Bei aller angebrachter Kritik an TTIP müsse man auch die Alternativen bedenken, so Johannes Wallacher. Sozialethisch gelte es, Welthandelsabkommen zunächst zu würdigen und Maßstäbe ihrer Ausgestaltung zu begründen.
Das Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP), das schon seit einiger Zeit zwischen den USA und der EU verhandelt wird, ist in den letzten Monaten verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Das ist nachvollziehbar, denn schließlich soll sich dieses Abkommen auf 40 Prozent des derzeitigen Welthandelsvolumens beziehen. Der Anspruch dieser transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft geht weit über einen klassischen Freihandelsvertrag, also die Absenkung von Zöllen und anderen Handelsschranken, hinaus, so dass es eigentlich irreführend ist, von einem Freihandelsabkommen zu sprechen. Mit TTIP soll ein Regelwerk für einen gemeinsamen transatlantischen Binnenmarkt geschaffen werden, der möglichst auch als „Blaupause“ für weitere bi- und multilaterale Regelwerke für den grenzüberschreitenden Handel dienen kann.
Freihandelsabkommen – irreführend
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die TTIP-Verhandlungen zuletzt von einer kontroversen, oft emotionalen Debatte begleitet wurden. Während Befürwortende auf positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte für den transatlantischen Raum, aber auch darüber hinaus, verwiesen, fürchteten Kritiker*innen vor allem die Absenkung von Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards sowie die Schwächung des Handlungsspielraums der Nationalstaaten und demokratischer Verfahren durch Investitionsschutzabkommen und private Schiedsgerichte. Mangelnde Transparenz der Verhandlungsprozesse und fehlende Erläuterung der Ziele des Abkommens haben das ihrige zur verbreiteten Ablehnung des Projekts beigetragen.
Nachdem Präsident Obama im Juni 2015 ein „Überholspurmandat“ vom US-Kongress zur Aushandlung von TTIP erhalten hatte, strebten die EU wie die US-Regierung einen zügigen Abschluss des Abkommens an. Nach dem Wahlsieg von Donald Trump, der schon im Wahlkampf multilaterale Handelsabkommen ablehnte und den Ausstieg aus bestehenden Freihandelsabkommen (TPP, NAFTA) als eine seiner ersten Amtshandlungen ankündigte, steht TTIP, wie von Kritiker*innen auf beiden Seiten des Atlantiks gefordert, erst einmal vor dem Aus. Dies könnte sich jedoch als Pyrrhussieg erweisen, wenn dadurch eine protektionistische Handelspolitik die Oberhand gewinnt und Handelspolitik in merkantilistischer Tradition zur Durchsetzung nationaler Interessen missbraucht wird. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Zustimmung für verbindliche Regeln für den grenzüberschreitenden Güteraustausch auf Dauer untergraben wird.
Obamas Überholspurmandat –
Trumps Ausstiegsankündigung
Von daher gilt es, die Bedeutung von Handelsabkommen für die globalisierte Weltwirtschaft sozialethisch zu würdigen und Maßstäbe für deren Ausgestaltung zu begründen. Damit soll der Wert einer kritischen Auseinandersetzung mit solchen Handelsabkommen nicht in Frage gestellt werden. Gerade bei den TTIP-Verhandlungen verdanken wir den Gegner*innen, dass die Debatte öffentlich geführt und inhaltliche sowie prozedurale Fragen dadurch weiterentwickelt werden konnten. Sozialethisch war es jedoch fragwürdig, das Abkommen vor Abschluss rundweg abzulehnen, nicht nur weil das Ergebnis der Verhandlungen in vielen Bereichen noch nicht feststand. Schwerwiegender ist vielleicht noch, dass die Fragen nach Alternativen kaum bedacht wurden. Für ein begründetes Urteil sind nämlich nicht nur mögliche negative Folgen des Abkommens, sondern auch die des Scheiterns des Abkommens und damit verbundener Konsequenzen in Betracht zu ziehen.
Bedeutung von Handelsabkommen sozialethisch würdigen
Grenzüberschreitender Handel ist ein wichtiges Merkmal der Globalisierung, das wirtschaftliche und politische Chancen bietet und – historisch betrachtet – immer auch eine geostrategische Bedeutung hatte. In einer global interdependenten Welt wird die Bedeutung des Handels noch zunehmen, wenn etwa der gezielte Austausch von Agrarprodukten unter bestimmten Bedingungen helfen kann, die Folgen des Klimawandels zu mindern. Außenhandel ist jedoch niemals Selbstzweck, sondern aus sozialethischer Perspektive immer danach zu beurteilen, ob und wie er dazu beiträgt, den allgemeinen Wohlstand und stabile zwischenstaatliche Beziehungen zu mehren, die gesellschaftliche Teilnahme und Teilhabe aller zu steigern sowie insbesondere die Entwicklungschancen der Armen zu verbessern. Kirchliche Soziallehre wie die Klassiker der Politischen Ökonomie stimmen darin überein, dass Markt und Wettbewerb von sich aus nicht in der Lage sind, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Dazu braucht es einen Ordnungsrahmen mit Regeln, die menschliche Grundbedürfnisse sichern und eine faire Verteilung der Chancen und Wohlfahrtseffekte unter allen Beteiligten garantieren. Um das zu erreichen, bedarf es fairer und möglichst partizipativer Verfahren, um solche Abkommen im Interesse aller Beteiligten und davon Betroffenen zu gestalten.
Außenhandel ist niemals Selbstzweck.
Im globalen Maßstab sind jedoch allenfalls Ansätze einer solchen Rahmenordnung vorhanden. So fehlt eine transnationale Wettbewerbsaufsicht, es gibt erhebliche Marktverzerrungen durch Protektionismus, Subventionszahlungen, beispielsweise im Agrarhandel, oder eine weit verbreitete Diskriminierung ausländischer Güter. Soziale oder umweltbezogene sowie klimapolitische Mindestnormen gibt es bislang zu wenig oder sie sind nicht anspruchsvoll genug und werden oft nicht eingehalten.
Um solche Ordnungsdefizite zu beseitigen, sind Abkommen mit fairen und verbindlichen Regeln für den gemeinsamen Handel nötig. Sozialethische Maßstäbe und daraus resultierende konkrete Empfehlungen für ein solches Handelsabkommen zwischen den USA und der EU begründet die Stellungnahme Gerechte Regeln für den freien Handel. Sozialethische Orientierungen für eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), die eine von der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz berufene Expertengruppe im Oktober 2015 vorgelegt hat http://www.dbk-shop.de/media/files_public/reudmnuf/DBK_1243.pdf. Die Kommission empfiehlt (u.a.): größtmögliche Transparenz des Verhandlungsprozesses, Anforderungen an die Standardsetzung und Ausnahmen der Marktöffnung für Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, soziale Ausgleichsmechanismen für strukturelle Verlierer*innen, eine reformierte Investitionsschutzgerichtsbarkeit sowie eine regelmäßige Evaluation der Regeln mit der Möglichkeit der Anpassung.
den Regelbildungsprozess für internationale Beziehungen nicht anderen überlassen
TTIP ist dabei immer nur ein – wenn auch für die EU wichtiges – Ordnungselement. Hauptpfeiler der inter- und transnationalen Ordnung grenzüberschreitender Handelsbeziehungen ist die Welthandelsorganisation (WTO), die 1995 aus dem schon 1947 gegründeten Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) hervorgegangen ist. Seit den 2000ern konnte der multilaterale Ordnungsrahmen der WTO jedoch kaum noch weiterentwickelt werden, stattdessen ist seitdem die Zahl bilateraler und regionaler Handelsabkommen sprunghaft angestiegen. Grundsätzlich erlaubt die WTO den Abschluss regionaler Freihandelsabkommen, solange dadurch keine neuen Handelsschranken nach außen errichtet werden. Daher ist eine wichtige Anforderung für TTIP und andere regionale Abkommen, dass dadurch keine neuen Schranken gegenüber Drittländern, vor allem ärmeren Entwicklungsländern errichtet werden. Von regionalen Abkommen erhofft man sich, aufgrund gemeinsamer kultureller Traditionen und Werte, schneller zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, die dann auch schrittweise auf die globale Ebene übertragen werden können. Wie modellhaft Abkommen wie TTIP weltweit wirken können, liegt jedoch konkret am Willen der Verhandlungspartner*innen und der Bereitschaft, den nationalen Sozialkulturen Entwicklungsräume zu belassen, ja deren Entwicklung zu fördern und die internationale Kooperation, beispielsweise im Klima- und Umweltschutz, voranzubringen.
Derzeit ist eine Einigung über ein TTIP-Abkommen, das den genannten Anforderungen nahe kommt, kaum mehr wahrscheinlich. Dennoch und trotz aller Interessenkonflikte und Hindernisse ist es wichtig, in möglichst transparenten Verhandlungen zu einer Einigung zu kommen, die für alle Beteiligten akzeptabel ist. Sich einfach mit einem Aus für TTIP und anderer Abkommen zufrieden zu geben, würde die Gefahr bergen, den Regelbildungsprozess für internationale Handelsbeziehungen anderen zu überlassen, oder die Bedeutung einer Ordnung des grenzüberschreitenden Handels zu vernachlässigen. Damit würde man jedoch dem Recht der Macht Vorrang vor der Macht des Rechts einräumen, was sicherlich nicht den richtigen Weg hin zu einer gerechten Welthandelsordnung weist.
Johannes Wallacher, Prof. Dr. Dr., ist Präsident der Hochschule für Philosophie München und Professor für Sozialwissenschaften und Wirtschaftsethik an dieser Hochschule.
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