Bis 2060 werden in den großen Kirchen bis zu 40.000 Gebäude nicht mehr für kirchliche Zwecke benötigt. Für Stefan Heinig resultieren daraus Herausforderungen und Chancen, die nicht nur aus baulicher und finanzieller Perspektive betrachtet werden dürfen, sondern auch mit Blick auf die soziale Verantwortung von Kirche und die Bedürfnisse in den Sozialräumen vor Ort.
Angesichts der Mitglieder- und Einnahmenentwicklung finden in fast allen evangelischen Landeskirchen Prozesse statt, in denen der Gebäudebestand vor dem Hintergrund von kirchlichen Bedarfen und finanziellen Möglichkeiten systematisch bewertet wird. Dabei fließen auch die jeweils definierten Klimaziele oder beschlossenen Klimaschutzgesetze ein. Im Ergebnis steht meist eine Kategorisierung der Gebäude. Diese reicht von Gebäuden, die weiterhin für kirchliche Aufgaben benötigt werden, bis hin zu Gebäuden, die nicht mehr solidarisch finanziert werden können.
Gebäudebestand vor dem Hintergrund von kirchlichen Bedarfen und finanziellen Möglichkeiten systematisch bewertet
Für Letztere stellt sich die Frage nach den Perspektiven: Ersetzen international agierende Investoren in den Großstädten künftig die Gebäude durch Hochhäuser? Und verfallen in den ländlichen Räumen nicht mehr genutzte Kirchen zu Ruinen wie in Irland? Aus meiner Sicht gibt es Alternativen, um auch eine sozial verantwortliche Entwicklung nicht mehr benötigter kirchlicher Gebäude voranzutreiben. Allerdings bedarf es dazu einer intensiven Begleitung und fachlichen Unterstützung.
Bisherige Erfahrungen und ihre Grenzen
Mit der Umnutzung von Kirchen und kirchlichen Gebäuden gibt es eine Reihe von Erfahrungen. In Nordrhein-Westfalen ist man bereits seit fast 20 Jahren mit den Nutzungsperspektiven für brach gefallene Kirchen befasst (www.zukunft-kirchen-raeume.de). Auch das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Sakralraumtransformation“ beschäftigt sich seit mehreren Jahren systematisch mit den Perspektiven für Kirchenräume. Und 2024 hob das „Kirchenmanifest“ das bis November 2024 über 20.000 Menschen unterzeichnet hatten, die Bedeutung von Kirchenbauten als baukulturell wichtige, multicodierte Orte in die gesellschaftliche Diskussion.
Allen diesen Projekten und Initiativen ist gemeinsam, dass ihr Fokus auf den Perspektiven für nicht mehr für kirchliche Zwecke benötigten Kirchen liegt. Doch gleichzeitig trennen sich Kirchengemeinden von einer Vielzahl von Gemeindehäusern und Pfarrhäusern. In der Gebäudebedarfs- und -entwicklungsplanung der EKHN wird davon ausgegangen, dass eine „Baulastreduzierung“ bei den sakralen Flächen nur zu ca. 10 % erfolgen wird, aber viel stärker bei den Gemeindehäusern und profanen Versammlungsflächen.
Baulastreduzierung viel stärker bei den Gemeindehäusern und profanen Versammlungsflächen als bei Kirchen
Pfarr- und Gemeindehäuser sind meist deutlich einfacher umzunutzen und zu veräußern als Kirchen. Die Gebäude werden verkauft und lassen sich relativ günstig in Wohnungen umbauen. Oder es erfolgt ein Abriss mit einer deutlich dichteren Neubebauung. Kirchengemeinden erhoffen sich durch den Verkauf finanzielle Erlöse, die sie für den Erhalt und die energetische Sanierung des verbleibenden Gebäudebestandes nutzen können. Doch mit dem schnellen Verkauf verspielen die Gemeinden auch Chancen. Denn gerade diese Gebäude bieten besondere Möglichkeiten, mit einer hybriden Nutzung oder einer Umnutzung auf Bedarfe im Sozialraum wie geförderten Wohnraum, Kindertagesstätten oder Raum für soziale und kommunikative Angebote zu reagieren.
Mit dem schnellen Verkauf verspielen die Gemeinden auch Chancen.
Der EKD-Text 136 „Bezahlbar Wohnen“ sind eine gute Grundlage, damit sich Kirchengemeinden bewusst mit divergierenden fiskalischen und sozialen Zielen auseinandersetzen können. Sie skizzieren nicht nur die Handlungsbedarfe und -möglichkeiten für ein bezahlbares Wohnen, sondern thematisieren auch die Verantwortung von Kirche als Gebäudeeigentümerin in diesem Zusammenhang. Das im Text enthaltene „Modell der ethischen Entscheidungsfindung“ zeigt an zwei konkreten Beispielen auf, wie wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte bei der Umnutzung und Veräußerung kirchlicher Gebäude verantwortungsvoll miteinander abgewogen werden können.
wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte bei der Umnutzung und Veräußerung kirchlicher Gebäude verantwortungsvoll miteinander abzuwiegen
Veranstaltungsreihe „Sozial verantwortliche Gebäudeentwicklung“
Mit Blick auf die sozialräumlichen Handlungsmöglichkeiten haben Verantwortliche aus der Diakonie Deutschland, der Diakonie Hessen, der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau und der Evangelischen Kirche im Rheinland eine bundesweite Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Sozial verantwortliche Gebäudeentwicklung in Stadt und Land – Knowhow für Kirchengemeinden und diakonische Träger“ organisiert. Nach der Eröffnung, in der das Thema aus dem Blickwinkel kirchlicher Sozialethik, praktischer Erfahrungen und gesellschaftlicher Verantwortung beleuchtet wurde, standen in vier digitalen Veranstaltungen die Protagonisten von guten Beispielen Rede und Antwort.
Diese waren vielfältig: Die katholische Kirche in Frankfurt hat Vergaberichtlinien für kirchlichen Wohnraum erarbeitet, mit denen gezielt die Vermietung an Familien und Geflüchtete unterstützt wird. In Simmershausen ist in der „Apfelbutze“, einem ehemaligen Gemeindehaus, ein gemeinschaftliches Wohnprojekt entstanden. Das Pfarrhaus der Philippuskirche in Leipzig wurde in ein Inklusionshotel umgewandelt; der diakonische Träger bewirtschaftet gleichzeitig die Kirche mit einem stadtteilbezogenem Konzept. Und in Hamburg entwickelt der kirchliche Eigenbetrieb „Bauwerk kirchliche Immobilien“ Ertragsimmobilien mit sozialem Anspruch, zum Beispiel das Trinitatisquartier.
Orte der Gemeinschaft
Die Auseinandersetzung war intensiv und bereichernd. Im Ergebnis können unter anderen folgende Erkenntnisse benannt werden:
- Kirchen, aber auch andere kirchliche Gebäude haben nicht nur für Kirchenmitglieder und baukulturell interessierte Menschen eine besondere Relevanz. Sie sind identitätsprägend für viele Menschen, die in den Dörfern und Stadtteilen wohnen. Sie sind wichtige Orte der Gemeinschaft und mit vielen Emotionen und Erinnerungen verbunden. Auch wenn sie von der Kirchengemeinde abgegeben werden, verbinden viele Menschen diese Gebäude weiterhin mit der Institution Kirche.
- Um gute Perspektiven für kirchliche Gebäude zu finden, sind frühzeitig Gespräche mit Kommunen, Diakonie, anderen Religionsgemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Akteuren sinnvoll. Dadurch kann ein gemeinschaftlich getragener Prozess erreicht und mit der Gebäudeumnutzung ein Mehrwert für den Sozialraum geschaffen werden.
mit der Gebäudeumnutzung einen Mehrwert für den Sozialraum schaffen
- Gebäudeentwicklung benötigt ein wirtschaftlich tragfähiges Gesamtkonzept. Deshalb ist zu empfehlen, kirchliche Gebäudekomplexe als Gesamtheit zu entwickeln und mit professionellen diakonischen und/oder immobilienwirtschaftlichen Partnern zu kooperieren.
- Die Veräußerung von Gebäuden oder Vergabe in Erbpacht an neue Eigentümer nach dem inhaltlichen Konzept („Konzeptvergabe“) statt nach dem höchsten Preis hat sich bereits in vielen Projekten bewährt. Die Suche nach dem besten Konzept erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit den Bedarfen im Sozialraum, von Orten für Gemeinschaft über bezahlbares Wohnen bis hin zu sozialen Einrichtungen.
- In Kirchenvorständen gibt es häufig wenig bzw. nur zufällig Knowhow aus Architektur, Projektentwicklung und Planung. Landeskirchen sind deshalb gut beraten, angesichts der Dimension der Aufgabe nicht nur kirchengesetzliche Rahmenbedingungen anzupassen, sondern auch professionelle Beratungs- und Unterstützungsstrukturen für Kirchengemeinden aufzubauen. Dabei muss gelingen die Stärken von Bottum-up-Prozessen und Top-down-Strukturen miteinander zu verbinden.
Der große Gebäudebestand ist für eine kleiner werdende Kirche nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Chance. Als sozialräumlich orientierte Kirche „für und mit anderen“ kann auch mit nicht mehr solidarisch finanzierten Gebäuden das Dorf, das Quartier oder der Stadtteil gezielt mitgestaltet werden. Neu entstehende Partnerschaften zur Gebäudeentwicklung können kirchliches Leben bereichern und Ressourcen erweitern. Kirche bleibt dabei wahrnehmbar in ihrem Auftrag, Gott in der Welt zu entdecken.
Stefan Heinig arbeitet als Geograph im Referat Stadt- und Landentwicklung des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN. Zuvor war er viele Jahre für Stadtentwicklung in der Stadt Leipzig verantwortlich und gleichzeitig als Kirchvorsteher an kirchlichen Transformationsprojekten beteiligt.
Bild: Stefan Heinig