In Zeiten, die mehr von Zerstörung als Aufbau geprägt sind, können Glaubensbotschaften neue Orientierung schaffen, meinen Heike Seidel-Hoffmann und Georg Wagener-Lohse und lassen sich dabei von den Theorien Fritjof Capras inspirieren.
Im Anfang war logos (Xristos)… In ihm war der Ursprung des Lebens… Er wurde Fleisch und lebte mitten unter uns.
Damit Botschaften wie die des Prologs des Johannes-Evangeliums Wirkung entfalten können, müssen wir sie mit zeitgenössischem Wissen verbinden. Wissenschaftliches Denken und Glauben verbinden sich zum Beispiel bei Christians4Future. Inspirator ist uns der theoretische Physiker, Fritjof Capra, der 2024 seinen 85. Geburtstag feiern konnte.1 Seine Erkenntnisse zum Wirkungs-Netz des Lebens, die im Folgenden skizziert werden, könnten kirchliches Deuten von Wirklichkeit neu bestimmen. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden durch ihn Impulse gesetzt. Sie halfen mit, die seit dem 18. Jahrhundert vorherrschende mechanistische Auffassung der Welt als ausnutzbarer Materialspeicher in Frage zu stellen. Solche Auffassungen bestimmen in gewissem Umfang noch immer die Organisationsmechanismen unserer Gesellschaft. Bilder des Zusammengehörens und der Kooperation sind deshalb dringlicher als je.
Physik als Beziehungsnetz von Materie und Energie.
Christliche Gemeinschaften können dazu ihre Bildungsberufung für ein Gerechtigkeitsverständnis und eine spirituelle Stärkung des Lebens weiterentwickeln und als lebendes Beispiel gemäß ihrer Berufung (Röm 12,2) Entscheidendes zu den Selbstheilungskräften von Gesellschaften beitragen. Fritjof Capra stieß durch die persönliche Begegnung mit fernöstlicher Weisheit auf Übereinstimmungen in den Erkenntnissen von Quantenphysik und Mystik. Die Quantenphysik hatte seit Beginn des 20. Jahrhunderts das althergebrachte physikalische Verständnis einer Ansammlung von Objekten (Atome, Elektronen, etc.) zum Verständnis eines Beziehungsnetzes von Materie und Energie verschoben.
Was im Kleinsten des Atoms gilt, zeigte sich später auch auf der Ebene der Stoff austauschenden Zellen und des gesamten Planeten als selbstregulierende Systeme. Für diese ist bestimmend, dass erst dynamisch verstärkende bzw. dämpfende verschachtelte Rückkopplungen innerhalb einer gegebenen Begrenzung Lebendigkeit ermöglichen. Auch die Biologie korreliert mit diesen Erkenntnissen. Auf der Ebene der einzelnen Zellen zeigten die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela, dass sich alle biologischen Strukturen wie Proteine, Membranen, DNA und RNA selbst erzeugen und ständig erneuern. Sie unterliegen ständigen strukturellen Veränderungen, halten aber ihre Muster bei. So wie sich Ökosysteme durch nährende Beziehungen am Leben erhalten und bei Störungen auch zugrunde gehen können, sind lebendige Netzwerke grundsätzlich selbsterzeugend (Autopoiesis).
Erkennen ist eine in das Leben selbst eingeschriebene Aktivität.
In den 70er und 80er Jahren wurde dieses einheitliche Verständnis mit der Entwicklung der Komplexitätstheorie auf eine neue Ebene gehoben (Chaostheorie, Fraktale, neue Mathematik). Sie kann Beziehungsmuster beschreiben und hat zur Verlagerung des Interesses von reinen Quantitäten auf resultierende Qualitäten geführt. Wissenschaftlich hat diese Systembetrachtung des Lebens auch zu einem neuen Prozessverständnis von Geist und Bewusstsein geführt, das die Trennung von Geist und Materie (Descartes, res cogitans, res extensa) überwindet. Genauer ist es, sich am Prozess des Erkennens zu orientieren (Santiago-Theorie der Kognition). Erkennen ist danach eine in das Leben selbst eingeschriebene Aktivität, die an der Selbsterzeugung und Selbsterhaltung lebender Netzwerke beteiligt ist.
Diese systemische Sicht des Lebens beinhaltet eine neue Art des Denkens in Bezug auf Beziehungen, Muster und Zusammenhänge. Ein lebendes System, so wurde in vielen Einzelwissenschaften (Biologie, Psychologie, Ökologie, etc.) erkannt, ist ein integriertes Ganzes, das mehr ist als die Summe der Teileigenschaften. Was für das neue Verständnis von Geist und Körper gilt, zeigt sich auch im erweiterten Verstehen der Evolution als Grundprinzip dessen, was in der Theologie als creatio continua definiert wird.
Sie wird heute als kreative Entfaltung des Lebens in Formen immer größerer Komplexität gesehen, als ein kooperativer Tanz, bei dem Kreativität und ständiges Entstehen von Neuem die treibenden Kräfte sind. Präferenzen bilden sich in einem Prozess, bei dem das aus kreativer Fülle im System entstandene Neue als Überlebensfähiges gestärkt wird. Altes kann vergehen und Neuem Raum geben. Charles Darwin haben wir es zu verdanken, dass die Abstammung aller Lebensformen von gemeinsamen Vorfahren nachvollziehbar wurde. Als Menschen sind wir damit auch Teil eines riesigen planetaren Netzwerks von Lebewesen, die in Raum und Zeit miteinander verbunden sind – ein besonderer Grund, mit diesen Verwandten behutsam umzugehen.
Soziale Autopoiesis als christliche Tradition.
Was in den biologischen Prozessen von Bedeutung ist, gilt ebenfalls auf der Ebene sozialer Netzwerke, die vor allem auf Kommunikation basieren. Jede Kommunikation erzeugt Gedanken und Bedeutung. Setzt sich diese Kommunikation fort, generiert sich das Netzwerk selbst durch Rückkopplungsschleifen und bringt ein gemeinsames System von Überzeugungen, Erklärungen und Werten hervor, das als Kultur bezeichnet wird (soziale Autopoiesis). Es lohnt sich neu zu entdecken, was in den pastoralen Orientierungsschreiben der frühen Christenheit als Muster der christlichen Gemeinschaft skizziert wurde (1.Kor 12,12ff, Kol 1,18). Mitten in der hierarchischen Gesellschaft des ersten Jahrhunderts wurde es als das Zusammenwirken vieler Glieder und ihres Impuls-gebenden Hauptes verstanden.
Was wäre in unseren Kirchengemeinden möglich, wenn sich diese am „Logos Xristos“ orientierte Gemeinschaft der Fähigkeit, Lebendigkeit zu stärken, weit mehr als heute verschreiben würde? Hildegard hat diese Kraft, mit der Energie materialisiert wird, treffend als Grünkraft bezeichnet. Sie ist ein sprechendes Bild für den in allem Werden zu findenden Christus. Die Qualität dieses Musters kreativer, Leben stiftender Beziehungskultur könnte in der Vielzahl gegenwärtiger kirchlicher Reformprozesse zur Ressourcenkonzentration Leben stiftender wirken als Prinzipien wie Effizienz und Rationalisierung. Netzwerksteuerungsmodelle wie Agilität würden dazu beitragen.
Der Leib Christi als inspirierter Organismus.
Weil Beziehung und Austausch Grundlagen lebendiger Netzwerke sind, kann Kirche als inspirierter Organismus („Leib Christi“) und als soziale Gesamtorganisation das Leben verstärkende Rückkopplungsprinzip zur Blüte bringen. Neues setzt auch hier Umwandlung von Altem voraus. Historisch wurde dies durch alle Jahrhunderte hindurch mit geistlichen Gemeinschaften und theologischen Aufbrüchen immer wieder vorgelebt. Einzelne Mitglieder, aber auch deren lokale – auch landschaftsbezogene – Gemeinschaften, sowie die zugehörigen organisatorischen Einheiten können Lebendigkeit erleben, wenn nährende Beziehungen zu Resonanz und damit zu Wachstum führen. (Autopoiesis) Die ökumenische Umweltgruppe Lichtenrade ist ein Beispiel dafür.
Netzwerkbildende, identitätsstiftende Kommunikation in Kirchengemeinden entsteht durch praktische Arbeit, Gebet und Gespräch, wenn sie Beziehungsbildung beinhalten. Ohne Rückkopplungen erstarren Gemeinden in Riten einer alten Tradition, die zur Beziehungslosigkeit führt. Soweit kirchliches Gemeinschaftsleben nicht zu gemeinsamer, gesellschaftlich inspirierender Lebenspraxis führt, stirbt es langsam ab. Das Bewusstwerden eigenen Verhaltens und seiner Wirkungen und das Freiwerden für solidarische Beziehungen können zum Gegenstand gemeinschaftsbildenden Alltags nicht nur nach innen (wir), sondern gerade nach außen („der Stadt Bestes“) werden. Erst wenn das Erkennen der Einzelnen wahrnehmbar und zur Grundlage organisationaler Entwicklung werden kann, besteht die Aussicht auf Belebung der Gemeinschaft.
Kognition kann die innere Wahrnehmung des Einzelnen (Spiritualität mit Bezug auf den Ursprung, persönlich und liturgisch) auf die Beziehungen zu den anderen innerhalb und außerhalb der unmittelbaren Gemeinschaft ausrichten und Leben stiftende Wirkung durch verschiedenste Interaktionen zeigen. Solche christlichen Gemeinschaften werden sich dabei vom Glauben an das ständige Wirtschaftswachstum trotz immer begrenzterer Ressourcen distanzieren, weil es die Ausgleichs- und Regulierungsmechanismen des Heimatplaneten aus dem Gleichgewicht bringt. Sie werden in die öffentlichen Debatten qualitative Indikatoren für Armut, Gesundheit, Gerechtigkeit, Bildung, ökologisches Gleichgewicht, etc. einbringen, um schlechtes, rein quantitatives Wachstum zu kennzeichnen und gutes, qualitatives Wachstum zu fördern.
Kirchen als Gestalterinnen des gemeinsamen Hauses.
Für die Gesellschaften können Kirchen, die sich gemeinsam mit anderen Verbänden für Leben erhaltende Strukturen mit ihrer gesamten Bildungs- und Sozialkompetenz einsetzen, zu Impulsgeberinnen werden, wenn sie sowohl an ihrer „Schöpfungskompetenz“ (Lernen aus der Natur) als auch praktischem Design gemäß den Prinzipien der Lebendigkeit erkannt werden. In diesem Jahr gedenken katholische, evangelische und orthodoxe Kirchen weltweit des ersten ökumenischen Konzils von Nicäa. Sie bekennen einen dreieinigen Gott in Beziehung. Hier liegt die Neuentdeckung der Perspektive, dass sich die Kirchen sowohl in ihrem Handeln als auch in ihren praktischen Beziehungen als Netzwerke inspirierter Gestalterinnen des gemeinsamen Hauses (oikos) zeigen.
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Bild: Birgit Hoyer