Susanne Glietsch findet bei Meister Eckhart Impulse für eine erneuerte Theologie und Spiritualität.
Christlicher Glaube und Kirche(n) befinden sich inmitten einer Krise von unfassbar großem Ausmaß. Wohin die Entwicklung gehen wird, ist nicht vorhersehbar. Klar ist gegenwärtig nur: Vieles vom „Alten“ trägt nicht mehr. Der „Gott in der Höhe“ (Caputo)[1] oder der „Alpha-Gott triumphaler Macht und metaphysischer Gewissheit“ (Kearney)[2] sind weder gedanklich noch existentiell länger überzeugend. In eine ähnliche Richtung hatte bereits Karl Rahner in seinem Grundkurs des Glaubens (1976) die Unhaltbarkeit eines „vulgären Theismus“ (d.h. eines zu einfach und oberflächlich gefassten Theismus) benannt und differenziert einige seiner zentralen Problemfelder analysiert: insbesondere die Gefahr einer substanzhaften Verobjektivierung Gottes und eines dualistischen Gegenüberverhältnisses von Gott und Welt, Gott und Mensch.[3] Einen solchen Gott, so Rahner, „gibt es wirklich nicht“, der quasi wie ein dingliches „Etwas“ neben anderem oder, in Rahners Worten, wie ein „einzelnes Seiendes neben anderem Seienden“ nochmal „im größeren Haus der Gesamtwirklichkeit anwesend wäre.
Einen solchen Gott gibt es wirklich nicht
Suchte man einen solchen Gott, dann hätte man einen falschen Gott gesucht. Der Atheismus und ein vulgärer Theismus leiden an derselben falschen Gottesvorstellung: nur lehnt der eine diese ab, während der andere meint, sie dennoch denken zu können.“[4] Neu sind die Einsichten in die Brüchigkeit eines letztlich unterkomplex gefassten dogmatischen Theismus also nicht, allerdings werden sie durch die massive Kirchenkrise, die ja auch eine theologische und spirituelle Krise ist, gegenwärtig unübersehbar, und deutlicher als je zuvor auch von Theolog*innen selbst benannt. Dass sie so deutlich benannt werden müssen, lässt auf die langlebige, unbewusste Wirkkraft dieser vulgärtheistischen Vorstellungen schließen. Eine solche bescheinigte Rahner ihnen zumindest. Und noch 40 Jahre später gibt der Religionspädagoge Rudolf Englert zu bedenken, dass unsere Gottesrede nach wie vor von der Vorstellung eines substantialistischen „Etwas“ geprägt ist und den Ereignischarakter Gottes nicht angemessen zur Geltung bringt.[5]
Neukonzeptionen Gottes aufspüren
Glücklicherweise zeigt sich die gegenwärtige Krisenzeit aber nicht nur als eine Zeit der Abbrüche und Abstürze, sondern auch als eine Zeit der Umbrüche und Aufbrüche, in der konstruktive Neuansätze entwickelt werden. Spannend und anregend finde ich dabei die Gedanken des Philosophen Richard Kearney. Mit seinem Konzept des „Anatheismus“ sucht Kearney „Gott nach Gott“, macht sich also auf die Suche nach Denkmöglichkeiten und Erfahrungsspuren Gottes (in Tradition und Gegenwart), die sich nach dem Verschwinden des „vulgär-theistischen“ Gottes bzw. jenseits der brüchig gewordenen Gotteskonzepte zeigen. Ziel seiner hermeneutischen Rückwärts- und Vorwärtslektüre ist es, Alternativen aufzufinden zwischen einem faustkämpferischen dogmatischen Theismus einerseits und einem militanten Atheismus bzw. Materialismus andererseits, um so Neukonzeptionen Gottes aufzuspüren.[6] Kearneys Denkweise ist m.E. ein vielversprechender Ansatz, denn manches, was heute weiterführen kann, war in der Tradition ja schon da, und Problemfelder sind häufig auch durch Vereinseitigungen und Ausblendungen in der christlichen Tradition entstanden.
Geburt als Strukturmuster Gottes
Gemeinsam mit vielen anderen Theolog*innen halte ich deshalb gegenwärtig die Anknüpfung an die Tradition der Mystik (bzw. ihre theologische wie spirituell-praktische Re-Integration) für entscheidend für die Zukunft des Christentums.[7] Besonders hervorheben möchte ich angesichts des vulgärtheistischen Problemüberhangs die Mystik Meister Eckharts, und zwar aus folgenden Gründen: Kern seiner Theologie ist gerade die Entwicklung eines neuartigen Gottesverständnisses, das verdinglichende Tendenzen im Gottesbegriff sowie einen Dualismus von Gott und Welt, Gott und Mensch überwindet.[8] Es kann hier nur angedeutet werden, wie ihm das gelingt, nämlich zum einen durch die geistmetaphysische Fundierung seines Denkens, zum anderen durch seine Gottesgeburtslehre, von der ich wesentliche Elemente in Kürze skizzieren möchte: Eckharts Theologie geht aus von der ewigen innertrinitarischen Sohnesgeburt – „Gottes höchstes Streben ist: gebären“ (Pr. 11) –, welche sich zugleich permanent in der Seele eines jeden Menschen vollzieht, wie wir am Beispiel Jesu Christi ablesen können. Und ebenso gibt dieses Geburtsgeschehen das Strukturmuster für den Hervorgang der Schöpfung aus Gott und ihre bleibende Bezogenheit auf Gott vor. Dadurch sind Gott und Welt, Gott und Mensch unmittelbar miteinander verbunden (eins), ohne jedoch (pantheistisch) zu verschmelzen.
Ereignischarakter Gottes
Gott gibt sich permanent in der Schöpfung und in der Seele eines jeden Menschen, Schöpfung und Inkarnation geschehen also unaufhörlich hier und jetzt (creatio contiua, incarnatio continua). Der Mensch hat allein die Aufgabe, für dieses permanente Geschehen Gottes durchlässig zu werden, es in seinem Leben freizulegen und aktiv zu verwirklichen: also Gott zu empfangen und Gott zu gebären (Pr. 2)[9], oder: für die Liebe transparent zu werden. Das so konzipierte Zueinander von Gott und Mensch lässt sich für Eckhart sprachlich und denkerisch eben nicht durch ein äußerliches Zusammensetzen von zwei gesonderten, in sich abgeschlossenen Größen beschreiben, sondern am ehesten als lebendige Beziehungs- und Wirkeinheit, in der eines nicht ohne das andere gedacht werden kann. Er fasst dieses Zueinander als unaufhörliches Geschehen, welches Gott und Mensch gleichermaßen umgreift. Anstelle einer Metaphysik des „sondernden Etwas-Denkens“ (Welte)[10] entwirft Eckhart also eine dynamische Geschehensontologie, die Gott und Welt, Gott und Mensch unlösbar verbindet und in welcher die Prozessualität, das je aktuelle Ereignis der Gegenwart Gottes im Zentrum steht. Denn: „Gott ist ein Gott der Gegenwart.“[11]
Die vermeintliche Getrenntheit des Menschen von Gott aufsprengen
Praktisch bedeutet dies eine radikal inkarnatorische Spiritualität, die die vermeintliche Getrenntheit des Menschen von Gott aufsprengt. Der spirituelle Weg besteht nach Eckhart gerade darin, die Beziehung zum „gedachten Gott“, den der Mensch in Form des Gottesgedankens vor sich hinstellt, zu überwinden, und sich zum unmittelbar gegenwärtigen Gott, in Eckharts Sprache zum „wesenhaften Gott“ hinzuwenden.[12] Dieser gegenwärtige Gott wird aber erst dann real, wenn der Mensch sich selbst, seine innerste Identität als Beziehung-sein, als Offenheit für das Geschehen Gottes, als Ereignis göttlicher Gegenwart realisiert. Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich also nicht einem Denken, das ein „Etwas“ erkennen will: „Die göttliche Liebe (…) ist reiner Vollzug. Sie will im Sein gefunden werden, das heißt in allem, was mir begegnet. In jedem Wesen, jedem Ding schaut sie mich an, wenn ich es mit Liebe anschaue. Aus allem, was mir begegnet und was ich so anschaue, bildet sich für mich das Angesicht der göttlichen Liebe.“[13] Erst wenn ich mich für die Anwesenheit der Liebe öffne, mit Eckhart gesprochen: Sohn oder Tochter werde, erschließt sich mir die göttliche Wirklichkeit, wird mir zugänglich, was mit dem Wort ‚Gott‘ gemeint sein kann.
Aus der Relation zum Göttlichen leben
Folglich geht es bei Eckharts „Spiritualität der Unmittelbarkeit“[14] auch nicht um einzelne, herausgehobene spirituelle Akte, sondern darum, in jedem Moment aus der Relation zum göttlichen Ursprung zu leben und offen zu sein für das Ereignis der Gegenwart Gottes in allen Tätigkeiten und Lebensbezügen. Traditionelle Dichotomien wie vita activa und vita contemplativa, profan und heilig werden bei Eckhart überwunden und entgrenzt, denn Gott ist für Eckhart nicht mehr „in Innerlichkeit, Andacht [und] süßer Verzücktheit (…) als beim Herdfeuer oder im Stalle.“[15]
Die vulgärtheistische Erblast aufarbeiten
Ich denke, dass das Potential der Mystik insgesamt und insbesondere der Mystik Meister Eckharts bei weitem noch nicht breitenwirksam erschlossen ist, was aber gerade zur Aufarbeitung und Überwindung der vulgärtheistischen Erblast äußerst wichtig wäre.[16] Und im Sinne Kearneys wäre es spannend, Eckharts Theologie und Lebenslehre beispielsweise mit den Gedanken Michael Schüßlers zur Ereignistheologie, mit Dorothee Steiofs Ansatz der Präsenzpastoral, mit Arbeiten zu den Straßenexerzitien oder mit Neuerschließungen der christlichen Kontemplation in Dialog zu bringen.[17] Denn für mich scheint eine Gemeinsamkeit dieser Ansätze ein Neuverständnis von Kirche und Gottespräsenz zu sein, das überkommene innen-außen/profan-heilig-Logiken aufsprengt und den Blick darauf richtet, wo Gott sich gegenwärtig ereignet. Das würde Eckhart sicher gut gefallen.[18] Jedenfalls macht es mir Lust, das Weiterführende im Alten mit konstruktiven Neuansätzen zusammenzudenken, um so den „Gott in der Höhe“ zu überwinden und dem Gottesereignis näher zu kommen: im Denken und im Leben.
_________
Dr. Susanne Glietsch ist tätig als Schuldekanin für Gymnasien in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Religionslehrerin und Kontemplationsbegleiterin.
Portrait: picturepeople Stuttgart
Bild: Designpeter auf Pixabay
[1] Caputo, John, D., Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten, Ostfildern 2022, S. 22; 27-38.
[2] Kearney, Richard, Zimmermann, Jens, Revisionen des Heiligen. Streitgespräche zur Gottesfrage. Richard Kearney im Gespräch mit John Caputo u.a., Freiburg/Br. 2019, S. 18.
[3] Rahner, Karl, Grundkurs des Glaubens, Freiburg/Br. u.a. 1976, S. 71.
[4] Vgl. ebenda, S. 72.
[5] Englert, Rudolf, Gottesglaube hier und heute. Empirische und theologische Herausforderungen, in: Theologische Revue 103 (3/2007), S. 177-186, hier 185f.
[6] Vgl. Kearney, Richard, Zimmermann, Jens, Revisionen des Heiligen, S. 50f. Kurz gesagt intendiert Kearney mit seinem Konzept des Anatheismus (griech. Praefix ‚ana‘ im Sinne von „wieder“, „zurück“) ein „kritisches hermeneutisches Zurückholen heiliger Dinge“, eine „Rückkehr zu Gott nach Gott“ (ebenda S. 22) durch eine Neu-Sichtung ererbter Narrative, um daraus Neukonzeptionen Gottes für die Gegenwart zu gewinnen.
[7] Ich verweise hier exemplarisch auf Leppin, Volker, Ruhen in Gott. Eine Geschichte der christlichen Mystik, München 2021; weitere Denker*innen, die in diese Richtung gehen, sind bspw. Tomáš Halík, Sebastian Painadath, Monika Renz, David Steindl-Rast.
[8] Vgl. ausführlicher zum Folgenden Glietsch, Susanne, Vom gedachten zum wesenhaften Gott. Impulse für die Theologie der Spiritualität aus der Mystik Meister Eckharts (1260-1328), in: Trierer Theologische Zeitschrift, 4/2014, S. 300-321; dies.: „Was oben war, das wurde innen“: Religiöse Bildung im Horizont der Mystik, in: Kropač, Ulrich, Langenhorst, Georg (Hg.), Religionsunterricht und der Bildungsauftrag der öffentlichen Schulen. Begründungen und Perspektiven des Schulfaches Religion, Babenhausen 2012, 208-222.
[9] Vgl. Meister Eckhart, Predigt 2, in Werke, Bd. 1, hg. v. Largier, Niklaus, Frankfurt/M. 1993, 26f.
[10] Welte, Bernhard, Meister Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken, Freiburg/Br. 1979, S. 79.
[11] Meister Eckhart, Reden der Unterweisung, in: Werke, Bd. II, S. 373.
[12]„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. Der Gott vergeht nicht, der Mensch wende sich denn mit Willen von ihm ab. Wer Gott so, im Sein, hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar. In ihm glänzt Gott allzeit (…).“ (Meister Eckhart, Reden der Unterweisung, in: Werke, Bd. II, S. 349).
[13] Kampmann, Irmgard, Meister Eckhart Brevier. Worte für jeden Tag, München 2010, S. 21.
[14] Schönfeld, Andreas: Meister Eckhart – geistliche Übungen. Meditationspraxis nach den ‚Reden der Unterweisung‘, Mainz 2002, S. 212.
[15] Meister Eckhart, Pr. 5, in: Werke, Bd. 1, S. 71.
[16] Nach Kearney war Eckhart selbst schon ein früher Anatheist, der „gewagt hat, Gott aufzugeben, um wieder zu Gott zurückzukehren“. Vgl. Kearney, Richard, Zimmermann, Jens, Revisionen des Heiligen, S. 55.
[17] Vgl. bspw. Schüßler, Michael, Gegenwart als Zukunft der Kirche. Über die ereignishafte Bedeutsamkeit Gottes im Heute, in: Notizblock 74/2023, 4-7; Steiof, Dorothee, diverse Artikel in Feinschwarz; Schindler, Michael, Auf der Straße nach Gott suchen – Entdeckungen bei den „Straßenexerzitien“, Münster 2016; Simon Peng-Keller, Überhelle Präsenz. Kontemplation als Gabe, Praxis und Lebensform, Würzburg 2019.
[18] „Der Mensch soll Gott in allen Dingen ergreifen und soll sein Gemüt dran gewöhnen, Gott allzeit gegenwärtig zu haben im Gemüt und im Streben und in der Liebe.“ (Meister Eckhart, Reden der Unterweisung, in: Werke, Bd. II, S. 347)