In der Gegenwartsliteratur beobachtet Christoph Gellner eine Verschiebung von religiösen zu spirituellen Themen. Anhand unterschiedlicher literarischer Beispiele illustriert er diese Dynamik.
„Wo Sinn war, ist Suche“[1], beschreibt John von Düffel pointiert die Verschiebung von Religion zu Spiritualität, wie sie Religions- und Kultursoziologen aktuell diagnostizieren. Die Rede ist von einer zunehmend individuellen Suche nach Spirituellem, die sich meist außerhalb institutionell vorgegebener Sinndeutungen verfasster Religionen bewegt, bei der sich die Grenzen zwischen Religiösem und Nicht-Religiösem auflösen. In seinem „Stundenbuch“, so der Untertitel, lehnt sich der Romancier und Theaterautor eng an die monastische Tradition des Tagzeitengebets an. Von der Morgenhore um fünf Uhr bis zur 18. Stunde entfaltet der durch seinen Vater atheistisch geprägte Schriftsteller, der sich unüberhörbar von Religion distanziert, eine zeit- und spirituell sensible „Suche nach dem Genug“ (203).
Sehnsucht nach Tiefendimensionen des Lebens
Anders als den „Asketen der Vergangenheit“ geht es ihm nicht um Entbehrungen, sondern um das Entbehrliche, betont Düffel. Das Mehr und Immer-Weiter werde angetrieben von der Schere zwischen Wollen und Brauchen, der Endlosspirale von Konsum, Unerfülltheit und noch mehr Konsum: „Weil ich nie bekomme, was ich wirklich brauche / Bekomme ich nie genug“ (145). Diesem „Sisyphos des Konsums“ stellt Düffel den modernen „Asketen der Zukunft“ gegenüber: „Was brauche ich, was nicht / Wie viel, wie wenig ist genug?“ (104) sind seine Leitfragen: „Wenn es wesentlich ist / Ist wenig genug“ (206). So lasse sich selbst der Endlichkeit, Krankheit und Tod, schon in Rainer Maria Rilkes «Stunden-Buch» (1905) der Kulminationspunkt alles Nachdenkens über das richtige Leben, ein „Moment des Genügens“ abgewinnen, wie Düffel verdeutlicht: „Genug ist nicht nur eine Kategorie / des Abends und des Endes / Sondern eine des Glücks / In jedem Moment“ (202f.).
Spiritualität ist zu einem Leitbegriff der religiösen Gegenwartskultur geworden, zu einem nicht bloß alternativreligiös-esoterischen Schlüsselwort, das dafürsteht, dass die Wirklichkeit im Vorhandenen nicht aufgeht. Ein religiöser Deutungsrahmen spielt oft keine Rolle, auch Atheisten oder Agnostikerinnen können sich als spirituell bezeichnen. Andreas Nehring betont, dass Spiritualität „als ein Diskursphänomen aufgefasst werden sollte“, in ihm artikuliere sich „die Sehnsucht nach Tiefendimensionen des Lebens angesichts des Bedeutungsverlustes der Kirchen“[2]. Dass immer mehr Menschen sich als „spirituell, nicht religiös“ deklarieren, bedeutet für Ulrike Irrgang, „dass Spiritualität nun nicht mehr als eine Dimension von Religion verstanden wird, sondern eher Religion als eine Dimension von Spiritualität“[3]. Christoph Bochinger und Hubert Knoblauch argumentieren: Von Religion könne man nur im Zusammenhang mit einer kollektiven Verbindlichkeit sprechen, eines affirmativen Bezugs auf spezifisch religiöse Deutungen einer Religionsgemeinschaft, andernfalls spreche man besser von Spiritualität.
Spiritualität ist ein Leitbegriff religiöser Gegenwartskultur.
Unzählige Varianten einer Poesie der Suche
Mit Hartmut Rosa verstehe ich Spiritualität als Suche nach „vertikaler Tiefenresonanz“ im Blick auf die Welt als Ganze[4]. Zugleich beobachtet der Soziologe, dass ästhetische Resonanzfähigkeit zunehmend an die Stelle religiöser Resonanzfähigkeit tritt. Laut dem Religionsphilosophen Charles Taylor führt diese Subjektivierung des Religiösen zu einer „spirituellen Supernova“[5]. Peter Sloterdijk streicht unzählige Varianten einer Poesie der Suche heraus und betont: „Entkirchlichung und spirituelle Rezeptivität bilden für die Nachmoderne keinen Widerspruch“[6].
Im Blick auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur versuche ich dieser sich verändernden religionskulturellen Grammatik Rechnung zu tragen. Das Fazit? Auf einer breiten Skala zwischen säkularer und religiöser Orientierung bietet die Suche zeitgenössischer Literatur nach (Selbst-) Transzendenz, Sinn(-bildung), Verbunden- und Bezogenheit auf ein den Menschen übersteigendes Ganzes zahlreiche Anstösse, das Spirituelle über das christlich-kirchliche Spektrum hinaus weit(er) zu denken. Möglichst induktiv-konkret gebe ich hier anhand einiger Müsterchen Einblick in diese vielfältigen Spielarten des Spirituellen.
Aus einer ungefragten Welt eine gefragte machen
„Es war einmal ein Credo, das mit dem Glauben an den einen und einzigen Gott begann. Was aber, wenn ich ein solches Credo nicht mehr spreche? Beginnt dann eine Glauben-lose Zeit? Oder trat an Stelle des einstigen Credos ein anderes?“, fragte Hugo Loetscher auf der Kanzel des Zürcher Großmünsters. „Dieses neue Credo basiert nicht auf Offenbartem. Es geht von dem aus, was ich als conditio humana erlebe, als unsere menschliche Bedingtheit. Da steht am Beginn meine Irritation, dass wir ungefragt auf die Welt kommen.“[7]
Dieses Ungefragte unserer Menschenexistenz bildet das verstörende Zentrum von Loetschers Vermächtnisbuchs War meine Zeit meine Zeit, es bemüht dafür das Bild von der „Geburt als einer Reise, die von mir nicht gebucht worden ist“ (83). „Dass es die Welt gibt“, wolle er allein schon darum, „dass es die gibt, die ich liebe“, bilanziert der Schweizer Autor. „Auch wenn mir die Argumente zugunsten dieser Welt schwerfallen. Eines bleibt, sie zu lieben, da ich für die Liebe keiner Begründung bedarf – alle Ungeheuerlichkeiten und jeden Wahnsinn vor Augen, ertragbar dank einer Zuneigung, die unbelehrbar ist. Es sind die Füße, die den Boden erfinden. Aus einer ungefragten Welt eine gefragte machen.“ (408f.)
Durchdringung der Welt von innen
Literatur als Medium der Weltakzeptanzreflexion, als „Wieder-Anbindung an die Welt“ (Raoul Schrott): Nicht selten kommt es zu erstaunlichen Re-Lektüren des Christlichen. Etwa in den großen Wanderungsbüchern von Peter Handke Mein Jahr in der Niemandsbucht, Der Bildverlust, Die Obstdiebin. Indem Handkes Aufmerksamkeitskunst Kirchlich-Religiöses ins offen Poetisch-Spirituelle transformiert, neu codiert – „Mehr an Gebet ist nicht in mir als ein zeitweiliges ‚Gott, wie schön!‘?“[8] –, entfaltet sie eine kaum gesehene ökospirituelle Tiefendimension: „Schreiben / Erzählen / Rhythmisieren: das Dasein, die Existenz resakralisieren, ohne ‚Religion‘“[9].
Literatur als Medium der Weltakzeptanzreflexion.
Die „Anmutung eines spirituellen Wahrnehmens – wenn man sich denn darauf verständigt, dass ‘spirituell’ bedeutet, die Welt nicht einfach faktisch zu lesen, sondern als bedeutungstragend“[10], ist zentral für das Schreiben von Hanns-Josef Ortheil. Unlängst machte er im Deutschlandfunk einen mehr suchenden als wissenden Stil von Theologie und Verkündigung stark: „Der Glaube hat nichts von einem Regiment der Welt, sondern ist eine spirituelle Durchdringung der Welt von innen, eine Auslegung, die immer frei bleibt. Spirituelle Erfahrungen sind Erfahrungen einer anderen, zweiten, mit Bedeutung durchtränkten Welt. Als Kind habe ich sie in den Gotteshäusern kennengelernt“, resümiert Ortheil, wovon sein Roman Die Erfindung des Lebens erzählt. „Alles und jedes sollte eine ‘Bedeutung’ haben, selbst der Alltag sollte davon erstrahlen.“
Kosmisches Gewimmel verwurzelt im Licht
Brigitte Kronauers Roman Gewäsch und Gewimmel entwickelt im vorletzten, „Gewimmel“ überschriebenen Kapitel aus Matthias Grünewalds Weihnachtsdoppelbild des Isenheimer Altars ein faszinierendes Bild der fortwährenden Schöpfung. Über dem „Engelskonzert“ in der linken Bildhälfte sowie der Mutter mit dem Kind auf der rechten Seite fokussiert Kronauer auf „das ungeheuerliche Herablassen der ewigen Urkraft“ als „der wichtigeren Bildhälfte“ der Tafel. So vergegenwärtigt die Hauptfigur des Romans, Elsa Wäns, die „nahezu blasphemische“ Deutung von Pfarrer Dillburg. Ihm zufolge gehe es hier um „die doppelte Menschwerdung“: „um die biblisch überlieferte Menschwerdung des Göttlichen im rosigen, sehr rundlichen Säugling und um die andere, die kaum ahnbare Skizzierung seines Angesichts in der Höhe, seine jede Formel übersteigende Andeutung in einer Epiphanie des Lichts“. Elsa Wäns begreift nur so viel: „Es müsse der Gottvater sein, in dessen Strahlenkleid unzählige Wesen aufwärts- und abwärtsschössen“. Ja, über dem Gewimmel von Engeln und Menschen, in das nahezu alle Romanfiguren eingesogen werden, throne ein „in Myriaden Scherben zersplitterter und sich wieder in sich einsaugender und einschmelzender Gott“[11].
Ein aus unerschöpflicher Schöpfungsenergie pulsierendes kosmisches Gewimmel: In seiner kühnen Universalisierung von Weihnachten berührt sich dies eng mit Meister Eckharts radikal inkarnatorischer Spiritualität. „Das alles Entscheidende und Allergreifendste“, so Dillburg, sei „das Bewohnen des gesamten Raums zwischen Himmel und Erde mit einer unendlichen Fülle von Wesen, die sich ohne Ausnahme, und sei es unwissentlich und ob sie sich sträubten oder nicht, im allmächtigen Sog des auslöschenden, wiedergebärenden höchsten Lichts befänden.“
___
Christoph Gellner, Dr. theol., ist Experte für Religion und Literatur. sowie Mitglied der Gesellschaft für die Erforschung der Deutschschweizer Literatur G.E.D.L.
Beitragsbild: https://pixabay.com/de/photos/bücher-stapel-buchhandlung-1163695/
Bild des Isenheimer Altars: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mathis_Gothart_Grünewald_036.jpg
[1] John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche. Berlin 2022, 120.
[2] Andreas Nehring: Spiritualität im religiösen Pluralismus, in: Lars Allolio-Näcke/Peter Bubmann (Hg.): Spiritualität. Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2022, 51.
[3] Ulrike Irrgang: Spirituell, aber nicht religiös?! Über die Entgrenzung des Begriffs der Spiritualität als Chiffre einer Zeitenwende, in: Zeiten wenden?! Konstellationen von Gottesreden nach der Postmoderne, hg. v. Anne-Kathrin Fischbach u. Stephan Tautz, Paderborn 2023, 298.
[4] Vertiefende Analysen und Kontextualisierungen siehe Christoph Gellner: „Wo Sinn war, ist Suche“. Spielarten des Spirituellen in der Gegenwartsliteratur, Freiburg i. Br. 2024.
[5] Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Berlin 2012, 508.
[6] Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Berlin 2020, 317.
[7] Hugo Loetscher: War meine Zeit meine Zeit. Zürich 2009, 379.
[8] Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Salzburg 2016, 45.
[9] Peter Handke: Innere Dialoge an den Rändern. Salzburg 2022, 62.
[10] Stefan Orth: Gespräch mit dem Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, in: Herder Korrespondenz 68 (2014) 286.
[11] Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel. Roman, München 2015, 608f., das folgende Zitat 610f.