Gemessen an der Zahl von Abteilungen oder Agenturen, die in deutschen Diözesen und Landeskirchen sei es als interne oder als externe Dienstleister mit der Vokabel „Entwicklung“ (Kirchen-, Organisations-, Pastoral-, Gemeinde-) auftreten, müsste das kirchliche Leben im Lande nur so brummen, analysiert Judith Müller.
Nimmt man noch die Initiativen und Firmen hinzu, die sich durch ein X (z.B. FreshX, PfinXten, Xpand) oder eine 2 im Namen (Kirche², Futur2) empfehlen, könnte man den Eindruck gewinnen, wir erlebten gerade eine kraftvolle kirchliche Aufbruchszeit.
Dass dem nicht so ist, dass weithin das Gegenteil erlebt wird, dass vielen Haupt- und Ehrenamtlichen eine schwere Müdigkeit in den Knochen steckt, dass trotz gut gemeinter Aufrufe zu Innovation und Experiment, trotz zahlreicher Impulse für eine sozialräumliche, milieu- und ressourcenorientierte Pastoral die Energiekurven hoffnungsbereiter Williger meist schnell wieder abfallen, das können alle bezeugen, die sich aus pastoralen Planungs- und Konzeptabteilungen und Forschungszentren regelmäßig in die Niederungen der konkreten pastoralen Wirklichkeit vor Ort begeben.
Heilmittel, die Quoten ins Plus zu drehen.
Ob ausdrücklich so gesagt oder nicht, wird bei Aufrufen zu innovativer Pastoral – was auch immer genau damit gemeint ist – eine Verheißung und ein Imperativ mittransportiert. Die Verheißung: Es gibt ein Heilmittel, die Quoten kirchlicher Beteiligung noch einmal ins Plus zu drehen. Der Imperativ: Es müsste von den Leitungsverantwortlichen endlich beherzt aufgegriffen und vor Ort breit genug angewandt werden.
Es kann nochmal aufwärts gehen.
Einzelne Gemeinden, die gegen den Trend zu wachsen scheinen, oder auch einzelne charismatische Priester, die ihre Kirche voller haben als andere, haben Prominentenstatus und werden in der Kircheninnovationsszene von Bühne zu Bühne, von Kongress zu Kongress herumgereicht. Es kann nochmal aufwärts gehen, wenn man es denn wollte und endlich richtig machen würde!
Dagegen steht jedoch ein ernüchternder religionssoziologischer Befund. Abgesehen von punktuellen und flüchtigen Phänomenen sind weit und breit keinerlei Indizien dafür auszumachen, dass der Entkirchlichungstrend, der seit den 30erJahren des letzten Jahrhunderts voranschreitet, und der von den Kirchlichkeitsnachblüten der Nachkriegs- und der Konzilszeit lediglich kurz unterbrochen wurde, grundlegend aufzuhalten oder gar umzukehren wäre. 1
Zahnpasta, die nicht in die Tube zurück will.
Ausschlaggebend dafür ist nicht ein mehr oder weniger ungeschicktes Handeln von Kirchenakteuren, sondern vielmehr der Umstand, dass die großen Bewegungen von Individualisierung und Pluralisierung sich nicht umkehren lassen. Wie die Zahnpasta, die nun einmal nicht in die Tube zurück will.
In einem Redebeitrag zum Ökumenischen Kirchentag 2003 hat der Schriftsteller Robert Schneider die Lage der Kirche in Deutschland frei von allen falschen Hoffnungen schonungslos beschrieben. Der Text ist ein eindrucksvolles Beispiel an Fremdprophetie. Er enthält mehr an geistlicher Substanz als so mancher Ruf nach „geistlichen Prozessen“, die den Geruch atmosphärischer Weichspüler zu „harten“ Strukturmaßnahmen nie ganz loswerden. Ein Auszug:
„Die deutschsprachige Kirche – die katholische wie die evangelische – ist im Zerfallen. Ihr Zerfall geschieht unmerklich, schleichend, leise, und die Agonie, in der sie nunmehr liegt, kommt dem Erlöschen des Bewusstseins gleich, dem Stillstand des Pulses. Noch hin und wieder bäumt sich ihr sterbender Körper auf. Er wehrt sich mit verzweifelten Konzepten der Hoffnung gegen die Ohnmacht, in die er gesunken ist. Eine Ohnmacht – wie im Fall der katholischen Kirche – just beginnend in den Jahren, da ein großer Aufbruch zu gewärtigen schien: Nach dem Zweiten Vatikanum. Glanz und Herrlichkeit sind vergangen, die Macht zerronnen, die Autoritäten verspielt, die Inhalte verstellt und vergessen gar. Zur Marginalie ist die deutsche Kirche geworden, zu einer Füllstimme in dem polyphonen Satz zahlloser religiöser und pseudo-religiöser Bewegungen. Den Medien gerade noch billig für eine kurz aufblitzende Geschichte: […] Weihnachten, Abendmahlsfeier, Ostern sind längst sich ad absurdum geführt habende Feste, inhaltsfrei, bedeutungsvergessen.“ 2
Einübung in die Ohnmacht.
Schneiders Beitrag trägt die Überschrift „Einübung in die Ohnmacht.“ Sich der Ohnmacht zu stellen, „Ideale aufzugeben, ohne dabei seiner selbst verlustig zu gehen“, sieht er als die eigentliche Herausforderung der Kirche in dieser Zeit: „Sich der Ohnmacht ausliefern heißt, so glaube ich, die Wirklichkeit anzuerkennen wie sie ist, nicht länger mit Konzepten dagegen anzugehen. Die Wirklichkeit, von der man sich, wie unsere Vorväter sagten, kein Bild machen soll, die weder Gut noch Böse, noch Richtig oder Falsch erkennt, sondern dieser Trennung nicht bedarf.“
Auf die Frage, was zu tun ist, lautet die Antwort: „Eben nichts ist zu tun. Es kann gar nichts getan werden – das ist meine Überzeugung –, denn alle künstlichen Wiederbelebungskonzepte, jeder bemühte Neuaufbruch, all die hilflosen Versuche einer scheinbar zeitgemäßen Bild- und Sprachfindung müssen scheitern. Auszuhalten ist die Ohnmacht, ohne in Tatenlosigkeit zu versinken oder die Umstände verantwortlich zu machen. Einzuüben ist die Ohnmacht, anzunehmen, sie zu respektieren, sich endlich ihr zu stellen. Das ist menschliches, christliches, kirchliches Tun genug.“
„Nichts ist zu tun – ohne in Tatenlosigkeit zu versinken.“ Damit ist in paradoxer Sprache die geistliche Haltung beschrieben, die so wesentlich wie notwendig ist: Absichtslose, wach engagierte Präsenz, die Kraft des Gegenwärtigseins.
Absichtslose Präsenz.
Es geht um die Gelassenheit, nicht etwas sein zu müssen, was man nicht ist, sondern die konzentrierte Selbstverständlichkeit, das zu sein, was man – und zwar ohne das Wörtchen „noch“ – ist: als Kirche in der Gesellschaft, als Seelsorger und Seelsorgerinnen in den Begegnungen, als Christenmensch im Leben. Es ist was es ist: Die Liebe. Der Glaube. Eine Gemeinde. Eine Ordensgemeinschaft. Die Kirche.
Diese Grundhaltung ist eine weisheitliche. Sie befähigt zur „Freude, bei den Menschen zu sein“ (Spr 8,31), ohne den Erfolg dieser Präsenz messen zu müssen in steigenden Beteiligungszahlen. Sie drängt sich nicht auf. Sie „schreit und lärmt nicht“ (Jes 42,2). Sie ist frei von Kampf und Krampf, von der Angestrengtheit, die mit dem Buhlen um Aufmerksamkeit und Relevanz einhergehen.
Viele der kirchlichen Entwicklungsprozesse nennen sich „Zukunftsprozesse“. Es sind „Weichen in die Zukunft“ zu stellen. Kirchliche Strukturen und pastorales Handeln sollen „zukunftsfähig“ ausgerichtet werden. „Innovationen“ und „Experimente“ sollen gewagt werden.
Eine Kirche, die angestrengt daherkommt.
Bräuchten es nicht mehr Mut zur Gegenwart? Ja, vieles wird zu Ende gehen. Aber warum nicht den Dingen ihre Zeit lassen – die Aufgabe eingeschlossen, sie gut zu Ende zu bringen, wenn sie ihre Zeit gehabt haben.
Zu oft entsteht bei haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die bisher gut und beständig ihre Arbeit getan und dabei kontinuierlich versucht haben, dranzubleiben an dem, was die Situation vor Ort erfordert und ermöglicht, der Eindruck, das alles zähle nicht mehr. Es gehe jetzt darum, die Dinge ganz anders, eben richtig innovativ zu machen. – Wen wundert da die Ermüdung?
Bei aller berechtigter Sorge um die pastoralen Strukturen der Zukunft: Lasst Gemeinden sein was sie sind, so lange sie es sind! Erspart ihnen Prozesse, die nur dem Überleben der Organisation und zu wenig dem Glaubenkönnen der Menschen heute dienen. Aber helft ihnen entdecken, was aus ihnen werden will, wenn sie danach fragen. Es muss nicht immer alles innovativ sein. Es genügt gegenwärtig und in Bewegung zu sein.
Eine Kirche, die angestrengt daherkommt, braucht niemand.
Text und Bild: Dr. Judith Müller ist Theologin, Seelsorgerin, Organisations- und Gemeindeberaterin in München.