Peter/Arnhold, Sina/Danilina, Anna/Holz, Klaus/Jensen, Uffa/Seidel, Ingolf/Weyand, Jan (Hg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Göttingen: Wallstein, S. 18-22, hier: S. 20.
[3] Cheng 2011, S. 80.
[4] „Jesus was executed by the political infrastructure of Jewish Palestine as a political insurgent. The Jewish religious aristocracy and their Roman rulers perceived Jesus‘ message and practice of God’s reign as a threat to the political order. […] In commitment and trust, Jesus died for God’s coming reign. His death embodied his own vision and commitment to practice God’s reign to the very end.“ Goss, Robert E. (2002): Queering Christ. Beyond Jesus acted up. Cleveland: Pilgrim Press, S. 158. (deutsche Übersetzung: „Jesus wurde von der politischen Infrastruktur des jüdischen Palästinas als politischer Aufrührer hingerichtet. Die jüdische religiöse Aristokratie und ihre römischen Herrscher sahen in Jesu Botschaft und Praxis der Gottesherrschaft eine Bedrohung für die politische Ordnung. […] In Hingabe und Vertrauen starb Jesus für die kommende Herrschaft Gottes. Sein Tod verkörperte seine eigene Vision und sein Engagement, Gottes Herrschaft bis zum Ende zu praktizieren.“)
[5] „Because of his message and practice of God’s coming reign, Jesus came into lethal conflict with the powerful.“ (Goss 2002, 158)
[6] Vgl. Salzborn, Samuel (2022): Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, in: Kumar, Victoria/Dreier, Werner/Gautschi, Peter/Riedweg, Nicole/Sauer, Linda/Sigel, Robert (Hg.): Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich. Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag, S. 196-203, hier: S. 198f.
[7] Goss, Robert E. (2002): Queering Christ. Beyond Jesus acted up. Cleveland: Pilgrim Press, S. 159.
[8] Vgl. Dinkelaker, Veit/Weidlich, Laura (2022): „Denn Gott bin ich und nicht ein Mann“ (Hos 11,9). Religionsdidaktische Aspekte zu ‚G*tt‘ (w/m/d) im Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 74(1), S. 65-76.
[9] Für eines von vielen Beispielen der stereotypischen, geschlechtlich überzeichneten und zugleich nicht fassbaren Darstellung siehe den Instagram-Post von @frauen_geschichte (FrauenGeschichte by BR) vom 25.10.2023: https://www.instagram.com/p/Cyz-OAdKs6u/ (zuletzt abgerufen am 29.11.2024).
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