Veronika Rieger reflektiert über Ausschlussmechanismen einer allzu schnellen Forderung nach Brücken und Verständigung und die spezifische Rolle von Pfarrpersonen und Amtsträger:innen dabei.
Es ereignen sich gar seltsame Dinge in der digitalen Kirche. Während sich die großen Kirchen kurz vor der Wahl eindeutig und öffentlich gegen rechts positionierten und dafür sowohl großes Lob als auch Abwertung erfuhren, wird kurz vor der Wahl scharf darüber diskutiert, ob und inwiefern Pfarrpersonen sich politisch äußern sollten. Kaum ist das Wahlergebnis verkündet, titelt es überall vom Brücken bauen. Die Botschaft lautet: Jetzt bitte weniger Emotion, dafür mehr Verbindungen schaffen durch Argumente.[1] Das dadurch entstehende Bild eines nüchternen, Brücken bauenden Amtsträgers ohne öffentliche politische Haltung ist problematisch. Pfarrpersonen bitte unpolitisch?
Einige Pfarrer mögen ihre Aufgabe darin sehen, in ihren Kirchen und digitalen Gemeinschaften einen Raum zu bieten, in dem politisch kontroverse Diskussionen nicht angedacht sind. Was dabei vergessen wird ist, dass die schiere Existenz von migrantischen Personen, Schwarzen Menschen, behinderten oder queeren Mitbürger*innen ein Politikum in sich ist. Diese Personengruppen können sich nicht dafür entscheiden unpolitisch zu sein. Das Politische ist ihnen substanziell gegeben.
Wie politisch sichtbar dürfen Pfarrpersonen sein?
Pfarrpersonen, die sich politisch äußerten und parteipolitisch engagierten, insbesondere gegen die (historisch) herrschende Macht und die – davon ausgehenden Unterdrückungen, sowie gegen den Rechtsnationalismus, sind der Grund, warum wir als Protestant*innen existieren und warum wir nach 1933 noch Stolz auf einige unserer vergangenen Kolleg*innen sein dürfen. Die Annahme, dass eine politische oder parteipolitische Äußerung unevangelisch oder vorreformatorisch sei, verkennt die protestantische Substanz und zugleich die Aufforderung des Evangeliums. Pfarrpersonen sind dazu aufgerufen Jesus Christus nachzufolgen, einem Flüchtling, der auf Asyl angewiesen war. Der sich Armen, Kranken, Benachteiligten zugewandt hat. Der das Flehen der Frauen wahrnahm, der Hungrigen zu essen gab. Der Jude und PoC (Person of Colour) war. Wir berufen uns auf das erste Testament, in dem die Anweisungen, wie mit Geflüchteten umzugehen sei, klar durch die Haltung der Annahme, des Schutzes und der Wertschätzung eben dieser vulnerablen Gruppe gestaltet wird. In dem der Schutz der Schöpfung die Aufgabe jedes Menschen ist. In dem die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott die Basis für den Satz legt: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” All diese Dinge übersetzen sich direkt in Handlungsaufforderungen, die politisch sind. Unser christlicher Glaube bedingt eine politische Haltung, auch weil die Existenz als Christ*innen in diesem Auftrag in einer politischen Gesellschaft inhärent politisch ist.
Gerade die Werte, auf denen das Christentum fußt, wie unbedingte Nächstenliebe, Zuwendung zu den Schwächsten und Ausgestoßenen, Ablehnung von Reichtum, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, sind Werte, die einer Welt wie der jetzigen eine politische Haltung und politische Handlungen benötigen. Menschen, die diese Werte in Frage stellen, gefährden vulnerable Gruppen in unserer Gesellschaft. Das sind genau die Gruppen, denen sich Christus zugewandt hat – Arme, Kranke, Behinderte, Frauen, Ausgestoßene. Die Aufgabe von Pfarrpersonen ist es Christus nachzufolgen. Das heißt: In meiner Gemeinschaft muss ein besonderer Schutz gelten für jene, die besonders gefährdet sind. Ausgrenzendes, verletzendes und gefährdendes Verhalten gegen vulnerable Gruppen unter dem Deckmantel der vermeintlichen unpolitischen Haltung oder ob des reinen Brückenbauens zu akzeptieren, heißt Räume zu schaffen, die für marginalisierte Gruppen nicht mehr zugänglich sind.
wenn Brückenbauen marginalisierte Gruppen ausschließt
Das bedeutet explizit nicht, dass kein Dialog mehr möglich ist. Aber insbesondere im postfaktischen Zeitalter und inmitten eines fortschreitenden Rechtsrucks unserer Gesellschaft gilt es, die Werte zu verteidigen, die für uns als Christ*innen gemeinsame Wahrheit sein sollten. Dabei sind wir Christ*innen keineswegs nur in unserer Ratio gefordert. Der Mensch ist ein gefühlsbegabtes Wesen. Wir sind dazu aufgerufen miteinander mitzufühlen und mitfühlend zu handeln. Unsere Emotion und unsere Kognition arbeiten dabei Hand in Hand. Mancher mag sogar dazu aufrufen, einander richtig zuzuhören und ineinander den Nächsten zu sehen. Das gilt immer. Auch, wenn einem der Nächste sagt, dass man einen Denkfehler macht oder dass die eigene geäußerte Argumentation brüchig ist. Das gilt insbesondere, wenn Menschen, die zu marginalisierten Gruppen gehören, darauf aufmerksam machen, dass die getätigte Aussage schädlich ist für eine Gesellschaft, in der alle gleichermaßen teilhaben können sollten. Meine Aufgabe als Pfarrperson ist es nicht Intoleranz tolerierbar zu machen oder in den von mir gestalteten und verantworteten Räumen zu akzeptieren. Ich muss keine Brücken bauen zu Menschen, die offen planen Menschen meiner Gemeinschaft zu schaden, genau den Menschen, denen ich mich gezielt zuwenden soll.
dem:der Nächsten zuhören, auch wenn diese:r mir einen Denkfehler zeigt
Wir als Kirche haben den Vorteil, keine realpolitische Verantwortung zu tragen, sondern genießen das Privileg eine Schlüsselrolle innezuhaben, in der wir politischen Diskussionen und die daraus abgeleiteten Ergebnisse begleiten und als Korrektiv fungieren, damit die Verbundenheit von christlichen Werten, Geboten und unserer Basis, dem Grundgesetz, auch in politischen Handlungen eingehalten wird. Das steht aber nicht dem entgegen, dass es Pfarrpersonen erlaubt ist, auch offen darzulegen, wie sie parteipolitisch als Privatperson agieren, solange dieses Engagement nicht gegen die christlichen und demokratischen Werte steht und zur vermeintlich alleinig gültigen politischen Weisung wird.
Wohin eigentlich Brücken bauen?
So. Da stehen wir nun. Mit einer demokratisch gewählten Mehrheit der Union und einer erstarkten AfD auf Platz 2. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Der Großteil meines Umfelds hat die Wahlergebnisse noch nicht verdaut. Der Großteil meines Umfelds hat erschreckend akkurate Pläne, wohin man sich bei einem fortschreitenden Rechtsruck retten könnte, in welche Länder man gehen kann. Nicht aus Luxus oder Politikverdrossenheit. Sondern zum Schutz von Leib, Leben und psychischer Unversehrtheit. Noch vor wenigen Wochen gingen Millionen von Menschen trotz Wind und Wetter auf die Straße und demonstrierten gegen den fortschreitenden Rechtsruck. Wenn Menschen, die von der angekündigten Politik der Union nachhaltigen Schaden zu erwarten haben, gerade keine Brücken bauen, dann wundert mich das nicht. Die Aufforderung, einfach mehr Argumente zu finden, statt darüber empört zu sein, dass vorrangig weiße, ältere Männer die Machtverhältnisse in diesem Land, die zu ihren Gunsten spielen, nach wie vor ausnutzen, um sich auf den Rücken Anderer oben zu halten, ist haltlos.
Verstehen ist nur möglich, wenn mein:e Nächste:r mir nicht nach meiner Existenz trachtet
Der Rechtsruck lässt sich nicht mit Fakten oder besseren Argumenten aufhalten. Wäre das so, wären wir niemals in diese Situation geraten. Dann würden die Zahlen zur Klimakrise, zur steigenden rechten Gewalt, zum erstarkten Antisemitismus, die erschreckende Anzahl der Femizide, würden die blanken Zahlen ausreichen, um zu erkennen, dass die Forderungen der Union haltlos, unverschämt und im höchsten Maße ungerecht sind. Kein Mensch, der von ungerechten Systemen stark profitiert, wird sich ohne Empathie von Argumenten überzeugen lassen, egal wie durchschlagend und gut unterfüttert sie sein mögen. Was wir brauchen ist eine Schulung des Herzens. Und die funktioniert nicht ohne Emotion, sondern sie gelingt, wenn alle Beteiligten bereit sind, einander gewaltfrei auf Augenhöhe zu begegnen und die emotionale Situation und Lebensrealität des*der Nächsten anzuerkennen. Wahrer Dialog und gegenseitiges Verstehen ist nur möglich, wenn mein Nächster mir nicht nach meiner Existenz trachtet und mich als gottgeliebten und gleichberechtigen Menschen anerkennt. Jegliche andere Forderung nach einem Brücken bauen und Dialog suchen zu Menschen, die das nicht erfüllen, ist lediglich eine Forderung nach der weiteren Unterwerfung marginalisierter Gruppen unter dem Status Quo und der Herrschaft vorrangig weißer Männer.
Menschen aus marginalisierten Gruppen stehen harte Jahre bevor, Jahre, in denen sie darum kämpfen müssen, ihre mühsam erstrittenen Rechte zu erhalten und darum bangen müssen, weiteren Repressalien ausgesetzt zu werden. Ihnen sei jegliche Emotion zugestanden. Gebete und Solidarität sind herzlich willkommen. Aber lassen Sie uns gemeinsam eines klar ins Auge fassen: Die Brücken, die nun zu bauen sind, müssen zu allererst zu jenen reichen, die akut bedroht sind. Also, fangen wir an.
—
[1] vgl. Bechtold Markus: “Empört euch nicht, tauscht Argumente aus”, evangelisch.de, aufgerufen unter: https://www.evangelisch.de/inhalte/239748/23-02-2025/zum-ausgang-der-bundestagswahl-2025-empoert-euch-nicht-tauscht-argumente-aus.
Veronika Rieger ist evangelische Theologin und Vikar*in der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Sie engagiert sich aktivistisch für queerfeministische und intersektionale Belange und ist als digital Creator fester Bestandteil der digitalen Kirche.