Schon in neutestamentlicher Zeit gab es krisenhafte und hoffnungsarme Zeiten. Wie die ersten Gemeinden damit umgingen und was vielleicht daraus zu lernen ist, erzählt Markus Lau.
Wer dieser Tage auf das frisch begonnene neue Jahr 2025 vorausblickt und zugleich das Jahr 2024 Revue passieren lässt, dem mag aus guten Gründen mulmig werden. Wir leben, so scheint es, in insgesamt unruhigen Zeiten. Kriege mit all ihren grässlichen Begleiterscheinungen nehmen zu und nicht ab, Autokraten und nicht wirklich demokratieaffine Politiker:innen sind auf dem Vormarsch, die Schere zwischen bitterarm und sehr reich öffnet sich, die Macht globaler Unternehmen und einzelner Wirtschaftsführer:innen nimmt in atemberaubendem Tempo zu, die Klimaveränderung bekommen wir kaum eingebremst, die gesellschaftliche Diskurswetterlage verschiebt sich: Einfache Antworten auf komplexe Fragen und Probleme sind wieder salonfähig. Mit ihnen kann man Wahlen gewinnen. Allzu leicht ist wieder ein Sündenbock bestimmt und sind Mitmenschen zu «anderen» gemacht, ohne die schon alles irgendwie besser wird.
es ist in der Welt gerade irgendwie schwierig
Entziehen kann man sich diesem Lebensgefühl, dass es gerade irgendwie schwierig in der Welt geworden ist, nur schwer. Sicher, der nüchterne Blick auf vergangene Jahrzehnte und Jahrhunderte lässt ahnen, dass früher, also beispielsweise in der Phase von 1945 bis 2001 nicht immer alles einfacher war und wir manches, was uns schon früher hätte unruhig werden lassen können, schlechterdings übersehen oder ausgeblendet haben. Aber was nützt der Blick in die Vergangenheit oder gar, ich bin ja Neutestamentler, auf biblische Texte? Man lebt dann doch in der Gegenwart. Hoffnung, dass es auch im Jahr 2025 anders und besser werden kann in der Welt, fühlt sich dieser Tage jedenfalls wie harte Arbeit [1] an.
ein von Unsicherheit und Krisenerfahrung geprägtes Lebensgefühl
Harte Arbeit war Hoffnung allerdings auch früher – und damit komme ich dann doch auf neutestamentliche Texte zu sprechen. Denn diese Texte spiegeln, wie Menschen an den Anfängen der Jesusbewegung mit einem recht ähnlichen Lebensgefühl umgegangen sind. Das gilt, um ein Beispiel zu wählen, etwa für das älteste Evangelium des Neuen Testaments: das Markusevangelium, das in den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts nach Christus entstanden sein dürfte. Für die mit dem Judentum zutiefst verbundene Jesusbewegung und das sie zugleich umgebende Judentum war das eine ausgesprochen bedrückende Epoche. Und das aus mehreren Gründen: Der jüdisch-römische Krieg (66–70 n. Chr.) war mit der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung weiter Teile der Stadt und vor allem der Zerstörung des einen und einzigen Tempels für den einen Gott zu Ende gegangen. Rom hatte gewonnen, der Krieg hatte Menschen tausendfach das Leben gekostet, Fluchtbewegungen und Deportationen ausgelöst, Menschen um ihre Lebensgrundlage und ihr Land gebracht. Jüdische Menschen und damit auch Menschen, die als Jüdinnen und Juden in Jesus den Messias erkennen, zahlten ab dem Jahr 70 zudem eine Art römische Sonderstrafsteuer für ihr Jüdisch-Sein, den fiscus Judaicus, der zusätzliches Geld in die römische Staatskasse spülte. Jüdische Menschen waren in vielfacher Hinsicht «die anderen» und wurden gerade durch die Politik des flavischen Kaiserhauses auch als «die anderen», als die von Rom und seinem Kaiser unterworfenen Aufständischen, als die Besiegten, medial inszeniert. Der der römischen Jesusanhängerschaft angelastete Brand Roms in neronischer Zeit trug auf seine Weise dazu bei, ein Lebensgefühl gerade auch in den Reihen der Jesusbewegung zu evozieren, das von Unsicherheit und Krisenerfahrung geprägt war. Enttäuschungen im Blick auf die eigenen Glaubensüberzeugungen wie die ausbleibende Wiederkunft Jesu (Parusie), die Frage nach der Macht oder Ohnmacht Gottes angesichts der Tempelzerstörung oder auch die augenscheinliche Fehleinschätzung Jesu, dass das Reich Gottes bereits angebrochen sei, sich unaufhaltsam ausbreite und der Shalom Gottes und nicht die pax Romana herrschen würde, kamen als theologisch zu bewältigende Krisenerfahrungen hinzu.
inklusive Jesusgeschichten
In dieser von Unsicherheiten, mancher Trostlosigkeit und mannigfachen Krisenerfahrungen geprägten Phase beginnen Autor:innen der Jesusbewegung wie Markus Jesusgeschichten zu verfassen, die vom Leben Jesu gut 40 Jahre früher erzählen. Und zugleich spiegeln diese Texte die Erfahrungen von Jesusgemeinden in der Gegenwart der jeweiligen Autor:innen, insofern diese Erfahrungen in einer transponierten Weise in die Geschichte Jesu hineinerzählt werden. «Inklusive Jesusgeschichten» nennt man das in der Exegese zuweilen, weil sich das erzählte Leben Jesu und das Leben der Gemeinden in der Zeit der Entstehung der Texte in den Evangelien überlagern. Diese Texte lassen nun durchaus ein Bewusstsein dafür erkennen, dass Jesusgemeinden in herausfordernden und verunsichernden Zeiten leben (bzw. aus der Perspektive der erzählten Welt Jesu: leben werden). Die Jesusrede in Mk 13 ist dafür ein gutes Beispiel. Aber mitten in Krise, Katastrophe, Konflikt und Krieg hinein erzählt Markus auch davon, dass das Reich Gottes sich unaufhaltsam und geradezu irritierend mühelos durchsetzt – gegen allen Augenschein der Lebenserfahrungen der markinischen Leser:innenschaft. Zwei Beispiele [2]:
Mk 4,3–9
3 Hört! Siehe, hinausging der Säende zu säen. 4 Und es geschah beim Säen – das eine (Samenkorn) fiel entlang des Weges, und (es) kamen die Vögel und frassen es auf. 5 Und ein anderes (Samenkorn) fiel auf das Felsige, wo es nicht viel Erde hatte, und sofort ging es auf wegen des Nicht-Tiefe-Habens an Erde; 6 und als aufging die Sonne, wurde es verbrannt, und wegen des Nicht-Wurzel-Habens vertrocknete es. 7 Und ein anderes (Samenkorn) fiel in die Dornen, und aufstiegen die Dornen und erstickten es, und Frucht gab es nicht. 8 Und andere (Samenkörner) fielen in die gute Erde und gaben Frucht, aufsteigend und wachsend, und brachten: eines dreissig und eines sechzig und eines hundert. 9 Und er sagte: Wer Ohren hat zu hören, soll hören!
Mk 4,26–29
26 Und er sagte: So ist das Königtum Gottes, wie (wenn) ein Mensch warf den Samen auf die Erde 27 und schläft und aufsteht Nacht und Tag, und der Same keimt und wird lang, wie er selbst nicht weiss. 28 Automatisch bringt die Erde Frucht, zuerst Halm, dann Ähre, dann voller Weizen in der Ähre. 29 Wann (es) aber zulässt die Frucht, sofort schickt er die Sichel, weil ansteht die Ernte.
Beide Texte stellen Parabeln dar, deren Bildwelt aus der Landwirtschaft stammt, die für eine Aussage über das Wachstum des Reiches Gottes genutzt wird. Beide Texte erzählen dabei, merkwürdig genug, gerade nicht von harter Arbeit, die von der Hoffnung auf einen guten Ernteertrag motiviert ist. Die Erzählfiguren, die in beiden Geschichten aussäen, mühen sich angesichts des agrarischen Wissens antiker Kultur erstaunlich wenig um den eigenen Ernteertrag: Der eine sät aus, geht danach schlafen und macht nichts, um die Ernte zu sichern; der andere sät irgendwie gedankenlos auch auf den Weg, in die Felsen und die Dornen. In beiden Fällen aber geht die Saat in grossartiger, eben automatischer (vgl. Mk 4,28) Weise auf. Nur ganze drei Körner fallen in Mk 4,3–9 in so ungünstige Umstände, dass sie fruchtlos bleiben. Alle anderen bringen überreiche Frucht.
Empowermentstrategien
Diese Reich-Gottes-Parabeln werden oft als Ermutigungsgeschichten gelesen, die in der erzählten Welt die versammelte Zuhörerschaft motivieren sollen, das Reich Gottes zu verkünden und sich keine Sorgen um den Erfolg der eigenen Verkündigung, der eigenen Aussaat, zu machen. Das Reich Gottes wächst automatisch und mit grossartigem Erfolg. So gut wie jeder Saatvorgang, d.h. jeder eigene Versuch, an der Umsetzung des Reiches Gottes mitzuwirken, ist von Erfolg gekrönt.
Mit Blick auf die markinische Gemeinde verschiebt sich der Fokus der Bedeutung der Texte leicht: Hier fungieren sie noch stärker als ermutigende Hoffnungsgeschichten und in gewissem Sinne als Empowermentstrategien angesichts von Gegenwartserfahrungen, die die Hoffnung, dass das Reich Gottes sich wirklich durchsetzt, zu ersticken drohen. Das macht etwa die Ausdeutung der Parabel von Mk 4,3–9 in Mk 4,13–20 deutlich, wenn die Bildweltelemente Fels und Dornen als die Sorgen der Gegenwart und als Erfahrungen von Bedrängnis und Verfolgung aufgrund der eigenen jüdisch-christlichen Identität ausgedeutet werden. Genau das sind auch Erfahrungen der Gemeinde. Der biblische Text hält allerdings gegenüber solchen Erfahrungen daran fest, dass das Gottesreich sich trotz aller Bedrängnisse und Bedrohungen durchsetzt.
wider den Anschein Hoffnungsgeschichten erzählen
Die harte Arbeit der Hoffnung liegt dabei erkennbar nicht in der Erzählung selbst. In ihr muss sich niemand mühen. Das Tun der Erzählfiguren ist vielmehr von der Hoffnung geprägt, dass die Sache in jedem Fall gut ausgehen wird. Die harte Arbeit der Hoffnung besteht vielmehr darin, gegen den Augenschein dessen, was Markus und seine Gemeinde erleben, eine derartige Hoffnungsgeschichte überhaupt zu erzählen, also von Hoffnung wider den Anschein zu berichten. Solches Erzählen als Ermutigen gibt Kraft und lädt wohl vor allem zu einem Perspektivwechsel in Bezug auf die eigene Gegenwart ein. Markus ermutigt seine Gemeinde, mitten in den Strukturen einer ungerechten Welt genau hinzuschauen: nicht die Augen vor dem Unrecht zu verschliessen, aber eben auch nach den Spuren des angebrochenen Reiches Gottes zu suchen und an seiner Umsetzung gegen alle Widerstände mitzuwirken.
Spuren guten und gerechten Lebens suchen
Vielleicht ist ein solcher Perspektivwechsel auch für das Jahr 2025 eine gute Übung: nicht nur auf das Beunruhigende starren und sich von ihm lähmen lassen, so dass man die Augen vor ihm vielleicht gar verschliesst, die Nachrichten lieber gar nicht mehr wahrnimmt, um sich in seiner eigenen Wohlfühlblase nicht stören zu lassen; sondern auch die Spuren guten und gerechten Lebens suchen, daran mitwirken und nicht zuletzt auch gerade davon erzählen. Ja, Hoffnung ist harte Arbeit, aber sie lohnt sich.
[1] «Hoffnung ist harte Arbeit» begegnet z.B. mehrfach als Motto bei der Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer.
[2] Ich wähle in beiden Fällen die Übersetzung des Münchener Neuen Testaments, habe aber im Licht der griechischen Texte kleine Adaptionen vorgenommen.
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Prof. Dr. Markus Lau ist Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur und Mitglied des Zentralvorstandes des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks.
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