Am kommenden Sonntag gibt es in vielen Städten wieder Demonstrationen der pro-europäischen Bürgerbewegung Pulse of Europe. Christian Bauer meint, dass das auch Christinnen und Christen unbedingt angeht – und dass politisches ‚Normalsein’ heute nicht mehr genügt: Hintern hoch, raus aus der Filterblase und mehr Demokratie wagen!
Innsbruck im März. Wer nicht gerade Skifahren ist, sitzt mit einem Aperol Sprizz in der Fußgängerzone und lässt es sich bei strahlendem Sonnenschein gut gehen. Mittendrin ertönt plötzlich, gespielt von einem Straßenmusiker, eine leicht angejazzte Version der Europahymne: „Freude schöner Götterfunken … “. Europafahnen wehen, gelbe und blaue Luftballons werden verteilt sowie – mit Blick auf die bevorstehende Niederlande-Wahl – auch Tulpen. Rund zweihundert Menschen lassen bei frühlingshaftem ‚Kaiserwetter’ europäische Werte pulsieren, beschwingt vom links-anarchischen Swing des Tiroler Street noise orchestra. Leonie, die sich selbst eine „alte Hippie-Lady“ nennt, verliest die zehn Forderungen von Pulse of Europe: improvisierte Mikropolitik mit freiem Geist, Lebenslust und einem sympathischen Zug ins Chaos. Imagine von John Lennon erklingt: „You may say, I’m a dreamer, but I’m not the only one. I hope someday you’ll join us and the world will be as one.“
Zeit, sich aufzuraffen
Ich bin nun 43 Jahre alt und war eigentlich immer ein politischer Mensch: Zeitungsleser, Abiredner, Diskutant, Lichterkettensteher, Wähler, Demogeher … und jetzt weiß ich, dass all das nun nicht mehr reicht. Großbritannien verlässt Europa, weil zu viele Menschen dachten, dass das reichen würde. Donald Trump ist US-Präsident, weil zu viele Menschen dachten, dass das reichen würde. Das Normale ist jetzt nicht mehr genug! Nicht in Zeiten akuter Gefährdung unserer freiheitlichen Lebensform in offenen Gesellschaften. Sonst erwachen wir am Ende des Tages und jeder wundert sich, „was alles möglich ist“ (Norbert Hofer, FPÖ). Ganz ähnlich muss es auch dem Frankfurter Anwalts-Ehepaar gegangen sein, das im November 2016 den Anstoß für Pulse of Europe gab: Wann sollte man etwas tun, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Und wer, wenn nicht wir?
„Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Und wer, wenn nicht wir?“
Vieles von dem, was mir wertvoll ist, ist heute ernsthaft in Gefahr: individuelle Freiheit, demokratische Teilhabe, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit – kurz: die façon de vivre jenes „normativen Projekts des Westens“ (Heinrich August Winkler), um das wir Europäerinnen und Europäer auf der ganzen Welt beneidet werden: „Ein Terroranschlag in Paris“, schrieb Gustav Seibt nach den Anschlägen des November 2015 in der SZ, „hat eine symbolische Bedeutung, die jeden Bürger der westlichen Welt ins Herz treffen muss. Es geht, wie sofort und zu Recht gesagt wurde, um ‚unsere Art zu leben’. Es geht um ein welthistorisch ziemlich spätes, ziemlich einzigartiges Amalgam von Freiheit und Lebensfreude, Aufklärung und Hedonismus.“
Europa war für mich stets ein Versprechen des guten Lebens. Schon als Schüler faszinierte mich die Idee der Vereinigten Staaten von Europa – und das in einem Kontinent, der zum Schauplatz des wohl barbarischsten Zivilisationsbruchs der Menschheitsgeschichte wurde. In einer Stadt geboren, die als ‚Grab am Main’ nach dem Krieg zunächst einmal als Mahnmal stehen bleiben und nicht wieder aufgebaut werden sollte, wurde sie Teil meiner politischen Identität: „I am a European coming from Germany“, so stellte ich mich in Indien oder anderswo vor. Und als ich dann eine längere Weile in Paris lebte, bewegten mich die Worte eines polnischen Freundes beim Anblick der Europafahne kurz nach dem Beitritt seines Heimatlandes: „This is now our flag, too.“ Heute lebe ich mit meiner Frau und meinen Kindern als deutscher Arbeitsmigrant in Österreich und denke mir, dass der vor kurzem im EU-Parlament geäußerte Vorschlag, jeder jungen Europäerin und jedem jungen Europäer zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket zu schenken, vielleicht gar keine schlechte Idee ist…
Zeit, sich hinauszuwagen
Ein gängiger Topos emotional betroffener Intellektuellengespräche nach Brexit oder Trump ist das überraschte Erschrecken darüber, dass man eigentlich niemanden persönlich kennt, der oder die für den EU-Austritt Großbritanniens oder Donald Trump gestimmt hat. Gegen diese milieuspezifische Selbstbeschränkung hilft nur eines: Raus aus der eigenen Echokammer, raus aus der Filterblase des Milieus und rein in die Gesellschaft. Hin zu denen, die anders fühlen und anders denken und anders reden. Den Hintern hoch bekommen und mit ihnen sprechen. Face to face. Sie nach ihrer Geschichte fragen und auch die eigene Geschichte erzählen. Auf Bauchgefühle nicht mit Kopfargumenten antworten. Mehr Demokratie wagen – oder besser: überhaupt Demokratie wagen.
„Bauchgefühle nicht mit Kopfargumenten beantworten.“
Zusammen mit einem Kollegen aus der Europäischen Ethnologie bereite ich gerade ein Seminar zum Thema Rechtspopulismus und Neue Rechte in Innsbruck vor und merke dabei, wie schwer das ist. Sich unter konspirativen Bedingungen erste Feldkontakte verschaffen, von Terminen und Treffpunkten erfahren. Unser Ziel ist ein besseres Verstehen, teilnehmende Beobachtungen in einem Mikrokosmos, zu dem ich in meinem Alltag so gut wie keine Schnittstellen habe. Europa braucht entsprechende Orte der Begegnung, des Kontakts von sozial Geschiedenem. Genau solche Orte adressiert auch das romantisierende Aufklärungspathos von Schillers Ode an die Freude: „Deine Zauber binden wieder, was der Mode Schwert geteilt; alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“
Zeit, andere Geschichten zu erzählen
Wie die Vereinigten Staaten von Amerika, so besitzt auch die Europäische Union nicht nur eine Hymne, sondern auch ein eigenes Sternenbanner: zwölf gelbe Sterne auf blauem Grund. Aus der christlichen Ikonographie kennt man Darstellungen, in denen die Mutter Gottes von einem ähnlichen Sternenkranz umgeben ist. An jener Stelle, wo sie einst dessen offene Mitte füllte, findet sich in der Europaflagge eine unbesetzte „Leerstelle“ (Ulrich Engel) – was bleibt, sind die Sterne der Gloriole auf dem marianischen Blau des Hintergrunds. Diese leere Mitte erinnert an jene Flaggen, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auf den Straßen Osteuropas zu sehen waren. Auch in ihrer Mitte prangte ein großes Loch: Hammer und Sichel waren aus den alten Nationalfahnen ausgeschnitten worden. Freies Denken, so lautet die Botschaft, braucht eine offene Gesellschaft als Voraussetzung eines guten Lebens für möglichst viele. Mit Blick auf das europäische Sternenbanner gilt es, die leere Mitte dieser offenen Gesellschaft, für die nach dem 9. 11. (1989) gekämpft wurde, auch anlässlich des 11. 9. (2001) gegen den zunehmenden Fanatismus und Populismus zu verteidigen. Dass der Wind sich dreht, ist kein Naturereignis!
„Heimat im Offenen“
Gegen die politischen „Frames“ (Elisabeth Wehling) all jener „Feinde der offenen Gesellschaft“ (Karl Popper), die gerade überall so lautstark zu hören und so unübersehbar zu sehen sind, gilt es eigene identitätsstiftende Narrative zu setzen, die ebenso stark auf das verlorene „Kohärenzgefühl“ (Aaron Antonovsky) unserer Gesellschaften antworten. Orte des Erzählens vom eigenen Leben, an denen die vielen kleinen Geschichten unserer spätmodernen Existenz nicht wie in Fanatismus und Populismus zu neuen große Erzählungen homogenisiert werden müssen, um als ein „offenes Narrativ“ (Lieven Boeve) lebbar zu sein und so etwas wie Heimat im Offenen zu ermöglichen. Genau darin lägen dann vielleicht auch die spirituellen Ressourcen des Christentums für das europäische Modell einer freiheitlichen, demokratischen, solidarischen und nachhaltigen Gesellschaft. Wo dies in Gefahr ist, können auch Christinnen und Christen nicht beiseite stehen – schauen Sie doch mal, vielleicht gibt es Pulse of Europe am nächsten Sonntag ja auch in Ihrer Stadt!
Bildrechte: Monika Himsl, Innsbruck