Am 14.1.1945 wurde Anselm Grün geboren. Zu seinem 80. Geburtstag blickt Hubertus Lutterbach auf seine Quellen und seine Geschichte.
Anselm Grün, der bekannte Benediktinermönch aus dem Kloster Münsterschwarzach, ist national und international einer der meistgelesenen christlichen Autoren der Gegenwart. Vor wenigen Tagen, am 14.1.2025, ist er 80 Jahre alt geworden. Bis heute hat er etwa 300 Buchtitel veröffentlicht, die es auf eine Gesamtauflage von mehr als 20 Millionen Stück bringen und in 32 verschiedene Sprachen übersetzt vorliegen. Hinzu kommen Podcasts, Kurse und Vorträge, mit denen er sinnsuchende Menschen erreicht. – Wie kam Anselm Grün zum Mönchtum und zur Schriftstellerei? Auf welche Traditionen greift er zurück, um den Menschen weiterführende Orientierung zu geben? Welches Narrativ bündelt sein Selbstverständnis?
Mönchische Krisen
Anselm Grüns 1964 erfolgter Eintritt in das fränkische Benediktinerkloster Münsterschwarzach war mit der Erfahrung verbunden, dass er schon bald daran zweifelte, ob das mönchische Leben wirklich noch zeitgemäß war und es den Einsatz der eigenen Existenz lohnte. Erst nachdem er in dieser jahrelangen Phase der Verunsicherung mit anderen persönlichkeitsbildenden und geistlichen Traditionen – auch außerhalb des Klosters – in Kontakt gekommen war und sich darin vertieft hatte (Gruppendynamik, leiborientierte Meditationstechniken, buddhistisches Mönchtum und C. G. Jung’sche Psychologie), vermochte er seine biographische Krise zu überwinden und eine anhaltende Zustimmung zum Klosterleben zu entwickeln. Vor allem gelang es ihm mit einigen ähnlich gesonnenen jüngeren Münsterschwarzacher Mönchen, seine neuen Erfahrungen so in das monastische Leben vor Ort einzubringen, dass sich der klösterliche Austausch ehrlicher gestaltete und alltagskonkrete Veränderungen möglich wurden. Nicht zuletzt wurzelt seine Wertschätzung des altkirchlichen Mönchtums mit seiner identitätsfokussierten Spiritualität, wie er sie auch in der Benediktsregel gegeben sieht, in seinem biographischen Mühen um mehr Kongruenz zwischen seinen eigenen Lebenszielen und den Ausprägungen des klösterlichen Alltags.
Sein Anliegen wurde es, Traditionsschätze christlichen Zusammenlebens und Theologietreibens auch anderen Menschen als lebenseröffnende Ressourcen in einer einladenden Sprache zugänglich zu machen.
Seine zweite existentielle Infragestellung erlebte der Mönch Anselm Grün bei der Anfertigung seiner theologischen Doktorarbeit. Hier empfand er sich mit kaum verständlichen, theologisch-abstrakten Gedankenwelten konfrontiert. Auch diese Krise überwand er: So ‚übersetzte‘ er die höchst anspruchsvolle Kreuzestheologie des bedeutenden Theologen Karl Rahner (+ 1984) in seiner Dissertation in den Alltagshorizont heutiger Menschen, damit sie ihnen Orientierungswissen für ihr (religiöses) Leben bietet.
Seine beiden Krisen- und Aufbruchserfahrungen trieben Anselm Grün umso mehr an, die Traditionsschätze christlichen Zusammenlebens und Theologietreibens auch anderen Menschen als lebenseröffnende Ressourcen in einer einladenden Sprache zugänglich zu machen. Thematisch lag ihm von Anfang an besonders daran, seine Erkenntnissynthese aus der (lebenslangen) Lektüre der tiefenpsychologischen Schriften von C. G. Jung einerseits und der geradezu psychologischen Sensibilität des altkirchlichen Mönchtums andererseits für die Suche heutiger Menschen nach vertiefter Individualität und intensivierter Ganzheitlichkeit fruchtbar zu machen.
Spirituelle Schriften
Nachdem Anselm Grün seine ursprünglich vor den Mitbrüdern gehaltenen Vorträge mit religiösen Themenschwerpunkten zu „Kleinschriften“ ausgebaut und im klostereigenen Verlag publiziert hatte, widmete er sich den einmal gewählten Themen immer wieder. Wie sagte es der Abt seines Heimatklosters in der Grußbotschaft zum 80. Geburtstag seines Mitbruders: Er wisse überhaupt nicht, wie er ihm angemessen und in frischer Weise gratulieren solle, denn: „Über jeden Wunsch hast du bereits ein Buch geschrieben.“[1]
Tatsächlich erweiterte Anselm Grün seine ursprünglichen Kurztexte und Kleinschriften aufgrund von Lektüre und Gesprächen, um sie schließlich auch in Buchform zugänglich zu machen: „Die Bücher sind für mich ein Weg, den Dialog mit den Menschen aufzunehmen und nach einer Antwort auf ihre Fragen zu suchen“, wie Anselm Grün über sich selbst sagt[2].
Zu „Kirchenkritik“ und „kirchlichen Strukturdebatten“ findet sich fast nichts.
So bleibt er seinen Schlüsselthemen seit langem treu: Erstrangigkeit des inneren Lebens, Erfahrung des Raumes der inneren Stille für die Gottes- und die Selbstwahrnehmung, Gebet und Meditation, liebevolle Selbstsorge, offener Umgang mit den eigenen Schattenseiten, Bedeutung von Heilung, Ordnung des Alltags, Maßhalten in der Lebensführung, Weg- und Wandlungscharakter des menschlichen Lebens, ehrliche Mitmenschlichkeit, ökologische Lebensausrichtung. Bemerkenswert: Ungeachtet seiner vielfältigen Kooperationen mit Managern und seiner Suche nach menschlichen Weisen der Leitung findet sich in seinen Publikationen zu „Kirchenkritik“ und „kirchlichen Strukturdebatten“ fast nichts. Das mag auch damit zu tun haben, dass Anselm Grün den Menschen seine Themen in Publikationen und Gesprächen mit dem Selbstverständnis eines geistlichen Vaters („Pater Anselm Grün“) offeriert.
Geistliche Vaterschaft
Wenn Anselm Grün ratsuchende Menschen begleitet, orientiert er sich über das Lebensbeispiel Jesu hinaus besonders an den Traditionen der geistlichen Vaterschaft, wie er sie bei den spätantiken christlichen Wüsten- und Mönchsvätern eindrucksvoll gegeben sieht. So müsse es dem geistlichen Mönchsvater darum gehen, „die einzelnen Regungen, die Gefühle und Stimmungen, die Gedanken und Pläne zu unterscheiden und sein Herz bis auf den Grund zu durchschauen“, wie er sich immer wieder überzeugt gibt[3]. Erst dann sei er dafür vorbereitet, auch selbst geleitsuchende Menschen zur Wahrnehmung ihrer ganz persönlichen Empfindungen zu ermutigen.
„Archetyp Mönchsvater“
Tatsächlich richtet sich Anselm Grün am Narrativ eines Wüsten- oder Mönchsvaters aus, wie es sich bis hin zu seinen wehenden weißen Haaren und seinem langen Rauschebart zeigt. Den ließ er sich nach seinen ersten Jahren im Kloster wachsen, als ihm die richtungsweisenden Potentiale der altkirchlichen Wüstenväter biographisch, psychologisch und theologisch aufgegangen waren. Unverkennbar ähnelt er auch äußerlich dem, was sich Menschen unter dem ‚Archetyp Mönchsvater‘ vorstellen, allzumal er ihnen seitdem live und auf Fotos stets mit schwarzem Mönchshabit bekleidet vor Augen tritt.
Es fällt auf, dass Anselm Grüns Selbststilisierung zum Wüstenmönchsvater sowohl Elemente der Spiritualitätsgeschichte als auch Erfordernisse der Gegenwart auf eigenwillige Weise bündelt. Als erstes schätzt er – wie gesagt – die Mönche des 3. bis 6. Jahrhunderts wegen ihres psychologischen Feingespürs. Als zweites übergeht er ihre Hochleistungsaskese, um sie auf diese Weise so zu „konstruieren, als ob es zwischen diesen Sinnsuchern der Wüste sowie heutigen Sinnsucherinnen und Sinnsuchern keinerlei Unterschiede gäbe“[4]. Dabei konnte die Leibverachtung vieler Wüstenväter so weit gehen, dass die Sonne ihre bis auf die Knochen abgemagerten Leiber hell durchschien. Stattdessen reichert Anselm Grün die altkirchlich-monastischen Traditionen drittens vor allem durch höchst individuell geprägte Lebens- und Glaubenszeugnisse der hoch- und spätmittelalterlichen Mystik an.
Also: Wenn Anselm Grün dabei hilft, Menschen von heute zu sich selbst zu führen, greift er dafür auf Traditionen zurück, die ein Menschenbild vertreten, das unserem heutigen ähnelt. Dagegen lässt er im Dienst der Identitätsvertiefung jene Traditionen der 2000-jährigen Christentumsgeschichte unberücksichtigt, die einer Begegnung mit dem Fremden gleichkämen.
Autorisierter Nachruhm
Seit dem Beginn des Mönchtums verorteten sich diese Asketen (anfänglich seltener: Asketinnen) als charismatisch-inspirierende Alternative zur bischöflich geleiteten Großkirche der Weltchristinnen und Weltchristen. Statt auf das Kirchenrecht setzten sie auf die Radikalität des Verzichts. Als „Regula“ (= Klosterregel) galt ihnen nicht ein juristisch abgesichertes und schriftlich fixiertes Regelwerk, sondern die vitale Autorität des Klostervorstehers oder der Klostervorsteherin. Um ihren Nachruhm sorgten sie sich nie persönlich, sondern überließen die Kultpropaganda gegebenenfalls der posthumen Gemeinschaft ihrer Verehrerinnen und Verehrer. Auch darin unterscheidet sich das moderne Mönchsvater-Dasein von seinen geschichtlichen Vorläufern: Auf dem Frontcover der soeben im Münsterschwarzacher Vier Türme-Verlag (im hagiographischen Stil) erschienenen Biographie „Anselm Grün. Mönch und Mensch“ prangt wie ein bischöfliches „Imprimatur“ die optisch in Knallgelb gehaltene und sogar noch das Farbfoto von Anselm Grün mit Rauschebart optisch in den Hintergrund drängende Versicherung „Die autorisierte Biografie“[5]!
Ein solches Gütesiegel darf der Autor dieser Zeilen nicht für sich beanspruchen, allzumal es ihm nicht um die Konstruktion, sondern eher um die Dekonstruktion eines „aktuellen Wüstenvaters“ zum Zwecke des geistlichen und theologischen Erkenntnisgewinns geht. Aber vielleicht dient genau diese Dechiffrierung einem sogar noch über Anselm Grün hinausweisenden „begrünten Christentum“.
[1] N. N., „Wo schenkst du Hoffnung?“ Symposium zum 80. Geburtstag von P. Anselm Grün, in: https://www.abtei-muensterschwarzach.de/aktuelles/nachrichten/abtei/%E2%80%9Ewo-schenkst-du-hoffnung%E2%80%9C (20.01.2025).
[2] Anselm Grün, Mein Weg in die Weite. Zum Grund des eigenen Lebens finden (Herder Spektrum 5382) Freiburg – Basel – Wien 2003, S. 67.
[3] Anselm Grün, Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern (Münsterschwarzacher Kleinschriften 67) Münsterschwarzach 1991, S. 11.
[4] Hubertus Lutterbach, Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof. Wie Religion heute lebendig ist, Kevelaer 2014 (darin ein Kapitel über „Einfach leben! – Anselm Grün“, S. 97-125), S. 121.
[5] Matthias Slunitschek, Anselm Grün. Mönch und Mensch. Die autorisierte Biografie, Münsterschwarzach 2024.
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Hubertus Lutterbach, Prof. Dr. Dr., geb. 1961, lehrt Christentums- und Kulturgeschichte am Institut für Katholische Theologie der Universität Duisburg-Essen. Zahlreiche monographische Publikationen, zuletzt: Urtümliche Religiosität in der Gegenwart. Freiburg: Herder 2022.
Beitragsbild: Von Lesekreis – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44286601