Christian Fröhling mit einer Interpretation des Monumentalwerks „Sterben“ von Matthias Glasner, die vor allem die Möglichkeit des kreativen Erzählens in den Mittelpunkt stellt.
Der mit dem deutschen Filmpreis 2024 ausgezeichnete Film Sterben von Matthias Glasner, ist ein umfangreicher und vielschichtiger Film, der – um nicht zu viel zu verraten – hier ausschließlich unter einer Hinsicht vorgestellt wird:[1] Der Film stellt für mich den inspirierenden Versuch dar, sich an die schöpferische Kraft des Menschen zu erinnern.
der inspirierende Versuch, sich an die schöpferische Kraft des Menschen zu erinnern
Die These überrascht vermutlich, weil im Film die Geschichte der Familie Lunies (Mutter Lissy, Vater Gerd, Kinder Tom & Ellen sowie Bernard als der Freund von Tom) erzählt wird, die in vielgestaltiger Weise mit dem Sterben konfrontiert ist. Die prägenden Mythen der Familie Lunies stellen eine Art Gravitationsfeld dar, das die Beziehungen der Familienmitglieder ermöglicht und zugleich begrenzt. Diese Geschichten als formative Geschichten zu erkennen, ist ein kreativer Prozess, der das Gravitationsfeld zugleich verändert. So wird die These erst einsichtig, wenn zwei Ebenen unterschieden werden: zum einen die Erzählungen im Film und zum anderen der Vollzug des filmischen Erzählens.
Tom entdeckt den eigenen Bezugsrahmen
Ein Höhepunkt der Handlung stellt das Gespräch zwischen Mutter (Corinna Harfouch) und Sohn (Lars Eidinger) dar, das nach der Beerdigung des Ehemanns und Vaters stattfindet. Zu Beginn dieses Gespräches informiert Lissy Tom darüber, dass sie bald sterben wird. Tom reagiert auf diese Nachricht verstört, weil das angekündigte Sterben seiner Mutter in ihm nichts als Leere auslöst. Angesichts des nahenden Abschieds nutzt er die Gelegenheit, um die Beziehung zu seiner Mutter zu erkunden. Tom schildert ein Erlebnis als 8-Jähriger, das ihn bis heute beschäftigt: Er musste sich damals, weil er beim Mittagessen etwas Falsches gesagt hatte, für etwas entschuldigen. In der Erinnerung musste er als Strafe den ganzen Tag neben der Mutter sitzen. Tom treibt bis zum heute die Frage um, worin genau seine Schuld bestand. Seine Mutter kann sich an diese konkrete Situation nicht erinnern und resümiert: „Es war anstrengend mit Dir.“
eine Erzählung, der sie bis in die Gegenwart Glauben schenkt
Anschließend fragt Tom seine Mutter nach dem „wichtigsten Moment“ zwischen ihnen beiden. Für Tom überraschend hält Lissy fest: „Der schönste Moment war, als sich herausstellte, dass Du gesund und normal bist; dass Du keinen Schaden hast.“ Lissy erzählt nun selbst von ihrer damaligen Situation als junges Paar, das von einem Kind überrascht wurde, das auch noch ein „Schreikind“ war. Nach der unerwünschten Geburt von Tom musste die junge Familie in ein kleines Zimmer der Wohnung der Schwiegereltern ziehen. Der Vater war beruflich viel unterwegs. Lissy beschreibt ihre ausweglose Situation: „Ich war mit Dir in diesem winzigen Zimmer, aus dem ich mich nicht raus traute, weil draußen die Schwiegermutter war, mit der ich mich nicht verstand.“ Es wird vage angedeutet, was damals in dem Zimmer geschah. Jedenfalls verlässt Lissy das Zimmer und den dauerhaft schreienden Sohn, der „runtergefallen“ war. Zur Deutung dieser Situation greift Lissy auf eine Erzählung zurück, der sie bis in die Gegenwart Glauben schenkt:
„Aber Du mochtest mich nicht. Niemals. Du wolltest immer mit Deinem Vater sein. Aber ich habe das akzeptiert, weil ich Dich ja schließlich auch nicht mochte. Das habe ich ja begriffen an dem Tag, dass ich Dich gar nicht liebe, weil man ja so was gar nicht machen würde, wenn man jemanden liebt. […] So was passiert einfach nicht, wenn man jemanden liebt. Egal wie genervt man ist.“
In dieser Erklärung aktualisiert Lissy ihren Bezugsrahmen, der es erst ermöglicht, diesem Geschehen genau diese Deutung zu geben. Der Bezugsrahmen besteht aus der verallgemeinerten Überzeugung: Ich orientiere mich an fremden Ansprüchen und genüge diesen nicht. Damit werden alle eigenen Möglichkeiten nach außen abgegeben und ein inneres Gefühl von Verlassenheit entsteht. Die erlebte Situation bestätigt, wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, diesen Bezugsrahmen, der Lissy schlussfolgern lässt: Ich kann meinen Sohn gar nicht lieben. Sie leidet bis in die Gegenwart unter den Schuldgefühlen, weil sie ihren Sohn in ihren Augen als Baby im Stich gelassen hat und zwar in ähnlicher Weise wie sie im Stich gelassen wurde. Die Traurigkeit über ihre Verlassenheit bindet sie an Sohn und Tochter. Von denen glaubt sie wiederum qua Bezugsrahmen, dass beide sie verlassen und sich gegen sie entschieden haben. Es ist eine Traurigkeit, die als vergangene Erinnerung gegenwärtig ist: „Ich habe meine ganze Traurigkeit schon verloren, als Du jung warst.“
Wer den Bezugsrahmen als Mythos erkennt, versteht, wie dieser die familiären Beziehungen erst entstehen lässt.
Tom erfährt das Gespräch als für sich erhellend: „Weil ich tatsächlich gerade das Gefühl habe, dass ich irgendwann mal verstehen werde, warum wir so sind, wie wir sind. Warum wir so furchtbare Menschen sind.“ Im Erzählen wird für Tom ein Erkenntnisprozess initiiert: „Mir wird langsam klar, dass ich mich deswegen nicht schlecht fühlen muss.“ Die unbekannte Erinnerung eröffnet ihm die Möglichkeit einen anderen Blick auf seine Mutter zu finden und lässt sein Leben in einem neuen Licht erscheinen. Wer den Bezugsrahmen als Mythos erkennt, versteht, wie dieser die familiären Beziehungen erst entstehen lässt.
Die Aufgabe der Kunst
Die Kunst ist ein Medium dieser Erkenntnis, die auch im Film zentral ist. Sowohl Bernard als auch Tom sind im Film davon angetrieben, ein lebendiges Kunstwerk entstehen zu lassen: Das Instrumentalstück Sterben, deren Aufführung zunächst scheitert. Konfrontiert mit der Hoffnungslosigkeit seines Stückes antwortet Bernard: „The hope is in the fact that we are playing.“ Im künstlerischen Vollzug entsteht für ihn die Hoffnung, nicht im Inhalt des Stückes. In der Figur von Bernard wird im Film in radikaler Weise das künstlerische Scheitern durchgespielt. Gegenüber Tom sagt er, dass er den schmalen Grat nicht treffe, sondern ausschließlich Kitsch produziere. „Kitsch ist, wenn das Gefühl die Wirklichkeit nicht erreicht.“ Bernard ist nach der gescheiterten Premiere so verzweifelt, dass er sich am Weihnachtsabend das Leben nehmen möchte. Er bittet Tom, zu ihm zu kommen und in der Wohnung zu warten, damit seine Freundin ihn nicht findet. Tom respektiert seinen Wunsch zu sterben und bleibt vor Ort.
„The hope is in the fact that we are playing.“
Der Regisseur Matthias Glasner signalisiert mit der Parallelisierung der Titel, dass er selbst mit dem Film als ganzen den Sinn seiner künstlerischen Tätigkeit erkundet:
„Als ich angefangen hab mit dem Projekt war ich eher so ein bisschen in der Krise persönlich; weil meine Eltern gerade gestorben waren, kurz hintereinander; mein erstes Kind geboren wurde und ich ein bisschen überfordert war von der ganzen Situation und so als Filmemacher auch das Gefühl hatte, dass ich nicht mehr so genau wusste, wie man in einer so chaotischen Welt mit einer Bilderflut von allen Seiten und so viele Schichten … Ich hatte das Vertrauen in das Filmemachen verloren, dass es noch eine Relevanz hat und dass es einfach zu viel ist; zu viele Bilder; zu viele Geschichten; zu viel von allem; und gleichzeitig das Gefühl, dass das, was ich sehe, sich alles wiederholt. […] Ich war so ein bisschen lost.“[2]
Im Vollzug des filmischen Erzählens entdeckt Glasner seine Aufgabe als Filmemacher neu.
… auf der Ebene des filmischen Erzählens, was in der Familie Lunies nur im Modus des Vergangenen gegenwärtig war: lebendige Kreativität.
Der autobiografisch inspirierte Film legt auf der Handlungsebene die prägenden Mythen der Familie Lunies frei. Zugleich erinnert der Regisseur auf der Ebene des filmischen Erzählens an etwas, das in der Familie Lunies nur im Modus des Vergangenen gegenwärtig war: lebendige Kreativität. Sie ist durch den Prolog am symbolischen Ursprung des Films präsent. Ein sechsjähriges Mädchen spricht die Zuschauerin an:
„Du musst an Dein Herz glauben. Du musst machen, was Dir ins Herz kommt. Du musst machen, was Du willst, was fühlst Du in Deinem Herzen. Das musst Du wiederholen. Du musst Dein Herz vergleichen mit Deinem Gefühl. Du musst wissen, was Du willst. Was Ruhiges machen und nicht was Wildes, rumgucken oder so. Du musst auf Deine Natur hören.“
Die Ansprache stellt eine Art Gebrauchsanweisung für das Leben dar, die sich von dem vorherrschenden Bezugsrahmen der Familie Lunies unterscheidet. Das Mädchen spricht in seiner Naivität eine Erlaubnis zum Leben und zum Entdecken aus.
Erlaubnis zum Leben und zum Entdecken
Der Film als ganzer ist also als Erzählung die vergegenwärtigende Erinnerung an kindliche Kreativität, die die menschliche Natur auszeichnet. Durch den Vollzug des Erzählens wird etwas Vergangenes wieder gegenwärtig, das es auf der inhaltlichen Ebene des Films nur als Vergangenes gibt. Das Erzählen verändert dabei performativ die Erzählenden unter Einschluss ihrer Vergangenheit. Denn im erinnernden Erzählen werden die erlebten Ereignisse nicht einfach und identisch wiederholt.
Wer sich in und mit einer Erzählung wirklich erinnert, der lässt das Bekannte in der Gegenwart vergehen. Erzählungen fordern uns nicht auf, Dinge zu glauben, sondern, sie uns vorzustellen. Es geht nicht darum, argumentativ zu überzeugen oder darzustellen, wie es war. Es geht vielmehr darum, einen Sinn für Plausibilität zu kultivieren: die Zuschauerinnen und Zuschauer davon imaginativ zu überzeugen, dass die Geschichte der Familie Lunies auch eine andere sein könnte. Der Akt der Erzählung verwandelt den Erzähler und die Erzählerin als Ganzes.
Der Akt der Erzählung verwandelt den Erzähler und die Erzählerin.
Die Aufgabe von Kunst bestimmt John Berger so: „Kunst ahmt nicht die Natur nach, sie ahmt eine Schöpfung nach.“[3] Die Natur eines Kunstwerkes nachzuahmen heißt, das nachzuahmen, was das Werk zu einer unerschöpflichen, lebendigen Gestalt werden lässt, die immer mehr ist als das, was sich jemand ausgedacht hat. Die Nachahmung richtet sich also nicht auf ein Vorbild, sondern auf die im Werk manifest werdende, unerschöpfliche Wirklichkeit. Genau davon werden Bernard, Tom und auch Matthias Glasner in unwiderstehlicher Weise angezogen: Kunst als ein Zugang zur Wirklichkeit als ganzer, in dem der eigene, formative Bezugsrahmen erkannt und losgelassen werden kann.
Kunst als ein Zugang zur Wirklichkeit, in dem der eigene, formative Bezugsrahmen erkannt und losgelassen werden kann.
Die zerstreute Familie an Weihnachten
„Ich existiere nur als ein Wesen, dem die nicht-identische Wiederholung vergangener Ereignisse zukunftsweisende Resonanzen erschließt. Und das war im Idealfall gleichbedeutend mit einem transformatorischen Akt liebender Vergebung, der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges miteinander in Einklang bringt.“[4] In dieser Haltung stellt am Ende des Films am Weihnachtsabend die Kamera die zerstreuten Familienmitglieder würdevoll nebeneinander. Dazu singt die Band Wilco in dem Lied Jesus etc.: „You can come by any time you want I’ll be around“. Sieht man diese Szene im Gesamtzusammenhang des Films wird die Vorstellung genährt, dass Weihnachten etwas Anderes sein könnte als eine wehmütige und immer gleiche Erinnerung an längst Vergangenes.
Bildrechte: Port au Prince, Senator Film, Schwarzweiss Film, Wild Bunch, Foto: Peter Hartwig
[1] Dieser Text erscheint demnächst in leicht veränderter Fassung als Teil der Lernmaterialien zu dem Film Sterben, die vom Katholischen Filmwerk herausgegeben werden: https://filmwerk.de/.
[2] Interview mit Matthias Glasner in Spätvorstellung [1:47–2:34] https://www.youtube.com/watch?v=MNMUuegTXSo (Abrufdatum 18.11.2024).
[3] John Berger (1999), Das Sichtbare und das Verborgene, Frankfurt am Main, 19.
[4] Johannes Hoff (2021) Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg im Breisgau, 247.