Laura Brauer über ein Projekt, das mit einfachen Mitteln neue Möglichkeiten für wohnungslose Menschen und Künstler:innen schafft.
Wurdest du heute schon angelächelt? Hattest du schon eine warme Mahlzeit, einen warmen Gedanken über dich selbst und andere? Konntest du schon deine Sucht befriedigen? Hast du dich heute schon gesehen, angenommen, geliebt, wertgeschätzt gefühlt?
All diese Fragen sind für Sie, die gerade auf diesen Artikel geklickt haben, vielleicht schnell beantwortet, vielleicht stellen sie sich gar nicht oder zumindest nicht regelmäßig.
Für Personen, die auf der Straße leben, stellt sich das ganz anders dar: Mangel an Ressourcen aller Art verstrickt sich schnell zu einem verhängnisvollen Kreislauf, die sogenannte „Abwärtsspirale“. Dieser Artikel möchte jedoch nicht nur bei der Beobachtung und Beschreibung von Missständen verweilen, sondern sich gewissermaßen an einer positiven Wende der „Abwärtsspirale“ versuchen, in dem die Aufmerksamkeit auf die empowernden Potentiale von Kiez-Kreisläufen gerichtet wird.
die empowernden Potentiale von Kiez-Kreisläufen
Die Fragen, die Sie in der Einleitung lesen, könnten so oder abgewandelt in einer meiner Postkarten stehen, die ich an Obdachlose in meinem Kiez verteile. Handgeschrieben, bestückt mit einem kleinen Schein und dem Angebot, einen Satz dieser Postkarten unentgeltlich weiterverkaufen zu dürfen. Nachts kam mir die Idee: Straßenzeitungen sind etwas unhandlicher, viele lesen keine gedruckten Nachrichten mehr, aber eine Postkarte ist handlich, ein gut transportables Format, kann weiterverschenkt werden. Außerdem passen sich Postkarten in die „Kommunikationsmodi“ unter obdachlosen Menschen gut ein, da die Informationsverteilung über Kiezprojekte z.B. über Sticker, Karten, Faltflyer in Bartoiletten oder bekannten Anlaufstellen in Unterkünften oder besetzten Häusern oder „öffentlichen Wohnzimmern“ läuft.
Postkarten passen sich in die „Kommunikationsmodi“ unter obdachlosen Menschen gut ein.
Also überlege ich, ob vor mir schon jemand auf die Die gekommen ist, den:die ich unterstützen kann und tatsächlich: Daniel Kisters Kiezprojekt „Kunst aber gut“; lokale Künstler:innen „spenden“ ihre Postkarten-Designs an Obdachlose, Daniel übernimmt mit Spendenmitteln den Druck mit nachhaltigen, inklusiven Berliner Druckereien und die Obdachlosen bekommen 100 Prozent des Erlöses und bringen gleichzeitig die Designs auf die Straßen. Leider ist das Projekt eingeschlafen. Ressourcenmangel… Einen Tag später entsteht die Aktion „TrashLab Kreuzberg: Intersektional Recyceln“. Manchmal muss man einfach machen.
Es gibt in Berlin ein vielfältiges, ja nicht zu erfassendes Angebot an caritativen, ehrenamtlichen, nachhaltigen (Kiez-)Initiativen. Hohe Fluktuation, Geburt und Tod und Transformation neuer Initiativen und Ideen macht die Gemeinschaft in meinem Kiez im Kreuzberg aus. Die Krux: oft wissen diese Projekte gar nicht voneinander oder finden keine barrierearmen und ressourcengünstigen „Andockstellen“, um sich auf Dauer gegenseitig zu supporten. Networking bindet Ressourcen langfristig, ist zugleich ein offener Prozess, in dem man sich ständig neu verbinden muss, Kontakt halten muss, um die gegenseitige Entwicklung und Dynamik in den Projekten mitzuverfolgen und zu supporten.
Oft wissen die kleinen Projekte gar nicht voneinander oder finden keine barrierearmen und ressourcengünstigen „Andockstellen“.
Denn gerade in ehrenamtlichen Projekten wie „Bettis Unterschlupf“, einer Tagesanlaufstelle für obdachlose Frauen ist die personale Fluktuation hoch. Und nicht zu vergessen: auch Ehrenamtliche, Künstler:innen, Drucker:innen etc. verlieren Wohnungen und Jobs, werden krank, erziehen Kinder, haben nur 24 Stunden am Tag und begrenzte emotionale Energie. Die Schwelle zwischen Fremd- und Selbstbetroffenheit verschiebt sich ebenso dynamisch – das gilt wohl für sämtliche Arbeit im Sozialen Sektor, die strukturell in unserem Land emotional und monetär zu wenig wertgeschätzt wird. Und weil sich der Staat zu sehr auf ehrenamtliche Arbeit „verlässt“, wird das Ehrenamt tatsächlich Teil eines strukturellen Problems von Selbst- und Fremdausbeutung.
Die Schwelle zwischen Fremd- und Selbstbetroffenheit verschiebt sich dynamisch.
Intersektionales Recycling ist sozusagen die positive gewendete Konsequenz aus „Intersectional Environmentalism“: wenn Menschen intersektional, d.h. in vielfacher Übereinkunft identitätsprägender Merkmale, von Klimawandel betroffen sind, dann müssen wirtschaftlich und sozial nachhaltige Kreisläufe diese Mehrfachbetroffenheit mitdenken und empowern.
Intersektionales Recycling vereint dabei drei Vorteile:
- Langfristigkeit
- Nachhaltigkeit
- Agency (Selbstwirksamkeit und -ermächtigung) bzw. Networking (intersektionale Vernetzung)
Wo z.B. Interviews mit Betroffenen kurz erhöhte Aufmerksamkeit und Solidarität erzeugen, flacht diese in unserer sich ständig selbst überholenden Medien- und Informationslandschaft auch schnell wieder ab. Außerdem ist der Entfremdungsgrad zwischen Interviewendem und Interviewtem oft sehr groß, d.h. die Art der Fragen und Befragung spiegelt nicht unbedingt die Realität des/der Betroffenen wider.
Auf welche Konformitäten, Barrieren und Komplexitätsreduktionen muss sich eine von Obdachlosigkeit betroffene Person einlassen?
Das Zauberwort „Plattform bieten“ sagt sich zwar so leicht, aber auf welche Konformitäten, Barrieren und Komplexitätsreduktionen muss sich eine von Obdachlosigkeit betroffene Person einlassen, um diese in Anspruch nehmen zu dürfen? Bekommt sie tatsächlich den Raum und die Zeit, die ihrer Betroffenheit ansatzweise angemessen wäre und die komplexe Herausforderung „Wohnungs- und Obdachlosigkeit“ in ihren Facetten von psychischer und physischer Gewalt, Verlust sozialer Kontakte, alltäglicher kleiner und großer Kriminalität, Hunger, Durst, Sucht, Krankheit, Kunst, Routinen usw. widerspiegelt? In Einzelbeiträgen geht leider oft gerade die Alltäglichkeit und Routine von diesem „Orchester“ an Facetten verloren.
Diese Einsicht nehme ich aus meiner Erfahrung als freie Journalistin mit: man kann in unserer Aufmerksamkeitsökonomie auf diese Weise Themen platzieren, aber nicht nachhaltig Agency pushen. Agency, zu deutsch „Selbstwirksamkeit“, ist ein Schlüsselelement nachhaltiger Kreisläufe. Nur, wenn ein Mensch sich gleichberechtigt, gesehen fühlt und gleichzeitig einen (identifikatorischen) Sinn in dem sieht, was er:sie tut, wird ein Projekt langfristig Bestand haben und: sich aus sich selbst heraus erhalten! Luhmann winkt; es ist eine Binse, aber eine, die man wohl nicht müde werden kann zu wiederholen, wenn doch viel zu viele staatspolitisch-subventionierte Projekte eigentlich als „Top-Down-Bewegungen“ nur über soziales Prekariat reden. Wie viele Projekte sind Ihnen bekannt, in denen Obdachlose an „kritischer oder systemrelevanter Infrastruktur“ mitarbeiten?
Wo arbeiten Obdachlose an „kritischer oder systemrelevanter Infrastruktur“ mit?
Welche Relevanz für welches System … ? Werfen Sie mir ruhig vor, dass ich dabei ebenfalls die Komplexität administrativer Vorgänge, bürokratischer Hürden, rechtlicher Normierungen und Statusgruppen bezogener Regeln außer Acht lasse – ich verzweifele regelmäßig an ihnen.
Christliche Kirchen und caritative Einrichtungen sind wichtige Institutionen im sozial-nachhaltigen Sektor, wenn auch sie nicht frei von ideologischen Vorannahmen und bürokratischen Voraussetzungen arbeiten (können). Für Nächstenliebe braucht es heute keine Bibelfestigkeit, wohl aber ausreichend Wissen über Rechtsformen, Mittel-Einwerbung und Steuererklärungen. Zumindest, wenn man sich in Deutschland dauerhaft in einer genormten Rechtsform (mit Gemeinnützigkeitsstatus) engagieren möchte. Ich sehe für die Kirchen eine große Chance „intersektional zu recyceln“, u.a. weil sie sich so in einen Kiez-Kreislauf einbringen, in dem sie nicht als hierarchisch asymmetrische, hegemoniale Entität als „Gebende“ gegenüber Obdachlosen als „Nehmenden“ auftritt, sondern sich vielfältig „zwischenschalten“ kann. Ob als „Informationsvermittler:innen“ zwischen Projekten, Anlaufstellen für die Ausgabe von Postkarten, in dem sie ihren eigenen Müll (künstlerisch) wiederverwenden und in den Kreislauf einspeisen usw. Der Gemeindebrief von gestern gereicht zur Art-Collage von morgen etc.
eine große Chance „intersektional zu recyceln“, wenn sich Kirchen als „Informationsvermittler:innen“ in einen Kiez-Kreislauf einbringen
Momentan designe, drucke, klebe, schreibe und verteile ich noch alle Postkarten händisch. Unabhängig davon in welche Zukunft sich mein Projekt Bahn schlägt, es könnte auch Ihr Zukunftsprojekt sein.
Erzählen Sie von der Idee „Intersektional Recyceln“, nehmen Sie Stift und Papier und schreiben einer fremden, marginalisierten Person einige liebe Worte. Dieses höchstpersönliche Austausch-Moment, dieses gar intime „Sehen und Gesehen-werden“ braucht keinen Projektrahmen, keine Institutionen, kein großes Sprachgeschick.
Laura Brauer lebt und arbeitet in Berlin. Gegenwärtig studiert sie im Master Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität, ist am Lehrstuhl Religionswissenschaften sowie im Projekt „Applied Humanities“ tätig. Laura Brauer veröffentlicht regelmäßig in Studierendenzeitungen, theologischen Feuilletons, zuletzt bei SPIEGEL Geschichte. Seit Dezember 2023 ist sie stellvertretende Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte an der Theologischen Fakultät zu Berlin.