Als Leiter der Abteilung „Pastorale Entwicklung und Beratung“ im Bistum St. Gallen nimmt Dominik Michel-Loher Synodalität vor allem als ambitionierte Vision wahr. Damit sie konkret erfahrbar wird, bedarf es seines Erachtens vor allem einer tiefen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung.Erst recht in einer Welt, in der sich immer weniger Menschen aktiv an der Kirche beteiligen wollen.
Die katholische Kirche steht seit geraumer Zeit vor der Herausforderung, in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ihren Platz zu wahren. Ihre gesellschaftliche Relevanz nimmt weiterhin kontinuierlich ab. Synodalität, im Sinne eines gemeinschaftlichen Weges aller Getauften, bietet die Gelegenheit, die Kirche neu zu beleben und zu gestalten.
Was auf den ersten Blick einfach klingt, erweist sich jedoch schnell als nahezu unlösbare Aufgabe. Denn wie kann ein synodales Miteinander überhaupt entstehen, wenn sich viele Gläubige faktisch von der Kirche abwenden? Synodalität setzt voraus, dass es Menschen gibt, dich sich beteiligen. Je weniger sich beteiligen, desto schwieriger wird die Verwirklichung. Hier zeigt sich eine gegenseitige Abhängigkeit: Synodalität lebt von der aktiven Partizipation der Menschen, doch wenn Menschen nicht im synodalen Geist partizipieren können, kann die Kirche nicht als Gemeinschaft aller Getauften erfahren werden und bleibt für sie unattraktiv. Das eine bedingt das andere. Die zentrale Frage ist also, wie dieser Kreislauf durchbrochen werden kann.
Ohne Menschen keine Synodalität – und ohne Synodalität keine Erneuerung der Kirche.
Synodalität ist derzeit vor allem eine ambitionierte Vision. Ein ehrlicher Blick zeigt, dass ihre Umsetzung noch in den Anfängen steckt. Ein blosses „So-tun-als-ob“ bringt uns in diesem Prozess nicht weiter; im Gegenteil, es wirkt kontraproduktiv. Der Papst, die Bischöfe alle hauptamtlich Tätigen, dürfen es nicht beim Wunsch belassen, synodal sein zu wollen. Vielmehr müssen sie die Getauften konsequent und aktiv in die Gestaltung dieses Weges einbinden. Denn ohne Menschen keine Synodalität – und ohne Synodalität keine Erneuerung der Kirche.
Synodalität – eine Willensfrage
Angenommen, es gäbe ein Patentrezept für gelingende Synodalität: Würden die Verantwortlichen der Kirchenleitung den Mut aufbringen, dieses Rezept tatsächlich umzusetzen?
Menschen neigen dazu, Verluste stärker zu vermeiden, als sie Gewinne anstreben.
Welche Chancen könnten sich daraus ergeben – und welche Risiken wären damit verbunden? Noch provokanter gefragt: Wer würde davon profitieren, und wer könnte dabei verlieren? „Menschen neigen dazu, Verluste stärker zu vermeiden, als sie Gewinne anstreben“ (Kahneman und Tversky, Prospect Theory, 1979). In diesem Licht erscheint es wenig überraschend, dass der Papst und die Bischöfe zwar Synodalität als Ziel propagieren, gleichzeitig jedoch zögerlich agieren und den Fortschritt bremsen, möglicherweise aus Sorge, etablierte Strukturen zu verlieren. Wollen sie Synodalität wirklich ernst nehmen, müssen sie dieses Verhaltensmuster erkennen und durchbrechen. Ein Wandel, der alles beim Alten lässt, ist ein Selbstwiderspruch und kann nicht funktionieren. Entscheidend ist, dass die Kirchenleitung eine Kultur schafft, in der Sorgen vor Verlusten – etwa von Macht oder Tradition – angesprochen und bearbeitet werden können. Eine ehrliche Selbstreflexion ist der Schlüssel, um dieses Verhaltensmuster zu erkennen und nachhaltig zu verändern. Dieser Prozess stärkt zugleich das Vertrauen, was ein essenzieller Grundpfeiler für die Realisierung von Synodalität ist.
Zuhören und verstehen
Papst Franziskus betonte in seiner Ansprache zur Eröffnung der Weltsynode 2021–2024, dass das Hören eine der zentralen Grundlagen ist. Er sagte:
„Eine synodale Kirche ist eine Kirche des Zuhörens, im Bewusstsein, dass Zuhören mehr ist als Hören. Es ist ein gegenseitiges Hören, bei dem jeder etwas zu lernen hat. Das Volk Gottes, das Bischofskollegium, der Bischof von Rom – alle hören aufeinander, und alle hören auf den Heiligen Geist.“
Besteht überhaupt der Wille, einander wirklich zu verstehen und voneinander zu lernen?
Damit macht Papst Franziskus deutlich, dass es beim Zuhören nicht einfach um das passive Aufnehmen von Schallwellen geht. Vielmehr verweist er auf ein gegenseitiges Verstehen und ein „Von-einander-Lernen“, das den Kern der synodalen Haltung ausmacht. Es ist wohl keine gewagte These zu sagen, dass genau dieser Aspekt die ernsthafte Einführung von Synodalität oft schon im Ansatz scheitern lässt: Besteht überhaupt der Wille, einander wirklich zu verstehen und voneinander zu lernen?
Die geistliche Unterscheidung ist im Kontext der Synodalität ein ebenso zentraler Begriff wie das „Aufeinander-Hören“. Dennoch zeigt die kirchliche Praxis, dass auch die geistliche Unterscheidung häufig nur ein frommer Wunsch bleibt. Ist es nicht vielmehr so, dass die innerkirchliche Polarisierung nach dem Motto „Wenn es nicht meiner Meinung entspricht, kann es nicht vom Heiligen Geist kommen“ gerade hier besonders sichtbar wird? Eine solche Haltung erstickt den Diskurs im Keim und macht wahre Synodalität nahezu unmöglich.
Eine Verankerung von Haltungen und Praktiken des echten Zuhörens und der geistlichen Unterscheidung ist zentral. Schulungen, die Schaffung geschützter Dialogräume, klar definierte Prozesse und ein kultureller Wandel zu mehr Demut und Offenheit sind entscheidende Schritte, um wahre Synodalität zu ermöglichen.
Wie viel Partizipation darf es sein?
Im europäischen Kontext wird Synodalität häufig mit einem demokratischen Prozess gleichgesetzt. Bei der Synodalität geht es jedoch nicht darum, Mehrheiten zu bilden oder mit Abstimmungen Entscheidungen zu treffen. Vielmehr liegt der Fokus darauf, alle Stimmen zu hören – insbesondere auch die der Minderheiten – und diese in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Synodalität bedeutet somit eher Partizipation: Ein aktives Mitwirken und Mitgestalten aller Beteiligten, unabhängig von Status oder Zahl. Es geht darum, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und die Kirche als eine hörende und dialogfähige Gemeinschaft zu gestalten.
Partizipation wird häufig als ein Stufenmodell dargestellt, das unterschiedliche Grade der Beteiligung abbildet. Diese reichen in den meisten Modellen von der reinen Informationsweitergabe bis hin zur vollständigen Entscheidungsbefugnis. Die Anhörung wird dabei meist als eine der niedrigsten Stufen von Partizipation definiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wo wären das „Aufeinander-Hören“ und die geistliche Unterscheidung in solchen Modellen anzusiedeln? Teilnehmende an synodalen Prozessen erwarten in der Regel eine Beteiligung, die über eine blosse Anhörung hinausgeht. Im Minimum rechnen sie mit direkter Mitbestimmung, wenn nicht sogar mit einer teilweisen Mitentscheidung. Daher ist es zentral, jeweils klar zu definieren, wie hoch der Grad an Mitbestimmung in synodalen Prozessen tatsächlich ist.
Ein synodaler Prozess muss auch Emotionen wecken: das Gefühl von Zugehörigkeit, Hoffnung und gemeinsamen Aufbruch.
Synodalität lebt davon, dass sich Menschen ernst genommen und eingebunden fühlen. Um Partizipation zu ermöglichen und die Menschen wieder für die aktive Beteiligung an der kirchlichen Gemeinschaft zu begeistern, spielen Emotionen eine Schlüsselrolle. Ein synodaler Prozess darf sich daher nicht auf rein rationale Diskurse beschränken, sondern muss auch Emotionen wecken: das Gefühl von Zugehörigkeit, Hoffnung und gemeinsamen Aufbruch. Es geht darum, die Kirche als lebendigen Ort des Dialogs und des gemeinsamen Lernens erfahrbar zu machen. Wo Menschen sich verstanden und gehört fühlen, entsteht Vertrauen – der unverzichtbare Baustein für gelingende Synodalität.
Wenn Beteiligung der Schlüssel zur Synodalität ist, ist es widersprüchlich und unhaltbar, von vornherein bestimmte Menschen faktisch auszuschliessen oder ihnen die vollumfängliche Beteiligung zu verwehren.
Dies setzt voraus, dass alle Getauften als wahrhaft vollwertige Mitglieder der kirchlichen Gemeinschaft anerkannt werden. Aspekte wie sexuelle Identität, sexuelle Orientierung, Geschlecht oder Beziehungsformen dürfen nicht länger als „heisse Eisen“ tabuisiert werden, die gelingende Synodalität verhindern. Ein solches Ausgrenzen wirkt nicht nur unglaubwürdig, sondern offenbart den mangelnden Willen zu echter Veränderung. Wenn Beteiligung der Schlüssel zur Synodalität ist, ist es widersprüchlich und unhaltbar, von vornherein bestimmte Menschen faktisch auszuschliessen oder ihnen die vollumfängliche Beteiligung zu verwehren. Eine Kirche, die diesen Widerspruch überwindet, schafft die Grundlage für ein authentisches, inklusives Miteinander und eröffnet den Weg zu echter Gemeinschaft und Erneuerung.
Selbstbewusstsein im Kontext der Kirche bedeutet, die eigene Identität aus dem Evangelium zu schöpfen und gleichzeitig die Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen.
Eine selbstbewusste Kirche ist keine starre Institution, die um ihre Macht fürchtet, sondern eine Gemeinschaft, die offen auf die Menschen zugeht und mutig Veränderung wagt. Selbstbewusstsein im Kontext der Kirche bedeutet, die eigene Identität aus dem Evangelium zu schöpfen und gleichzeitig die Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen. Dabei müssen die Gemeinschaft aller Getauften, insbesondere die Kirchenleitung und die Mitarbeitenden, auch die Fähigkeit zur Selbstkritik beweisen und innerkirchliche Polarisierungen überwinden.
Um Synodalität zu verwirklichen, braucht es klare Strukturen und Räume, in denen Mitwirken nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist.
Letztlich stellt sich die Frage, was Menschen überhaupt zur Beteiligung motiviert. Menschen schliessen sich lieber Gemeinschaften an, die eine positive Dynamik ausstrahlen und echte Teilhabe ermöglichen. Eine synodale Kirche hat das Potenzial, eine attraktive Gemeinschaft zu sein – nicht im Sinne von Macht oder Prestige, sondern als lebendiges Miteinander, in der jede:r eine Rolle spielt, gehört wird und Verantwortung übernimmt. Es reicht nicht, Partizipation zu propagieren; sie muss praktisch ermöglicht werden. Menschen müssen erleben, dass ihre Beiträge wertgeschätzt werden und dass sie gemeinsam etwas bewegen können.
Um das zu erreichen, braucht es klare Strukturen und Räume, in denen Mitwirken nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist – für engagierte Mitglieder ebenso wie für „Gelegenheitsbesucher:innen“. Es muss sicht- und spürbar werden, dass jede Stimme zählt und dass Kirche ein Ort ist, der gemeinsam gestaltet werden kann.
Fazit
Synodalität verlangt mehr als gute Absichten. Sie erfordert eine aktive Gemeinschaft, die Emotionen schafft, ihre Identität selbstbewusst lebt und sich als offenes Miteinander versteht, in der jeder und jede dazugehört und etwas beitragen kann. Nur so kann die Kirche ein solche attraktive Gemeinschaft sein, die Menschen anzieht, bindet und begeistert. Die Frage, wie Menschen beteiligt werden können, muss dabei stets im Zentrum stehen. Es ist Zeit, diesen Weg mutig zu gehen und die Vision der Synodalität zu einem gelebten Miteinander zu machen.
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Der Theologe Dominik Michel-Loher ist Leiter Abteilung Pastorale Entwicklung und Beratung im Pastoralamt des Bistums St. Gallen.
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