Am 20.1. wäre Ernesto Cardenal 100 Jahre alt geworden. Josef Estermann, selbst viele Jahre in Südamerika tätig, benennt die wichtigsten Lebensstationen – und hebt seinen befreiungstheologischen wie auch poetischen Ansatz hervor.
Mein Gott, mein Gott – warum hast Du mich verlassen?
Ich bin zur Karikatur geworden,
das Volk verachtet mich.
Man spottet über mich in allen Zeitungen.
Panzerwagen umgeben mich,
Maschinengewehre zielen auf mich,
elektrisch geladener Stacheldraht schliesst mich ein.
Jeden Tag werde ich aufgerufen,
man hat mir eine Nummer eingebrannt
und mich hinter Drahtverhauen fotografiert.
(Psalm 22, aus: Canto a la vida. Gedichte von Liebe, Mystik und Revolution, 1967)
Am 20. Januar wäre Ernesto Cardenal Martínez hundert Jahre alt geworden. Der Mann mit der schwarzen Baskenmütze und den schlohweissen Haaren ist nicht nur in Lateinamerika eine Legende, sondern auch in Europa, speziell in Deutschland, Österreich und der Schweiz vielen bekannt. In seinem langen Leben (20. Januar 1925 – 1. März 2020) hat Cardenal mehrfach das Exil und die Vertreibung, aber auch die Ablehnung durch die Amtskirche erfahren müssen. Je nach Perspektive gilt Cardenal als Befreiungstheologe, Dichter, Revolutionär, Mystiker, Politiker, Marxist, Priester oder Mitglied der Basisgemeinschaft von Solentiname. In allem aber war er ein Mensch mit Rückgrat und aufrechtem Gang.
Je nach Perspektive gilt Cardenal als Befreiungstheologe, Dichter, Revolutionär, Mystiker, Politiker, Marxist, Priester oder Mitglied der Basisgemeinschaft von Solentiname.
Vom Dichter zum politischen Verfolgten
Ernesto Cardenal stammt aus einer wohlhabenden Familie der Oberschicht Nicaraguas. Schon mit zehn Jahren trat er ins Jesuitenkolleg in León und später in jenes seiner Geburtsstadt Granada ein. Allerdings galten seine Interessen zu Beginn der Poesie und Literatur, eine Begabung, die er von seinen Eltern und Grosseltern mit auf den Weg bekommen hat. Von 1942 bis 1946 studierte Cardenal Literatur und Philosophie an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) und von 1947 bis 1949 an der Colombia University von New York. 1949 und 1950 bereiste er zum ersten Mal Europa, unter anderen die Länder Italien, Spanien und die Schweiz.
Schon als Student hatte sich Cardenal nicht nur schriftstellerisch betätigt, sondern auch immer stärker politisch engagiert. Nach seiner Rückkehr aus Europa schloss er sich 1952 der oppositionellen Jugendbewegung UNAP (Unión Nacional de Acción Popular) an. Anastasio Somoza García hatte im gleichen Jahr zum zweiten Mal (nach der Diktatur von 1937-1947) die Macht an sich gerissen; der Somoza-Clan sollte Nicaragua von 1937 bis zum Sieg der sandinistischen Revolution 1979 mit eiserner Hand und brutaler Unterdrückung regieren. 1954 nahm Cardenal aktiv an der «April-Revolution» gegen Somoza teil; er entkam nur knapp dem Massaker durch die Schergen der Diktatur, gegen die er in Schmähgedichten angekämpft hatte. 1956 musste er zum ersten Mal ins Exil.
Der Poet der Liebe
Ernesto Cardenal trat ins Trappistenkloster Gethsemani in Kentucky (USA) ein, wo er während zwei Jahren von Thomas Merton als Novizenmeister begleitet wurde. Im Kloster entstand sein erstes Buch Vida en el amor (1959; 1971 auf Deutsch Das Buch von der Liebe). Damit war ein Thema gesetzt, das sich das ganze Leben wie ein roter Faden durch das Wirken und Werk von Cardenal durchziehen sollte: die Liebe.
Al perderte yo a tí –
Al perderte yo a ti, tú y yo hemos perdido:
yo, porque tú eras lo que yo más amaba,
y tú, porque yo era el que te amaba más.
Pero de nosotros dos, tú pierdes más que yo:
porque yo podré amar a otras como te amaba a ti,
pero a ti nadie te amará como te amaba yo.
Als ich dich verlor
Als ich dich verlor, haben wir beide verloren:
ich, weil Du die warst, die ich am meisten liebte,
und Du, weil ich es war, der Dich am meisten liebte.
Doch von uns beiden verlierst Du mehr als ich,
weil ich andere lieben kann, wie ich Dich liebte,
doch Dich wird niemals jemand so lieben wie ich Dich.
Die Salmos (Psalmen) nahmen in poetischer Form das Anliegen der Befreiungstheologie über zehn Jahre früher auf.
1959 musste Cardenal sein Noviziat aus Gesundheitsgründen abbrechen. Zwei Jahre lang war er Gast in der Benediktinerabtei Santa María de la Resurrección in Cuernavaca (Mexiko), wo er das Theologiestudium begann. Dieses führte er ab 1961 in Medellín (Kolumbien) fort und war eine Zeitlang Dozent am Priesterseminar. In dieser Zeit schrieb er die Salmos (Psalmen), die in poetischer Form das Anliegen der Befreiungstheologie über zehn Jahre früher aufnahmen, als diese dann explizit in Erscheinung treten sollte (1973: Teología de la Liberación von Gustavo Gutiérrez). Die Salmos, aus denen das Zitat zu Beginn dieses Beitrags stammt, erschienen 1969 (auf Deutsch 1979).
Vom Befreiungstheologen zum Revolutionär
Nachdem er wieder aus dem Exil nach Nicaragua zurückkehren konnte, wurde Cardenal 1965 in Managua zum Priester geweiht. Ein Jahr später gründete er zusammen mit dem Schriftsteller William Agudelo eine nach urchristlichen Vorstellungen ausgerichtete Basisgemeinde oder Kommune auf der Insel Solentiname im Grossen See von Nicaragua. Dort schrieb er sein in Europa bekanntestes Buch: El Evangelio en Solentiname (1975; Das Evangelium der Bauern von Solentiname 1977). 1977 wurden die Einrichtungen von Solentiname von den Streitkräften der Diktatur von Somoza (Anastasio Somoza Debayle) zerstört. Cardenal musste zum zweiten Mal ins Exil, diesmal nach Costa Rica, wo er sich der sandinistischen Befreiungsfront FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) anschloss.
Usted tiene que arreglar su situación – «Sie müssen Ihre Situation in Ordnung bringen!»
Nach dem Sieg der sandinistischen Revolution (19. Juli 1979) kehrte Cardenal in sein Heimatland zurück und wurde in der revolutionären Regierung von Daniel Ortega Kulturminister. Dieses Amt hielt er bis 1987 inne und setzte vor allem eine intensive Alphabetisierungskampagne um. Anlässlich des Besuchs von Papst Johannes Paul II 1983 verweigerte dieser dem vor ihm knieenden Cardenal den Segen und wies ihn mit den Worten zurecht: Usted tiene que arreglar su situación – «Sie müssen Ihre Situation in Ordnung bringen!» Womit nicht nur sein Amt als Kulturminister einer revolutionären Regierung, sondern auch sein Engagement für die Basiskirche und sein Bekenntnis zu einem kritischen Marxismus gemeint waren. Zwei Jahre später wurde er vom Priesteramt suspendiert; diese Kirchenstrafe wurde erst 2019, ein Jahr vor seinem Tod, von Papst Franziskus aufgehoben.
Erneut in der Opposition
1988 gründete Ernesto Cardenal mit dem österreichischen Schauspieler Dietmar Schönherr das internationale Kultur- und Entwicklungsprojekt Casa de los tres mundos in Granada, das unter anderem von dem in Münster (Deutschland) beheimateten Verein Pan y Arte unterstützt wird. Wegen dem immer autoritärer werdenden Führungsstil von Daniel Ortega verlässt Cardenal 1994 die FSLN und damit die aktive Politik. Er widmet sich fortan wieder vermehrt seinem lyrischen Schaffen. 1989 erschien mit dem Gedichtband Cántico Cósmico (auf Deutsch 1995 als «Gesänge des Universums» erschienen) jenes Werk, das ihn in der lateinamerikanischen Literatur ein für allemal etablieren sollte. 2005 wurde Cardenal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen.
Ab 2008 geriet Cardenal immer mehr ins Visier von Staatspräsident Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo, weil er deren autokratische und korrupte Führung immer wieder offen zu kritisieren wagte. 2020 starb Ernesto Cardenal im Alter von 95 Jahren in Managua.
Cardenal ging es nicht um «Theologie» im eigentlichen Sinne, sondern um eine revolutionäre Glaubenspraxis und eine «Mystik des Widerstands».
Befreiungstheologe sui generis
Ernesto Cardenal war nicht irgendein Befreiungstheologe. In den meisten Kompendien zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie kommt er nicht oder nur am Rande vor. Dabei hatte er die wesentlichen Punkte der später so genannten Theologie der Befreiung schon 1961 in den Salmos (Psalmen) vorweggenommen. Seine Befreiungstheologie war mystisch, poetisch und politisch-revolutionär und unterschied sich daher von den befreiungstheologischen Ansätzen von Gutiérrez, Boff oder Sobrino, um nur drei Namen zu nennen.
Cardenal ging es nicht um «Theologie» im eigentlichen Sinne, sondern um eine revolutionäre Glaubenspraxis und eine «Mystik des Widerstands», wie es Dorothee Sölle formulieren würde. Zeitlebens verstand sich Cardenal als Marxist und Sozialist und hegte grossen Respekt für Fidel Castro und Hugo Chávez. Ein Christentum, das dem historischen Jesus von Nazareth verpflichtet ist, kann nach Cardenal nur sozialistisch sein. Dabei bezog er sich weder auf den Realsozialismus der Sowjetzeit noch auf einen dogmatischen Marxismus, sondern auf eine religiös verstandene Grundlage für eine genuin lateinamerikanische sozialistische Revolution. In der sandinistischen Revolution von 1979 sah er eine solche als reale Möglichkeit, weshalb er sich denn auch als Kulturminister explizit politisch betätigte.
Bis zu seinem Tod war er überzeugt, dass die Bauern und einfachen Leute das Evangelium viel besser und authentischer verstünden als Theologinnen und Theologen oder das Lehramt.
Allerdings war er auch einer der ersten und schärfsten Kritiker des «Verrats» an dieser «Revolution» durch Daniel Ortega und dessen Frau. Das «Experiment» Solentiname galt Cardenas als Versuch, das Reich Gottes auf Erden Wirklichkeit werden zu lassen. Bis zu seinem Tod war er überzeugt, dass die Bauern und einfachen Leute das Evangelium viel besser und authentischer verstünden als Theologinnen und Theologen oder das Lehramt. «Ich entdeckte, dass die Bauern – die Armen – diejenigen sind, die das Evangelium am besten verstehen können. Es ist, als wäre es für sie geschrieben. Oft entdeckten sie Dinge, die ich nicht sah – nie am Evangelium verstanden hatte – ich, der ich doch Seminare besucht hatte und Theologie studiert hatte.»
Werke in deutschsprachigen Ausgaben (Auswahl)
- Zerschneide den Stacheldraht. Südamerikanische Psalmen. Mit einem Nachwort von Dorothee Sölle. Wuppertal 1967.
- Das Buch von der Liebe. Lateinamerikanische Psalmen. Gütersloh 1971.
- Gebet für Marilyn Monroe und andere Gedichte. Nachwort: Kurt Marti. Wuppertal 1972.
- Das Evangelium der Bauern von Solentiname. 2 Bände. Wuppertal 1976/1978; Neuausgabe 1991.
- Meditation und Widerstand. Dokumentarische Texte und neue Gedichte. Vorwort von Helmut Gollwitzer. Gütersloh 1977.
- Das poetische Werk. 9 Bände. Wuppertal 1985–1989.
- Wir sind Sternenstaub. Neue Gedichte und Auswahl aus dem Werk. Wuppertal 1993.
- Gesänge des Universums – Cántico Cósmico. 2 Bände. Wuppertal 1995.
- Aus Sternen geboren. Das poetische Werk. 2 Bände. Wuppertal 2012.
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Josef Estermann, promovierter Philosoph und Theologe, war über 17 Jahre in den Anden Südamerikas (Peru und Bolivien) und sechs Jahre am Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V. (MWI) in Aachen tätig. Seit der Rückkehr aus Lateinamerika (2012) bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und als Bildungsleiter im RomeroHaus (Schweiz).
Beitragsbild: Von Dontworry – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22022328