In Kriegszeiten über Frieden zu sprechen ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist es, dies mit Vertreterinnen unterschiedlicher Religionen zu tun und sich gemeinsam auf die Suche nach der Friedensbotschaft zu begeben. Marlen Bunzel, Elif Emirahmetoglu und Martina Bär über das Friedensverständnis in den drei monotheistischen Religionen.
Was meinen die monotheistischen Religionen eigentlich, wenn sie von Frieden, Salam, Schalom sprechen? Meinen sie dasselbe? Eine wohltuende Erkenntnis einer interreligiösen Tagung war: Ja, das Verständnis, was Frieden eigentlich ist, ist in den drei Religionen sehr ähnlich. Wir stehen miteinander auf einer gemeinsamen Basis. Ein Blick in die jüdische und christliche Bibel sowie in den Koran zeigt, dass „Schalom“ – „Frieden“ – „Salam“ keine abstrakten und auch keine absoluten Begriffe sind. Vielmehr handelt es sich um Beziehungsbegriffe. Frieden realisiert sich über Beziehungen. Wenn wir Menschen in unseren Beziehungen ehrlich miteinander umgehen, kann Frieden realisiert werden. So gilt die Wahrheit nach biblischem Verständnis als einer von drei Komplementärbegriffen zum „Frieden“: „Milde und Wahrheit treffen sich, Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.“ (Psalm 85,11). Jede*r kann einen Beitrag zum Frieden leisten. Im Umkehrschluss heißt das: Wer lieblos und unehrlich mit seinen Mitmenschen umgeht, verhindert Gerechtigkeit und verursacht Unfrieden. Dies wird im Koran bekräftigt, der einen weiteren Komplementärbegriff zum Frieden dazu legt: die Ruhe. Frieden wird im Islam (auch) verstanden als sowohl äußere als auch innere Ruhe. (Übrigens: Im polnischen ist das Wort für „Frieden“ fast dasselbe wie das Wort für „Ruhe“.) Wer in sich Ruhe hat, ist nah bei Gott, ist friedlich. Besonders die medinensischen Suren sind durchzogen von der Überzeugung, dass Krieg Unruhe stiftet.
Das Verständnis, was Frieden eigentlich ist, ist in den drei monotheistischen Religionen sehr ähnlich.
In Entsprechung dazu ist das Gegenteil von Frieden nach biblisch-mythischem und nach koranischem Verständnis somit auch nicht Krieg an sich, sondern Unruhe, Unordnung, Chaos. Das ist für uns heute vielleicht schwer nachzuvollziehen, doch lässt es sich damit erklären, dass die textliche Basis, auf die sich die drei Religionen stützen, jeweils in einem historischen Kontext entstanden ist, in dem der Wechsel von Krieg und Frieden zum Leben dazugehört hat. Die hebräischen und griechischen biblischen Texte reflektieren jeweils einschneidende Kriege (der Fall des Nordreiches 722 v.u.Z.; die Zerstörung des Ersten Tempels und der Beginn des Babylonischen Exils 586 v.u.Z.; der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n.u.Z.). Kriege waren es auch, die das Leben der Ersthörer*innen des Korans prägten (so der letzte römisch-persische Krieg in den Jahren 603–630 n.u.Z.). Krieg war also für die Verfasser der Schriften und ihre ersten Leser*innen Realität; Erfahrungen mit Kriegen flossen ein und haben die Erzählungen geprägt. Umso beeindruckender ist es, dass die Texte inmitten dieser kriegerischen Großwetterlage immer wieder Friedenvisionen, Friedensutopien enthalten. Zum Beispiel bei Micha, einer hebräischen Prophetenschrift: „Und er wird zwischen vielen Völkern richten und zwischen entferntesten mächtigen Völkern schlichten, und sie schlagen ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln, und kein Volk erhebt mehr gegen das andere die Waffe und sie lernen nicht mehr, Krieg zu führen. Und jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und es gibt niemanden, der Angst macht, denn der Mund des Lebendigen der Himmelsmächte hat es gesprochen.“ (Mi 4,3–4).
In dieser berühmt gewordenen Friedensvision wird deutlich, dass Frieden mehr ist als nur die Abwesenheit von Krieg; eine Waffenruhe genügt nicht. Frieden ist, wenn Menschen frei von Angst und in Zu-Frieden-heit leben können.[1]
Frieden, Krieg und Gender
In der jüdischen und christlichen Bibel sowie im Koran erscheinen Krieg und Kriegsgewalt als Unheil, das überwiegend von Männern kommt; Krieg ist darin eng verbunden mit der Vorstellung hegemonialer Männlichkeit. Hinzu kommt, dass die Rezeption der Texte, die bis vor wenigen Jahrzehnten nahezu ausschließlich aus einer männlichen Perspektive erfolgte, eine verzerrte Wahrnehmung transportiert.
Unheil, das überwiegend von Männern kommt
Die frühen Biographien des Propheten Mohammed beispielsweise richten ihren Fokus auf seine Kriegszüge – und verdecken damit dessen Friedensvisionen. Die Prophetenbiographien von Ibn Isḥāq (gest. 767/68) und Ibn Hischām (gest. 834) behandeln die Feldzüge des Propheten und veranschaulichen, wie die koranischen Offenbarungen in Relation zu unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Ereignissen entstanden sind. Doch ebenso wie die koranische Erlaubnis für den Krieg als Selbstverteidigung zur Lebensrealität der Erstadressat*innen der Offenbarung gehört, so beinhalten zahlreiche Passagen im Koran auch Hinweise und Regeln für die friedliche Koexistenz, was in der medinensischen Zeit der Prophetie als Leitfaden im Verhältnis zu Andersgläubigen fungierte. Der folgende Koranvers ist ein Beispiel dafür: „Für jeden von euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen angehört) haben wir ein (eigenes) Brauchtum und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft (umma) gemacht. Aber er (teilte euch in verschiedene Gemeinschaften auf und) wollte euch (so) in dem, was er euch (von der Offenbarung) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen!“ (5:48).[2]
Wenn Frauen nun stärker Verantwortung für die politischen Geschehnisse übernommen hätten, dann hätten sie das Unmenschliche des Krieges verhindert.
Was wäre, wenn die Stimmen von Frauen in der politischen Öffentlichkeit stärker zum Tragen kämen? Die jüdische Religionsphilosophin Margarete Susman (1872-1966) definierte im Ausgang des 1. Weltkrieges und der Novemberrevolution von 1918, dass die Politik nichts anderes sei als „die Ordnung der menschlichen Beziehungen in großen Gemeinschafsgebilden“[3], die aber im Krieg entmenschlicht, d.h. bar jeglicher Moral geworden sei. Anders gesagt: Wenn Politik nur noch auf leerer Machtorientierung und Propaganda basiere, habe sie sich jeglicher Menschlichkeit beraubt und gehe fehl. Wenn Frauen nun stärker Verantwortung für die politischen Geschehnisse übernommen hätten, dann hätten sie das Unmenschliche des Krieges verhindert. Susman teilt diese Überzeugung mit vielen pazifistischen Frauen ihrer Kriegsgeneration. Inmitten der Novemberrevolutionswirren in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg ruft Susman daher Frauen auf, jetzt Verantwortung für die politischen Geschehnisse zu übernehmen, da Frauen eine menschlichere Welt zu schaffen in der Lage sind. Schon die Revolution selbst wäre eine humane Revolution, die eine kraftvolle Umkehr (tschuva) zur Folge haben würde. Denn das Menschentum wurzelt im Leben der Gemeinschaft, die lebendige Verantwortung des Einzelnen für das Ganze bedeutet. Und das Ganze bedürfe insbesondere in der Revolution der Nachkriegszeit die lebendige Wärme eines unmittelbaren Lebens – nämlich der Liebe. Genau hierin sah die jüdische Religionsphilosophin den spezifischen Beitrag von Frauen für die Gesellschaft. Wenn Frauen diese humane Stimme politisch aktiv einbringen, „dann wird ganz gewiß unser gesamtes Leben ein menschlicheres Antlitz zeigen“. Mit Susman kann man Revolution als friedliche Schwangerschaft verstehen. In der schützenden Umgebung der rächäm (hebr.: Gebärmutter), die eine neue Realität gebiert: Neue kreative Kräfte mit der Erfahrung der Transformation können eine humane Menschheit zur Welt bringen, die Leben schützt statt tötet.
Jeder Mensch, jeder Mann, jeder Soldat, hat einen Anfang (gehabt), über den er* nicht verfügen kann.
Susman war eine Vertreterin der philosophischen Praxis der Fürsorge, die in der allen Menschen verbindenden Nativität wurzelt: in Geburtlichkeit, Neuschöpfung, Menschwerdung. Sie war zutiefst davon überzeugt, dass ein solches Denken die Menschheit menschlicher machen würde, denn es zielt darauf ab, jegliches Leben unbedingt zu schützen. Ein solches schöpferisches Denken und Reflektieren lässt sich nicht in abstrakte Kategorien, in Schubladen von leblosen Ideen stecken. Es funktioniert nicht isoliert, sondern in Relationen. Es ist friedlich. Und es ist nicht reserviert für Frauen, sondern es steht allen offen. Vielleicht genügt dafür schon das Rückbesinnen auf die eigene Nativität. Jeder Mensch, jeder Mann, jeder Soldat, hat einen Anfang (gehabt), über den er* nicht verfügen kann. Jeder Mensch wurde am Anfang seines Lebens geboren und fürsorglich beschützt, sonst hätte er die ersten Lebensjahre nicht überlebt – auch der sich unverletzlich wähnende Diktator. Mit Margarethe Susman lässt sich der Prozess der Schwangerschaft und Geburt als eine metaphysische und politische Metapher verstehen, die Frauen* nicht länger auf ihr biologisches Frausein beschränkt, sondern im Gegenteil, auch Männern* ermöglicht, ihr Denken, Reflektieren und Regieren aus ihrem Bauch heraus sich entwickeln zu lassen.
Umso fataler ist es mit ansehen zu müssen, wie ein Ziel des Kriegs von Putin darin besteht, die „Gender-Ideologie“ zu bekämpfen und zu beenden. Gerade die Berücksichtigung von Gender, die stärkere Präsenz von Frauen* in der Öffentlichkeit, in der Politik, bei diplomatischen Verhandlungen würde zu mehr Gerechtigkeit führen – und Frieden fernab von hegemonialen exklusiven Vorstellungen ermöglichen.
Interreligiöse Friedensgespräche benötigen safe spaces und brave spaces
Um im Kontext des Krieges Russlands gegen die Ukraine und des kriegerischen Nahost-Konfliktes interreligiöse Gespräche über Frieden und Krieg zu führen, bedarf es safe spaces und brave spaces. Diese Erfahrung haben wir auf einer Tagung der ESWTR (European Society of Women in Theological Research) im November 2024 gemacht, bei der Wissenschaftlerinnen der jüdischen, islamischen und christlichen Theologie, Philosophie und Religionswissenschaften vertreten waren. Dabei ging es nicht nur um einen intellektuellen Austausch, sondern es traten auch Verletzungen und tiefe, traurige Emotionen zutage. Es gab gemeinsame Minuten des Schweigens, in dem die Tränen und Trauer einer jüdischen Israelin hervorbrachen und sie ihre Angst über das Aufleben vergangen geglaubter Vernichtungsphantasien zur Sprache brachte. In diesem safe space war es auch möglich, dass die islamischen Theologinnen unter uns darüber sprachen, dass sie, sowie viele andere Muslim*innen in Deutschland, seit dem 7. Oktober nahezu unaufhörlich dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt sind, wenn sie sich zum Krieg in Gaza äußern (während christliche Theologinnen diese Anfeindungen kaum kennen).
die Perspektiven der anderen hören, aushalten und stehenlassen
Wir verstanden, dass es bereits sehr viel bedeutete, dass wir uns in einem gemeinsamen Raum befanden, dass wir die Perspektiven der anderen hörten und aushielten und diese stehenlassen konnten. Wir verstanden auch, dass wir zwar ganz unterschiedlich betroffen sind von den Kriegen in der Welt, aber dass doch jede an ihrem Platz in die Pflicht genommen ist: wach zu bleiben und im eigenen Kontext geradezustehen, Ungerechtigkeiten mutig anzusprechen und solidarisch miteinander zu sein, anstatt sich der Logik der Hegemonen zu beugen und den Krieg im Kleinen fortzuführen. So besehen war unser safe space ein brave space – ein mutiger Raum der Kommunikation, über die Grenzen von bislang Unausgesprochenem hinweg, ein mutiger Raum der Solidarität, in dem Frieden im Kleinen möglich geworden ist.
Autorinnen:
Dr. Marlen Bunzel, Gastprofessorin für Biblische Theologie am Zentralinstitut für Katholische Theologie, HU Berlin
Dr. des. Elif Emirahmetoglu, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie, HU Berlin
Prof.in Dr. Martina Bär, Professorin für Fundamentaltheologie, Universität Graz
Beitragsbild:
Hannah Busing, unsplash.com
Link zum Tagungsprogramm: ESWTR-Flyer
[1] Vgl. Ulrike Sals, Das Buch Micha. Die Kunst, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden, in: E. Ballhorn u.a. (Hg.), 73 Ouvertüren. Die Buchanfänge der Bibel und ihre Botschaft, Gütersloh 2018, 407.
[2] Übersetzung: corpuscoranicum.de.
[3] Margarete Susman, Die Revolution und die Frau, in: Das Flugblatt 4 (1918), abrufbar unter: http://www.margaretesusman.com/revolutionundfrau.htm [letzter Zugriff: 21.12.2024].