Intensiv wird in den Geisteswissenschaften derzeit wieder über die Möglichkeit universaler Normen und Werte diskutiert. Paula Schütze gibt Einblicke in die Debatte und legt theologische Bezugspunkte frei.
Seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres hat der Begriff des Universalismus im geisteswissenschaftlichen Diskurs eine neue Virulenz erhalten, spätestens nachdem Omri Boehm für seinen Radikalen Universalismus mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet wurde. Boehms Plädoyer für den Universalismus, den er den Identitätslogiken nicht nur rechter, sondern auch linker, liberaler und progressiver Diskurskräfte entgegensetzen will, ist aus fundamentaltheologischer Perspektive hochinteressant – das betrifft vor allem die starken metaphysischen Anleihen, die die Argumentation macht.
Konsens als ‚Tyrannei der Mehrheit‘?
In Frage steht bei der Universalismus-Debatte die Möglichkeit, universale, also kontextunabhängig allgemein geltende Überzeugungen, Normen und Werte verteidigen zu können, und damit nicht weniger als die Möglichkeit der Begründung universaler Menschlichkeitskonzeptionen wie der Menschenwürde. Dem Ansinnen seiner Verteidiger:innen nach kann ein universaler Humanismus ein Gegenentwurf sein zu einer Gesellschaft, die in ihre Identitätsfasern aufgeriffelt ist. Und der, so lautet Boehms These, kann nur im Rekurs auf eine Gestalt von Wahrheit begründet werden, die man metaphysisch nennen muss: „Nur ein Gesetz oder eine Wahrheit, die unabhängig von menschlichen Konventionen ist, ist universell in seinem oder ihrem Geltungsbereich und nicht relativ zu den Interessen, Wünschen und ‚guten Ideen‘ derjenigen, die über die Macht gebieten, in der menschlichen Gesellschaft Gesetze zu erlassen.“[1] Eine Wahrheit, die sich nicht im Konsens erst konstituiert, sondern die über dem Konsens steht; ein Gesetz, das nicht aus Deliberation entsteht. Denn was Konsens ist, entspricht nicht zwangsläufig dem, was moralisch gut oder richtig ist. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt unzählige Beispiele für Überzeugungen, die einst zum Konsens zählten, heute jedoch zutiefst verwerflich erscheinen.
Konsens entspricht nicht zwangsläufig dem, was moralisch gut oder richtig ist.
Ist einmal dasjenige, worauf sich die meisten einigen können, als Quelle der Legitimität moralischer Ansprüche definiert und vor allem verinnerlicht, so steht das Anliegen der Aufklärung, sich von der Bindung an unmündig machende Autorität im Denken zu befreien, in Gefahr, so Boehm.[2] Der Konsens wird neue Autorität. Genau dagegen stellt er die These von der ‚externen Wahrheit‘ auf, die über dem Konsens steht. Konkret bedeutet das, jegliches (bestenfalls) durch Konsens oder (schlimmstenfalls) durch Dezision entstandenes Gesetz untersteht einem höheren Gesetz, dem Moralgesetz, anders gesagt: der absoluten Gerechtigkeit. Damit stellt sich „[p]olitisch gesprochen […] die Frage, ob menschliche Autoritäten nicht nur durch Verfassungen, Gewaltenteilung und internationale Abkommen […] eingehegt, sondern auch durch die externe Autorität der Wahrheit bestimmt werden sollten.“[3]
‚Überkonsensuelle Wahrheit‘?
„Moment mal!“, horcht die Theologin nun beim Anklang von ‚überkonsensueller Wahrheit‘ auf, „Sind damit etwa wir angesprochen?“ Theologie beschäftigt sich schließlich mit Wahrheiten, die die Sphäre des Menschlichen zumindest transzendieren und die dem allgemeinen Konsens bisweilen zuwiderlaufen. Könnten das genau diejenigen Wahrheiten sein, die dem Konsens vorzuordnen sind, und könnte es die Aufgabe der Theologie sein, diese jetzt nochmal neu aufs Tableau und in den Diskurs einzubringen? Geht es jetzt um eine theologische Begründung der Menschenwürde?
Nicht direkt. Vielmehr kann Theologie mit Erfahrungswerten aufwarten, wenn es um die schwierige Auseinandersetzung mit ‚überkonsensueller Wahrheit‘ geht. Denn zunächst ist ja noch fraglich, woher sich die Wahrheit, die über dem Konsens steht und die drohende „Tyrannei der Mehrheit“[4] unterbrechen kann, ergibt. Eine solch metaphysische Wahrheitskonzeption, die das konkrete politische Handeln bestimmen soll, und die als quasi ‚externe‘ Hereingabe zu verstehen ist, lässt Fragen lautwerden, die die Theologie aus ihrem eigenen Abarbeiten an der transzendenten Wahrheit kennt: Welchen Zugriff haben Menschen auf Wahrheiten, die den Bereich des Menschlichen übersteigen? Ist es möglich, Überzeugungen auf eine Wahrheit zu beziehen, die sich nicht erst im Diskurs feststellen lässt? Wenn ja, woher weiß man dann, dass man es mit einer solchen, absoluten Wahrheit zu tun hat?
In der theologischen Tradition betont insbesondere die negative Theologie, dass der Bezug auf absolute, transzendente Wahrheit nie als ein positiver Bezug gedacht werden kann, dass also nicht davon auszugehen ist, dass sich die ‚überkonsensuelle Wahrheit‘ einfach so erschließt, auch nicht als ein Moralgesetz, das dann als Maßstab an das menschliche Handeln angelegt werden kann. Negativ-theologisch kann man gar argumentieren, dass sich die ‚überkonsensuelle‘, absolute Wahrheit nie vollständig erschließt, sondern nur in Bruchstücken erfahren werden kann. Nicht zuletzt ist daran die ideologiekritische Bemerkung anzufügen, dass dasjenige, was bisweilen als die absolute Wahrheit erscheinen mag, auch Ergebnis der Projektion des zutiefst Menschlichen, zutiefst Partikularen sein kann. Und dann hätte man es keineswegs mit einer ‚externen Autorität‘ zu tun.
Welche Propheten sind gesucht?
Boehm selbst greift in Bezug auf das Woher der ‚überkonsensuellen Wahrheiten‘ zurück auf die theologische Figur des Propheten: Es brauche die Eingabe unzeitgemäßer, also dem Zeitgeist entgegenlaufender Wahrheit durch Einzelne, um die Autorität des Konsenses vor dem Umschlagen ins Autoritäre zu bewahren.[5] Denn ‚Prophetie‘ meint für Boehm genau diese Nonkonformität mit dem Konsens und darüber hinaus die Erkenntnis, dass die absolute, moralische Wahrheit über dem Konsens steht.
‚Prophetie‘ meint für Boehm die Nonkonformität mit dem Konsens
Interessanterweise findet sich eine Gedankenfigur mit ähnlich prophetischem Anklang bei einem Philosophen, den man nicht unbedingt mit dem Universalismus zusammenbringt. Auch Theodor W. Adorno betont nämlich die Bedeutung der Meinungen einzelner, die den Konsens durchbrechen: „Die Konstruktion der Wahrheit nach Analogie einer volonté de tous […]“, schreibt Adorno in der Negativen Dialektik, „betröge im Namen aller diese um das, dessen sie bedürfen.“[6] Übersetzt heißt das: Die Gleichsetzung von dem, was Konsens ist, mit dem, was wahr ist, ist eine ungerechte Verallgemeinerung, die die Einzelnen nicht zu ihrem Recht kommen lässt. Denn was in dieser Gleichsetzung getilgt wird, ist ja gerade das Abweichende. Deshalb schließt die Aufgabe an, dem Abweichenden Gehör zu verschaffen: „An denen, die das unverdiente Glück hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen […], ist es, mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen“[7].
Adornos Philosophie enthält darüber hinaus Hinweise zum Umgang mit dem Begründungsproblem des Universalismus, die auch nochmal die Funktion der Prophetie im Sinne der Eingabe nonkonsensueller Wahrheit spezifiziert. Während die negative Theologie betont, dass eine ‚überkonsensuelle Wahrheit‘ immer mit einem Moment Unverfügbarkeit einhergeht, dass es also nicht ohne Weiteres möglich ist, eine solche als Maßstab über die durch Aushandlung entstehenden Normen und Regeln des Zusammenlebens zu stellen, kann die Kritische Theorie Adornos eine Idee geben, wie man den Universalismus anders denken kann. Adornos Negative Dialektik ist – in krasser Verkürzung – Ausdruck der Weigerung, das Einzelne und das Abweichende dem Allgemeinen unterzuordnen, es von ihm schlucken zu lassen. Jede Konstruktion von Totalität – so auch die einer zeitenthobenen, externen Wahrheit – ist für ihn nur der Schein von Universalität, der verschleiert, dass es immer nur einen gebrochenen Zugriff auf die Wirklichkeit gibt: „Das Ganze ist das Unwahre.“[8]
Deshalb muss man nicht die universalistische Idee ganz aufgeben. Aber sie lässt sich vielleicht anders betrachten, wenn der Bezug auf das Absolute, auf das, was eine ‚überkonsensuelle Wahrheit‘ wäre, nach dem Vorbild der negativen Theologie als einen negativer Bezug gedacht wird – eine Art gebrochener Universalismus. Das würde konkret bedeuten, den Fokus auf diejenigen Erfahrungen zu richten, die den Unterschied zwischen Konsens und der Idee absoluter Wahrheit, absoluter Gerechtigkeit markieren. Man kann dabei an einen ‚Universalismus von unten denken‘, der zunächst die Verwundbarkeit universalisiert.[9] Und dazu, um nochmal auf die Prophetie zurückzukommen, braucht es vielleicht nicht das eine glückliche Genie, dem es gelingt, dem Zeitgeist zu widerstehen und widerständige Wahrheiten ‚von Außen‘ in den Diskurs einzubringen. Stattdessen wäre vielleicht denjenigen Stimmen Gehör zu verschaffen, die auf ihre eigenen widerständigen Erfahrungen hinweisen, mehr noch: Es wäre Partei für sie zu ergreifen. Hier darf die Theologie wieder aufhorchen: Wir sind angesprochen.
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Beitragsbild: unsplash.com
[1] Boehm, Omri: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität, Berlin 52024, 17.
[2] Vgl. ebd., 123f.
[3] Ebd., 78.
[4] Ebd., 124.
[5] Vgl. ebd., 125.
[6] Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 91997, 51.
[7] Ebd.
[8] Adorno, Theodor W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 112018, 55.
[9] Vgl. Govrin, Jule, Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit, Frankfurt a. M. 2025.