Unsichere Zeiten erfordern Mut und dies nicht nur – aber erst recht – von religiösen Akteur:innen. Laura Buchheim fragt, was Mariann E. Budde, Angela Merkel und Martin L. King Jr. gemeinsam haben.
Das Selbstverständnis (institutionalisierter) religiöser Akteur:innen ist geprägt von einem immer verzweifelter lamentierten Bedeutungsverlust. Die Studierendenzahlen in den theologischen Studiengängen sind überschaubar. Wer nicht über den Kirchenaustritt nachdenkt, ist in der Begründungspflicht und abseits von Weihnachten und Ostern bestechen Sonntagsgottesdienste eher durch das atmosphärische Glockenläuten, nicht aber durch ihre Besucher:innenzahlen. Gleichzeitig ist Donald Trump der neue Messias der Evangelikalen in den USA, sogenannte „Christfluencer:innen“ haben mehrere Zehntausend Follower:innen (z.B. @liebezurbibel auf Instagram) und Parteien mit „C“ für „christlich“ im Akronym (CDU/CSU) gelten (noch) als etablierte Volksparteien. Und wiederum gleichzeitig stößt es auf die berühmten gemischten Gefühle, wenn sich EKD und DBK gegen einen Schulterschluss genannter Christdemokrat:innen mit der in Teilen rechtsextremistischen Partei AfD aussprechen oder sich überhaupt zu politischen Fragen äußern.[1] Aber wie hängt das zusammen? Und was hat Angela Merkel damit zu tun?
das Gefühl von Ohnmacht
Die Wahrnehmungen von politischen Akteur:innen, christlichen Akteur:innen und akutem Handlungsbedarf unterscheiden sich stark. Den einen ist die Politik nicht radikal genug, den anderen zu radikal. Den einen mischt sich die Kirche zu sehr ein, den anderen zu wenig. Die einen sehen Migration als drängendstes Problem unserer Zeit, die anderen den Klimawandel. Und dazwischen liegt jeweils noch ein ganzes Meinungsspektrum. Doch eines ist sehr vielen dieser Positionen gemeinsam: das Gefühl von Ohnmacht. Dabei boten zumindest historisch christliche Akteur:innen Räume, die dieser Ohnmacht eine Handlungsmacht entgegenstellten. Die evangelischen Studierendengemeinden (ESG) sowie die Kirche im Sozialismus zu DDR-Zeiten waren unverzichtbare Orte des Protests. Sie haben sich also politisch eingebracht, ohne die säkularisierte Kirche als Monopol der Religiosität zu hintergehen – sie behielten ihr „Eigentliches“ als religiöse Akteur:innen. Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel war zu ihren Studienzeiten in Leipzig Mitglied der ESG und Pfarrerstochter, wie sie in ihrer Biografie Freiheit schreibt. Damit war sie auf ihre Art eine religiöse Akteurin. Auch Martin Luther King Jr. als zentrale Figur der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre war in erster Linie ein religiöser Akteur. Und nicht zuletzt war es am Tag der Inauguration Donald Trumps eine Bischöfin, die öffentlich an seine eigene Menschlichkeit appellierte und als Advokatin für die Menschlichkeit der Opfer seiner Politik auftrat.
Sie schufen einen öffentlichen Raum, wo die private Ohnmacht übermächtig geworden war.
Dem vermeintlichen Bedeutungsverlust entgegnen diese religiösen Akteur:innen eine Perspektive. Sie waren bedeutsam als öffentlicher Raum im Kontext einer ohnmächtigen Gesellschaft (oder Teilen derselben). Öffentlichkeit meinte für Hannah Arendt den Raum, der entsteht, wenn Menschen miteinander sprechen und einander zuhören, indem sie erscheinen (also sich und ihre Meinung zeigen) und miteinander an der Welt handeln, was wiederum das Schaffen einer gemeinsamen Welt bedeutet. Diesem öffentlichen Raum liegen für Arendt Freiheit und Pluralität zugrunde. So wird für sie der öffentliche Raum auch zugleich ein politischer Raum.[2] Genau das geschah in den ESGs zu DDR-Zeiten (und auch beim politischen Nachtgebet in der BRD), es geschah mit Martin Luther King Jr. und wurde durch Bischöfin Mariann Budde initiiert. Sie traten öffentlich in Erscheinung und stifteten Dialog, aus dem heraus in der Welt gehandelt werden konnte. Sie waren als verantwortliche religiöse Akteur:innen eine Öffentlichkeit und damit politisch. Sie waren genau darin bedeutsam, dass sie einen öffentlichen Raum schufen, wo die private Ohnmacht übermächtig geworden war – ganz in Jesu Nachfolge.
Mut zu einer Gemeinschaft, die geprägt ist von gelebter Weltverantwortung, Teilhabe ohne Allmachtsfantasien und Beziehungshaftigkeit.
Religiosität – also die Suche nach und Beziehung zu einem Unbedingten – ist nicht durch Naturwissenschaften oder soziale Medien ersetzt worden. Sie hat sich nur verlagert, insofern als sie nicht mehr in den Kirchen stattfindet. Die sterile Lagerbildung von Politik-hier und Kirche/Theologie-dort ermöglicht denjenigen Akteur:innen, die die subtilen religiösen Nuancen in der Kultur noch wahrnehmen, diese für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Denn sie bewahrt nicht das „Eigentliche“ der Kirche oder des Christentums. Stattdessen reduziert sie es auf Institutionalität und ist dadurch auf perfide Weise erfolgreich darin, es zum Bedeutungslosen verkommen zu lassen. Das „Eigentliche“, das um jeden Preis gewahrt werden sollte, bleibt so auf der Strecke: Mut zu einer Gemeinschaft, die geprägt ist von gelebter Weltverantwortung, Teilhabe ohne Allmachtsfantasien und Beziehungshaftigkeit (auch zum Unbedingten). Ohne diesen Mut zur lebendigen Gemeinschaft können öffentliche (politische) Äußerungen der Kirche nur ins Leere laufen, denn sie spiegeln keine öffentliche, lebendige Gemeinschaft. Für diese Authentizität brauchen wir religiöse Akteur:innen (ob institutionell oder nicht) wieder als öffentlichen Raum. Genau dort können die unterschiedlichen Perspektiven, die im Gefühl der Ohnmacht bis jetzt nur vor sich hin schwelen, zur Sprache gebracht und in Handeln übersetzt werden – sei das diplomatisch oder revolutionär.
Und genau von diesem Mut erzählen die Evangelien.
In Erscheinung zu treten, sich zeigen und gesehen und gehört zu werden, das erfordert Mut. Raum zu stiften, in dem diese Möglichkeit allen Menschen gegeben ist, erfordert ebenfalls Mut. Und genau von diesem Mut erzählen die Evangelien. Bischöfin Mariann Budde hat es gezeigt: Wir brauchen heute wieder den bedeutsamen Mut religiöser Akteur:innen. Denn sie haben das Potenzial, Räume zu öffnen, die – davon zeugt die Ohnmacht – fehlen. Mut meint nicht die Abwesenheit von Angst, sondern trotz Angst zu handeln. Angst vor sozialer Ächtung, unbequemer Resonanz, vor fehlendem Konsens ist unweigerlich. Aber Mut zu öffentlichen Räumen, diplomatisch wie revolutionär, ist notwendig. Wir brauchen diesen Mut religiöser Akteur:innen. Nicht damit wir wieder Bedeutung erlangen, sondern weil wir genau darin bedeutsam sind.
Laura Buchheim, Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Evangelische Theologie an der TU Dresden und Doktorandin am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie der Ruhr-Universität Bochum; Forschungsschwerpunkte: Ökologische Theologie, Verantwortung, Anthropozentrismus.
[1] Katholische Nachrichten-Agentur (2023): Umfrage: Gerade junge Menschen wollen politisch aktivere Kirchen. https://www.kirche-und-leben.de/artikel/umfrage-gerade-junge-menschen-wollen-politisch-aktivere-kirchen [Zugriff am 14.02.2025]; Gehmlich, Pierre/MDR.de (2024): MDRfragt: Geteilte Meinung zum politischen Einmischen der Kirchen. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/mdrfragt-umfrage-kirche-austreten-haltung-zeigen-afd-100.html [Zugriff am 14.02.2025].
[2]Arendt, Hannah (1981): Vita activa. oder Vom tätigen Leben. München: Piper Verlag, S.62–72; Arendt nennt die bedingte Gleichsetzung von Religiösem und Öffentlichem selbst (S. 44; 66–68).
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