Dass wir vergessen können, ist zunächst eine Fähigkeit, die ins Staunen bringt. Christine Abbt befragt die Philosophie dazu, auch im Hinblick auf das Vergessen als Teil einer Demenzerkrankung.
Mitten im Gespräch fehlt einem ein Name, eine Bezeichnung, ein Datum oder ein anderer Inhalt. Wir sind uns sicher, dass das Gesuchte einmal verfügbar war, aber das Gesuchte selbst lässt sich nicht erinnern. Häufig ärgern wir uns in solchen Situationen. „Das kann doch nicht sein! Das wusste ich doch grad eben noch!“ Oder es schleicht sich ein leises Unbehagen ein: „Sind das die ersten Anzeichen einer Demenzerkrankung?“ Solche und ähnliche Erfahrungen führen dazu, Formen individuellen Vergessens vor allem als Ärgernis und als Einschränkung zu erachten. Wer sich länger mit dem Phänomen Vergessen auseinandersetzt, findet allerdings nicht mehr ausschliesslich ins Schimpfen, sondern auch ins Grübeln. Die Fähigkeit zu vergessen bringt uns gar ins Staunen darüber, dass wir eigenes Vergessen bemerken und ins Denken miteinbeziehen können. Darin sind wir uns möglicherweise zunächst fremd. Doch diese Fremdheit hat etwas mit unserer Freiheit zu tun. Das Vergessen fordert heraus, Fremdheit sowohl als Ressource für die Verwirklichung individueller Freiheit als auch als Bedrohung derselben zu reflektieren und in die soziale Wirklichkeit zu integrieren.
Fremdes Ich als Ressource
Was ist Vergessen? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage zu geben, ist schwierig. Dennoch lässt sich dazu etwas aussagen und interessanterweise auch Erfreuliches. Durch die Literatur der Philosophie zieht sich in Bezug auf das Vergessen eine deutliche Spur des positiven Staunens. Bereits in der Philosophie der Antike erhält das menschliche Vermögen, sich die eigenen Gedächtnisvorgänge bewusst machen zu können, eine zentrale Bedeutung. Wer an sich Formen von Vergessen bemerkt und nicht achtlos darüber hinweggeht, beginnt den Blick neu auszurichten. Das kann der Auftakt zu mehr Erkenntnis und Lernfortschritt bedeuten. Das eigene Sehen, Denken, die persönliche Wahrnehmung können selbst zum Gegenstand unseres Fragens werden. Wann habe ich etwas Bestimmtes vergessen und warum? Welchen Kriterien folgt die Selektion? Wodurch werden Erinnerungsvorgänge angeregt? Kann ich das Vergessen steuern oder entzieht es sich meinem Zugriff?
Durch die Literatur der Philosophie zieht sich in Bezug auf das Vergessen eine deutliche Spur des positiven Staunens.
An sich selbst Vergessen festzustellen, macht zuerst einmal nachdenklich. Wenn jemand realisiert, etwas vergessen zu haben, von dem er oder sie glaubte, es abrufen zu können, offenbaren sich Grenzen der Verfügungsgewalt. Dass die individuelle Wahrnehmung nicht vollumfänglich kontrolliert werden kann, wird auch im umgekehrten Fall deutlich. Plötzlich scheint eine Erinnerung auf, ohne dass diese bewusst gesucht wurde. Wir können konstatieren, dass wir etwas vergessen haben, aber wir wissen nicht, wann oder warum wir es vergessen haben. Ebenso können wir feststellen, dass wir uns unvermitelt an eine Situation oder Person erinnern, ohne dabei genau zu wissen, warum diese Erinnerung in einem bestimmten Moment auftaucht. Das Erleben solcher Phänomene und die aufmerksame Beschäftigung damit verändern den Blick. Das Selbstverständliche wird zum Rätsel, das Vertraute erscheint bei genauerer Betrachtung als fremd.
Wir können konstatieren, dass wir etwas vergessen haben, aber wir wissen nicht, wann oder warum wir es vergessen haben.
An sich Formen von Vergessen zu bemerken, ist eine Möglichkeit, an das Gedächtnis als gewachsener und prägender Bestandteil des bewussten Zugriffs erinnert zu werden. Dabei werden jene Zusammenhänge augenfällig, in die individuelle Sichtweisen stets eingebettet sind. Wer das eigene Vergessen wahrnimmt, erkennt, wie Paul Valéry es einmal formulierte, das Gedächtnis als „Körper des Denkens“ und bezieht es in die Urteilsbildung mit ein. „Was uns beim Gedächtnis beunruhigt, ist, daß wir die permanente Deformierung unseres Systems, die jeder Eindruck ihm aufnötigt, weder wahrnehmen noch uns überhaupt vorstellen können. Dem äußeren Anschein nach hat sich das System nicht verändert; erst ein neuer Anlaß wird erweisen, daß es sich verändert hat – wenn es sich erinnert.“[1]
Die Vergegenwärtigung individuellen Vergessens führt vor Augen, dass es zwischen Jetzt und Vorher, zwischen Jetzt und Nachher eine Verbindung gibt. Diese bleibt unbemerkt, bis uns etwas darauf stossen und aufmerken lässt. Was diese Wahrnehmung im Einzelfall auslöst, kann nicht verallgemeinernd beantwortet werden. Jede und jeder kann es erleben, erproben, reflektieren und kritisch überprüfen. Dabei führt die Beschäftigung mit Formen und Fällen individuellen Vergessens nicht nur vor Augen, dass wir über uns selbst vieles nicht wissen, sondern sie legt nahe, dass wir proportional viel mehr über uns nicht wissen als wir wissen.
Manches an uns bleibt uneindeutig trotz allen Bemühens um Selbst-Erkennung und Selbst-Bestimmung.
Das eigene Nicht-Wissen anzuerkennen hat Konsequenzen: Unsere Identität ist nicht vollständig definierbar, auch nicht von uns selbst. Vieles, das uns ausmacht und prägt, ist nur langsam und nur annäherungsweise zu entschlüsseln. Manches an uns bleibt uneindeutig trotz allen Bemühens um Selbst-Erkennung und Selbst-Bestimmung. Dass wir uns noch nicht einmal selbst jemals komplett kennen können, hat viele Vorteile. In aller Kürze könnte man sagen, dass in diesem Rest an Unbestimmtheit eine Voraussetzung für die Verwirklichung individueller Freiheit, für Solidarität und die Möglichkeit zur Kritik liegt. Was aber, wenn das individuelle Vergessen unkontrolliert zunimmt? Wenn es grosse Teile erfasst und sogar Inhalte unzugänglich macht, welche innerhalb der eigenen Lebensgeschichte zentral und prägend waren (und sind)? Dann ist die Einsicht in eigenes Vergessen kaum mehr als ein Zuwachs an Wissen und Freiheit zu begreifen. Die Unbestimmtheit nimmt dann häufig bedrohliches Ausmass an.
In diesem Rest an Unbestimmtheit liegt eine Voraussetzung für die Verwirklichung individueller Freiheit.
Fremdes Ich als Bedrohung
Wo selbst das alltägliche Ritual zu einer Fremdheitserfahrung wird, versetzt die Einsicht ins eigene Vergessen und Nicht-Wissen zuerst und vor allem anderen in existentielle Angst. Das fortschreitende Vergessen sabotiert jenes Vermögen, das sich jeder Mensch in seinem Leben über Jahre hinweg angeeignet hat: Das Vermögen, sich im Denken zu orientieren.[2]
Immanuel Kant geht in einer kürzeren Schrift mit dem Titel Was heisst: sich im Denken orientieren?, darauf ein, wie es möglich ist, dass sich jemand ohne Kenntnis über die Umgebung, in der er sich gerade befindet, orientieren kann. Kant verweist dabei auf die grundlegende Bedeutung des Gefühls für den eigenen Körper, für den Unterschied zwischen der linken und der rechten Hand. Selbst in einem vollständig dunklen Zimmer könnten wir uns Orientierung verschaffen, indem und solange wir an uns selbst die linke und rechte Seite zu unterscheiden wüssten und uns so mit den Dingen um uns Stück um Stück in ein Verhältnis setzen könnten.
Das fortschreitende Vergessen sabotiert (…) das Vermögen, sich im Denken zu orientieren.
Das Vermögen, sich in der Welt zu orientieren, so scheint mir, nimmt mit zunehmender Demenz ab. Rasant fortschreitendes Vergessen lässt sich entsprechend als eine Form von Orientierungsverlust beschreiben. Eindrücklich wird dieser Prozess in Büchern wie etwa Es schneit in meinem Kopf, in Still Alice oder in Der alte König in seinem Exil thematisiert.[3] Das Gewohnte verliert die Eigenschaft, vertraut zu sein. Zusammenhänge verlieren die Charakteristik, zusammenhängend zu sein. Zunehmend erscheint die Welt dem Betroffenen unbekannt, fremd und fragmentarisch, da es ihm zunehmend unmöglich ist, sich mit der Umgebung in Beziehung zu setzen. Solcherart liesse sich Demenz unter Umständen auch als eine tiefe Müdigkeit begreifen. Eine Art von Müdigkeit hindert die von Demenz betroffene Person daran, weiterhin interaktiv auf die Welt, auf das Geschehen um sie herum zu reagieren, das Gesamterleben zu differenzieren, zu ordnen, zu gestalten, zu verstehen.
Relationales Gedächtnis
Dem Gefühl der Verlorenheit wohnt oft die Sehnsucht nach Orientierung und nach Vertrautem inne. Wir versuchen zum Beispiel, uns neue Orte vertraut zu machen, sie uns anzueignen. Falls es über einen längeren Zeitraum nicht gelingt, Fremdes in Bekanntes, Neues in Gewohntes zu überführen, befällt manchen wohl bald einmal schmerzhaftes Heimweh. Von der unstillbaren Sehnsucht nach Zuhause wird in den Büchern von Demenz-Betroffenen und ihren Angehörigen oft berichtet. Demenz konfrontiert nicht nur damit, dass es nicht mehr gelingt, Neues in Gewohntes zu verwandeln. Auch die Erfahrung, dass bereits einmal Vertrautes sukzessive fremd, ja sogar befremdlich wird, gehört dazu. Demenz, so könnte man es formulieren, ist eine abgründige, weil anhaltende oder sogar anwachsende Erfahrung radikaler Fremdheit. Es ist die Erfahrung einer Fremdheit, welche sich nicht mehr domestizieren lässt. Diese stellt vor die drängende Frage: Wie lässt sich solche radikale Alterität anerkennen und integrieren?
Demenz (…) ist eine abgründige, weil anhaltende oder sogar anwachsende Erfahrung radikaler Fremdheit.
In Anbetracht der Erfahrungen radikaler Fremdheit, und das heisst hier in Anbetracht nicht mehr transformierbarer Alterität, taucht häufig die grundlegende Frage nach Identität auf. Sind wir noch einzigartig, wenn wir uns an nichts mehr erinnern können?[4] Geht der Verlust der persönlichen Erinnerung einher mit dem Verlust der Integrität der Persönlichkeit? Die Frage richtet sich weniger an die Betroffenen selbst als an die Gesellschaft. Diese muss eine Antwort finden darauf, wie mit Menschen umgegangen werden soll, die ihre Lebensgeschichte, persönliche Prägungen und intime Erfahrungen, kaum mehr vergegenwärtigen oder artikulieren können.
Sind wir noch einzigartig, wenn wir uns an nichts mehr erinnern können?
Bei der Suche nach einer Antwort ist wichtig im Auge zu behalten, dass Erinnerungen stets interaktive Prozesse sind, welche durch neue Erfahrungen und durch den Austausch mit Anderen mobilisiert und moduliert werden. Gedächtnis ist nicht anders zu denken als relational. Im Gespräch mit Anderen werden individuelle Erinnerungen sozial vertieft. Sie erhalten im sprachlichen Ausdruck ein schärferes Profil, nehmen je nach Kontext eine spezifische Form an. Wer von fortgeschrittener Demenz betroffen ist, kann oft nicht mehr an den Anpassungsprozessen teilhaben und manchmal sogar auch nicht mehr an den Wiederholungen von standardisierten Erinnerungen. Das bedeutet aber nicht, dass Betroffene aus dem sozialen Erinnerungsdiskurs herausfallen müssen. Im Gegenteil, so lässt sich argumentieren, sind Menschen mit Demenzerkrankung in höherem Mass noch als andere darauf angewiesen, dass gemeinsame Erinnerung gepflegt und wach gehalten wird. Damit wird auch das Bewusstsein dafür gestärkt, dass Identität sich nicht nur je im Moment im Jetzt verwirklicht, isoliert bezogen auf eine bestimmte Person, sondern auch so etwas miteinschliesst wie Dauer und Sozialität.
[1] Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 3, Auf der Grundlage der von Judith Robinson besorgten franz. Ausg. hrsg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M. 1989, S. 423.
[2] Immanuel Kant, Was heisst: sich im Denken orientieren?, Werke in sechs Bänden, Band III, Darmstadt 1996, S. 277.
[3] Klara Obermüller (Hg.), Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer, München, Wien 2006. Lisa Genova, Still Alice, London 2007. Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, München 2011.
[4] Wie erwähnt liesse sich die Frage auch umdrehen: Wären wir wir noch einzigartig, wenn es gelänge, sich an komplett alles zu erinnern, was je auf einen eingewirkt hat?
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Christine Abbt, Prof. Dr., ist SNF-Förderungsprofessorin in Philosophie an der Universität Luzern.
Foto: Franziska Loretan-Saladin