Wie irritationsresistent ist die Systematische Theologie? Michael Schüßler zu einer jüngst aufgebrochenen Debatte über den wissenschaftlichen Status der Theologie.
Benedikt Paul Göcke hat der Theologie in einem Beitrag[1] für die Herder-Korrespondenz vorgeworfen, sie vernachlässige eine heute intellektuell redliche und auf der Höhe der Zeit argumentierende Glaubensreflexion. Und das beträfe vor allem die seiner Meinung nach zentralen Disziplinen, die Fundamentaltheologie und die Dogmatik. Beide verweigerten sich der Analytischen Philosophie, an der vorbei es eine wissenschaftstheoretische Grundlegung von Theologie nicht mehr geben könne. Magnus Striet[2] hat an gleicher Stelle darauf reagiert. Die zentrale Erkenntnis aus dem kleinen Disput aber lautet: Die Systematische Theologie kann offenbar nicht von ihren Einheitsfiktionen lassen.
Einheitsfiktionen
Göckes herrlich zupackende Kritik deckt sicherlich die blinden Flecke einer hermeneutisch-modernen Theologie in der Spur Kants auf. Aber er tut dies eben nicht um der Vielfalt von Begründungsdiskursen Willen. Sein Text will eine Monokultur durch eine andere Monokultur ersetzen. Es geht beim Streit von hermeneutisch-transzendentaler und analytischer Theologie um die Hegemonie zweier Letztfundierungsstrategien in der Glaubensbegründung. Darum kann man sich streiten und das sollte vielleicht viel mehr und viel öfter passieren.
Was bei dieser Kontroverse aber nicht im Blick ist, für die Theologie heute aber entscheidend, das hat Ingolf U. Dalferth vor ein paar Jahren so ausgedrückt: Das Waterloo von Kirche (und Theologie) ist nicht das Denken, sondern das Leben.[3] Diese Feststellung bleibt auf der Ebene rationaler Glaubensreflexion und will nichts in „Praxis“ auflösen. Aber sie verlagert den Focus theologischer Intellektualität weg von reinen Binnendiskursen transzendentaler oder analytischer Vernunftskonzeptionen zur Relationierung derselben mit anderen Orten des Lebens und Denkens.
Relationierung von Binnendiskursen
Aber ist das überhaupt die Aufgabe der systematisch-theologischen Fächer? Die liege nach ihrer oft beschworenen Selbstbeschreibung in der Rechtfertigung von Theologie vor dem „Forum der öffentlichen Vernunft“ (Göcke, 34). Doch welche Wirklichkeitskonstruktion steckt eigentlich in dieser Verortung? Wer gehört heute überhaupt zum „Forum der öffentlichen Vernunft“? Vielleicht würde es der Theologie insgesamt guttun, hier nicht nur an „Der philosophische Diskurs der Moderne“ von Habermas zu denken, sondern ebenso auch an „Der soziologische Diskurs der Moderne“ von Armin Nassehi, um ein Beispiel zu nennen.
Die auch theologisch anstehende Umstellung lautet: Der rational verantwortete Ort einer Beschreibung und Konzeptionalisierung von Welt und Mensch in seiner Relation zu Gott liegt nicht mehr allein in der Bewusstseinsphilosophie und auch nicht allein in der Sprachlogik. Mit Nassehi gesprochen: Der Ort ist mindestens auch das Empirische selbst als voraussetzungsreiches Netzwerk von Ereignisgegenwarten. „Nicht hinter der Praxis, also transzendental, ist … anzusetzen, sondern in ihr. Was erklärt werden muss, ist dann die Frage, wie ein praktisches Ereignis auf das nächste trifft, wie angeschlossen wird, welche Selbsteinschränkung von Möglichkeiten eine Praxis entstehen lässt, die sich zwar überrascht, aber nicht überfordert. Diese praxistheoretische Perspektive ist eine Theorie der Gegenwart, nicht eine der Präsenz.“[4]
Die Theologie kann dieser pastoralen Wende von der Vernunft der einen Vernunft hin zu den vielen Rationalitäten und Ontologien des praktischen Lebens in der Unübersichtlichkeit ihres immer erst zu entdeckenden Vollzugs nicht ausweichen.
Von daher gilt gerade aus Praktisch-Theologischer Perspektive das Plädoyer überhaupt nicht einer Desavouierung Systematischer Theologie als Glasperlenspiel. Ganz im Gegenteil braucht auch eine etwa empirisch ansetzende Praktische Theologie mit Bruno Latour[5] die ganze Breite und Vielfalt des Denkens und der Begriffsarbeit, um den Akteuren in ihrem Leben und Glauben der Gegenwart überhaupt folgen zu können.
Wenn ich recht sehe, gibt es auf der Begründungsebene damit zwei echte Herausforderungen. Nämlich zum einen die Diversität theologischer Glaubensreflexion konstruktiv und konstitutiv denken zu können. Jede monopolartig auftretende Theologie im Gestus der Letztfundierung greift zu kurz, mag sie in sich noch so elaboriert gebaut sein. Sie bleibt dann in Bezug auf die Herausforderungen von beschleunigten und konfliktiven Lebenswelten einfach zu unterkomplex.
Notwendige Irritationen
Zum anderen stellt sich damit die Frage, ob und wie sich eine Systematische-Theologische Diskursivierung überhaupt von anderen Existenzweisen[6] (Latour) irritieren lässt. Um mit dem Neuen Realismus[7] zu sprechen: Es gibt eine Welt außerhalb des Textes, ihr kommt ein ontologisches Gewicht zu und die Welt der Texte kann dem heute weder transzendental noch rein sprachlogisch, also analytisch, ausweichen.
Gut, manche Theologie glaubt das offenbar bis heute. Und in der konstitutiven Nichtbeachtung einer kulturwissenschaftlich arbeitenden Bibelwissenschaft oder der Theologiegenerativität Praktischer Theologie dokumentiert sich das aufs trefflichste. Für beide ist diese Nichtbeachtung übrigens eher eines der kleineren Probleme. Für die innertheologische Zentralitätsvermutung von Fundamentaltheologie und Dogmatik ist es aber wohl eines der größeren.
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Michael Schüßler ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Tübingen und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Photo: Rainer Bucher
[1] Benedikt Paul Göcke, Glaubensreflexion ist kein Glasperlenspiel, Herderkorrespondenz 1/2017, 33-36.
[2] Magnus Striet, Wunderbar, man streitet sich, Herderkorrespondenz 2/2017, 13.
[3] Diese Formulierung in: Ingolf U. Dalferth, Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 268f.
[4] Armin Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 2006, 229.
[5] Das findet sich in Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt/M. 2007, 90.
[6] Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014.
[7] Vgl. den Rezeptionsversuch Michael Schüßler, Spekulativer Realismus bei Quentin Meillassoux. Eine Provokation theologischen Denkens nach der Postmoderne, ThQ 195 (2015) H. 4, 361-378.