Michael Böhnke zeigt, warum Ostern ohne Pfingsten nicht verstanden werden kann.
So schön das auch sein mag. Theologisch verstehe ich nicht, warum wir Ostern feiern? Was soll an Ostern festlich sein? Ist es nicht merkwürdig, dass der Jubel die Liturgie dominiert? Merkwürdig wenn nicht paradox erscheinen österlicher Festcharakter und Jubel wenigstens dann, wenn man sich das in den Evangelien geschilderte Verhalten der Jüngerinnen und Jünger Jesu ‚am ersten Tag der Woche‘ vergegenwärtigt. Warum geht – dem johanneischen Narrativ zufolge – Maria von Magdala in aller Frühe zum Grab (Joh 20,1)? Sicher nicht, um den Gekreuzigten als den Auferstandenen zu verkündigen. Vielmehr dürfte sie die Nähe des Verstorbenen gesucht haben. Als sie das leere Grab sieht, jubelt sie nicht. Sie denkt nicht, der Herr ist auferstanden. Vielmehr gerät sie in Panik: „Sie haben den Herrn aus dem Grabe weggenommen, und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (Joh 20,2). Petrus und ein weiterer Anhänger Jesu können das kaum glauben. Sie rennen zum Grab und finden es – zumindest das hätten sie Maria glauben können – leer vor.
Was bitteschön, soll am leeren Grab festlich sein?
Daran, dass ER von den Toten auferstanden ist, denken auch sie nicht. Von Maria von Magdala wird im Folgenden berichtet, dass sie weinte. Zur Trauer über den Tod kommt Verzweiflung über den verschwundenen Leichnam. Sie will ihn zurückholen, wohl wieder bestatten. Der Herr spricht sie, so wird es von dem Verfasser des Johannesevangeliums erzählt, durch den an, den sie für den Gärtner gehalten hat, und von dem sie sich Auskunft über den Verbleib des Leichnams erhoffte. Er offenbart sich ihr mit den Worten „Maria […] Halte mich nicht fest. Denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgestiegen. Geh aber zu den Brüdern und sage ihnen: Ich steige hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,16f.). Doch Maria ist offenbar zu aufgeregt, um diese Botschaft zu überbringen. Sie zeigt sich den Jüngern gegenüber nur begeistert darüber, dass sie den Herrn gesehen hätte. Insofern tut sie das Gegenteil von dem, was der Herr ihr aufgetragen hat: Sie hält ihn fest! Kein Wort darüber, dass Jesus nicht einfach ins Leben zurückgekehrt ist.
Maria von Magdala tut das Gegenteil von dem, was der Herr ihr aufgetragen hatten: Sie hält ihn fest!
Die Jünger haben, so geht die Ostererzählung weiter, Angst. Sie wissen nicht, was los ist. Sie müssen einen Skandal fürchten, vielleicht auch, dass der Verdacht auf sie fällt, wenn das mit dem trotz Bewachung leeren Grab öffentlich wird. Sie haben sich verbarrikadiert. Das ist ihr Ostern! Ihren Frieden finden sie erst am Abend: in der Begegnung mit dem Herrn.
Trauer, Bestürzung und Angst dominiert auch das Verhalten der Emmaus-Jünger, von denen im Lukasevangelium berichtet wird (Lk 24,13).
Unglaube, Trauer und Weinen bestimmt auch die österliche Situation der Jünger nach Markus (vgl. Mk 16). Unglaube, Zweifel und Angst thematisiert auch Matthäus, der die These erwägt, dass die Jünger trotz der Wachen vor dem Grab den Leichnam gestohlen haben könnten (vgl. Mt 28,13).
Die Ostererfahrungen der Jüngerinnen und Jünger: Unglaube, Trauer, Verzweiflung und Angst
Für die Jüngerinnen und Jünger Jesu war Ostern offenbar alles andere als ein Fest. Trotzdem dominiert in der Osterliturgie der Kirche der Jubel. Das wird erst plausibel, wenn man Ostern von Pfingsten her versteht. Erst die Sendung des Geistes befähigte die Jünger zum Jubel, ermutigt sie, den am Kreuz Gestorbenen, den Abwesenden, als den Herrn zu verkünden, den Gott von den Toten auferweckt hat.
Wir vergessen das im österlichen Jubel nur allzu leicht. Die Osterbotschaft jedoch beinhaltet ein Moment der Diskontinuität. Der Auferstandene ist als der zu verkündigen, der nicht mehr da ist, weil er beim Vater ist. Indem wir das übergehen und übersehen, werten wir Pfingsten ab. Die Geistvergessenheit in Glaubensbewusstsein, Theologie und Kirche findet darin einen ihrer Gründe. Wer Ostern laut jubelt, weiß nicht, was er Pfingsten feiern soll, weil ihm die Gegenwart des Herrn selbstverständlich erscheint. Wir behaupten, wir hätten den Auferstandenen gesehen und haben darüber vergessen, dass er abwesend, dass er zum Vater gegangen ist.
Wer Ostern laut jubelt, weiß nicht, was er Pfingsten feiern soll, weil ihm die Gegenwart des Herrn selbstverständlich erscheint.
Die johanneischen Abschiedsreden betonen das Moment der Diskontinuität. Jesu Fortgang zum Vater wird als Grund und Bedingung der Sendung des Geistes angesehen (Joh 16,7) „Denn der Geist war noch nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht war“ (Joh 7,39; vgl. 20,21). Udo Schnelle hat den Evangelisten Johannes aufgrund dieser Diskontinuität als Geisttheologen bezeichnet und zugleich auf die pneumatologische Hermeneutik des Werkes aufmerksam gemacht.[1] Johanna Rahner hat über die Dialektik von Abwesenheit des Erhöhten und Geistsendung zutreffend geurteilt: „Diese Diskontinuität hat Priorität vor jeglichem Versuch des Kontinuitätsgewinns, weil diese Diskontinuität die Möglichkeit der Kontinuität erst eröffnet“.[2]
Otto Dilschneider war es, der 1961 die Formel von der Geistvergessenheit in der Theologie geprägt hat. Genau gesagt, hat er in Anlehnung an die Rede von der Seinsvergessenheit der Metaphysik bei Heidegger die Geistvergessenheit der Pneumatologie moniert.[3] Die seinen Beitrag leitende Fragestellung ist die nach der Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem kerygmatischen Christus. Dilschneider identifiziert den Heiligen Geist als das Kontinuum, der beide Momente im Zeugnis des Kerygmatikers in einer „pneumatischen Identität“ (263) zusammenführt. „Es ist das Kontinuum des Geistes, das den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus im Zeugnis des Kerygmatikers zusammenbindet und so vereint, dass sich im Kerygmatiker der Christus selber bezeugt“ (263).
Das, worum es Dilschneider bei der Überwindung der Geistvergessenheit im Verständnis der göttlichen Selbstoffenbarung ging und geht, ist die Wiederentdeckung der Eigenart des Heiligen Geistes. Die zentrale Einsicht lautet, dass der Geist die Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem verkündeten Christus im Zeugnis des Kerygmatikers ist. Der Kerygmatiker ist es, der im Geist Christus selber bezeugt.
Die Diskontinuität zwischen dem irdischen Wirken Jesu und seiner Verkündigung erschließt die Eigenart des Heiligen Geistes.
Papst Johannes Paul II. hat in seiner am 18. Mai 1986 unter dem Titel Dominum et vivificantem[4] veröffentlichten und heute leider fast vergessenen Geistenzyklika die Diskontinuität zwischen Jesu irdischem Wirken und seiner nachösterlichen Verkündigung als Grund und Bedingung für die Einsicht in das Wirken des Heiligen Geistes sowie seine Eigenart bezeichnet. Er hat in Anlehnung an Joh 16,7, wo es heißt: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden“, auf den Zusammenhang zwischen der Abwesenheit des Erhöhten und dem Kommen des Geistes hingewiesen.
Die Enzyklika betont die Abhängigkeit der beiden Ereignisse voneinander, indem das Fortgehen Jesu als Bedingung für das Kommen des Geistes angesehen wird und in einem bestimmten Sinn, nämlich dem, dass sich im Kreuzestod Jesu Proexistenz vollendet, auch als soteriologischer Grund für die Sendung des Geistes angesehen werden kann (vgl. 8). „Die Erlösung, vom Sohne Gottes vollbracht in den Dimensionen der irdischen Geschichte des Menschen – vollbracht in seinem ‚Fortgehen‘ durch Kreuz und Auferstehung – wird zugleich in ihrer vollen erlösenden Kraft dem Heiligen Geist übertragen: demjenigen, der ‚von dem Meinen nehmen wird‘. Die Worte des johanneischen Textes zeigen, daß das ‚Fortgehen‘ Christi im göttlichen Heilsplan unerläßliche Bedingung für die Sendung und das Kommen des Heiligen Geistes ist; sie besagen aber auch, daß Gott dann beginnt, sich im Heiligen Geist zu unserem Heil erneut mitzuteilen.“ (11) Dem Fortgehen Christi wird erlösende Bedeutung beigemessen, weil in ihm, verstanden als Jesu Gang zum Vater, Gott sich mit dem toten Jesus identifiziert. Es bedeutet aber auch, dass Jesus nicht durch sich in der Welt gegenwärtig ist.
Das Fortgehen Jesu ist die Bedingung für das Kommen des Geistes.
Theologisch dürfen wir also nicht wie selbstverständlich von seiner Gegenwart ausgehen. Diese Einsicht des päpstlichen Rundschreibens ist von grundlegender Bedeutung. Sie ist jedoch in den vergangenen dreißig Jahren kaum rezipiert worden. Das verwundert umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Enzyklika mit dem Anspruch formuliert worden ist, die schon von Papst Paul VI. benannten pneumatologischen Defizite in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils zu beheben.
Eberhard Busch hat berichtet, dass Karl Barth 1967 in einem Kolloquium über die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils den damals in Tübingen lehrenden Professor Ratzinger mit einer Frage verblüfft habe. Er wollte wissen, „ob die römisch-katholische Kirche vielleicht Angst vor dem Heiligen Geist habe: ‚Warum spielt die Tradition, auch wenn sie jetzt neu verstanden ist, immer noch eine so tragende Rolle für die katholische Kirche? Kommt das etwa aus einer Angst vor dem Heiligen Geist? Lieber Herr Ratzinger, ich frage nur, und Sie werden sich das wohl auch selbst fragen, ist Ihre Kirche vielleicht aufgebaut auf der Flucht vor dem Heiligen Geist?‘“[5]
Flieht die katholische Kirche vor dem Heiligen Geist? Und gehen nicht Angst vor Diskontinuität und Flucht vor dem Heiligen Geist Hand in Hand?
Ausgerechnet Karl Barth, so war meine erste Reaktion, als ich das gelesen habe. Dann aber habe ich mich gefragt: Könnte nicht doch was dran sein, an dieser Frage? Gehen nicht Angst vor Diskontinuität und Flucht vor dem Heiligen Geist Hand in Hand? Müsste man nicht pneumatologisch auf die Treue Gottes, die sich im vielfältigen Zeugnis der Kerygmatikerinnen und Kerygmatiker zeigt, setzen, oder mit anderen Worten: auf den Diskontinuität überwindenden Beistand des Heiligen Geistes?
[1] U. Schnelle, Johannes als Geisttheologie, NT 40,1 (1998), 17–31.
[2] J. Rahner, Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geist-Paraklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums, in: ZNW 91,1/2 (2000), 72–90, 90.
[3] O. Dilschneider, Die Geistvergessenheit der Theologie. Epilog zur Diskussion über den historischen Jesus und kerygmatischen Christus, in: ThLZ 86 (1961), 255–266. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz.
[4] P. Johannes Paul II., Enzyklika Dominum et vivificantem. Über den heiligen Geist im Leben der Kirche und der Welt vom 18. Mai 1986, zit. nach: http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_18051986_dominum-et-vivificantem.html, Nr. 11 (10.11.2015). Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf die Abschnitte der Enzyklika.
[5] Cornelis van der Kooi, Die Phänomenologie des Heiligen Geistes im Spätwerk Karl Barths in: Der Heilige Geist und das christliche Leben nach Karl Barth (ZDTh 60) Leipzig 2014, 33–49, 40f. unter Bezugnahme auf: Eberhard Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, Göttingen 2011, 230.
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Michael Böhnke ist Professor für Systematische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal.
Bild: Michael Böhnke