Engel haben ein überraschendes Comeback gefeiert. In der Zwischenzeit sind sie flügge geworden und haben ein hybrides Eigenleben entwickelt. Gerrit Spallek eröffnet eine kleine Reihe.
Glauben Sie an Engel? Diese Frage ist mir neu. Weder in der Universität noch in der Kirche wurde ich mit dieser Frage konfrontiert. Das liegt zugegebenermaßen vielleicht auch an meiner Strategie, Begriffe, die ich in der Liturgie nicht verstehe, erst einmal hintenanzustellen: Zerdacht wird später, jetzt wird Gottesdienst gefeiert. Bis weit in meine Studienzeit hinein war es für mich daher ausreichend plausibel, dass Seraphim und Cherubim wahnsinnig tolle Dinge sein müssen, mit denen sich Gott preisen lässt – wer braucht da schon Gold, Weihrauch oder Myrre?
Die Engel von heute sind flügge geworden. Sie führen ein hybrides Eigenleben.
Engel galten lange Zeit als abgemeldet. In der Zwischenzeit haben sie ein unerwartetes Comeback gefeiert. Spurlos vorbeigegangen ist die Zeit an ihnen aber nicht. Sie haben sich unbeobachtet emanzipiert und das Deutungskorsett institutioneller Religiosität und etablierter Traditionen links liegen gelassen. Heute führen sie ein hybrides Eigenleben.
Derzeit begegnen mir Engel sehr häufig. Ich finde sie u.a. als Miniaturen in Wohnzimmern oder auf Friedhöfen, sie sind ein beliebtes Motiv in der Kunst, Musik, Literatur, Film und Fernsehen. Zur Taufe meines Patenkindes habe ich selbst einen verschenkt. Bei YouTube lassen sich sogar Beweisvideos ihrer Existenz finden. Nur in Hörsäle von Theologievorlesungen verlaufen sie sich sehr selten.
Theologen haben die Verselbstständigung der Engel vorgemacht und zur Nachahmung freigegeben.
Manche Theologinnen und Theologen beklagen die gegenwärtig unsachgemäße, bisweilen missbräuchliche Verwendung des Engelmotivs. Auch sie müssen aber resigniert einsehen, dass Theologie und Kirche ehemalige Deutungshoheit und Besitzansprüche längst eingebüßt haben.
In der Theologie spielen Engel heute nicht mal eine Nebenrolle. Das war nicht immer so. Ein Blick in die Theologiegeschichte verrät allerdings, dass Theologen die gegenwärtige Entwicklung maßgeblich vorbereitet haben. Sie haben die Verselbstständigung der Engel vorgemacht und zur Nachahmung freigegeben. Als Forschungsgegenstand wurden die Engel aus dem Zusammenhang gerissen. Von Interesse wurden ihr Wesen und ihre Beschaffenheit. Die Zusammenhänge, in denen von Engeln besonders in der Bibel gesprochen wurde, rückten hingegen weit in den Hintergrund.
Für die Theologie bleibt essentiell gar nichts übrig, was sich am Engel sezieren ließe.
Aufbauend auf den Überlegungen von Thomas von Aquin (dem „doctor angelicus“) entwickelte sich auf diese Weise so etwas wie eine engelbezogene „Physik der Superhelden“ (Link zu einem Artikel auf welt.de). Zwei Beispielfragen: Nehmen Engel als immaterielle Wesen eine Raum-Zeit-Koordinate ein? Ja, aber auch nur eine. Sie können nicht an mehreren Stellen zugleich sein. Wie schnell müssen sich die Engel dann aber bewegen können, damit sie ihren Dienst verrichten können? Mit „unvorstellbarer Schnelligkeit“! (M. Schmaus, Katholische Dogmatik II)
Karl Barth (Kirchliche Dogmatik III, 3) hat vielleicht am schärfsten erkannt, was verloren geht, wenn Engel in einer derart verselbstständigten Form auf den Seziertischen theologischer Spekulation landen. Wer auf diese Weise nach dem Wesen der Engel an sich fragt, entstellt genau das, als was Engel erscheinen, wenn dem Zusammenhang ihres Auftretens Beachtung geschenkt wird. Geht es in der Bibel um Engel, so Barth, geht es nie um sie selbst, sondern immer um etwas anderes. Ihrem Wesen nach scheinen die biblischen Engel reiner Gottesdienst zu sein: „Sie existieren und agieren nie selbstständig, nie für sich.“ Wo ein Engel erscheint oder wirkt, da erscheint oder wirkt Gott selbst. (Barth: 562) Für die Theologie bleibt demnach essentiell also gar nichts übrig, was sich am Engel sezieren ließe.
Engel haben ein durchaus diverses Eigenleben außerhalb theologischer Selbstverständlichkeit entwickelt.
Heute haben Engel ein schwer zu fassendes und durchaus diverses Eigenleben außerhalb theologischer Selbstverständlichkeit entwickelt. Auch hier ließe sich die Frage stellen, ob diese Engel nicht ebenso verkannt werden, wenn isoliert nach ihrem Wesen gefragt wird, aber Kontext, hintergründige Erfahrungswelt und ihre Zeichenhaftigkeit außer Acht gelassen werden.
Auf den ersten Blick wirkt der heutige Zugriff auf das Engelmotiv mal eher postmodern, entmythologisiert und bewusst in Szene gesetzt, ein anderes Mal eher unbeholfen, vormodern oder auch kindlich naiv.
Mit Engel Geld lässt sich Geld verdienen.
Letzteres liegt auch daran, dass sich mit Engeln Geld verdienen lässt. Ratgeber und Handschmeichler im Engelsformat verkaufen sich gut. Juweliere dürften sich darüber freuen, dass der Ausdruck guter Wünsche eine neues Motiv zur Materialisierung gefunden hat – erst recht, wo doch das Folterinstrument des Kreuzes immer weniger als Geschenk taugt, weil es symbolisch mit dem Tod verbunden wird, nicht aber mit dem Leben. Und wer in der letzten Zeit einen Friedhof besucht hat, wird feststellen, dass hier ein ganz eigener Trauerritus entstanden ist. Auf den Gräbern oder in Kolumbariennischen findet sich eine ganze Schar kleiner Grab- oder Trauerengel als vermarktbare Mitbringsel.
Die Bedeutung von Putten erstreckt sich in ihrer Bedeutungslosigkeit.
Bei der konkreten Darstellung der Engel lassen sich mal mehr, mal weniger Bezüge zu etablierten Religionen und weltanschaulichen Konzepten ziehen. Oft bestechen aufgegriffene Engelmotive durch ihre hohe Bedeutungsoffenheit. Dies wird noch einmal dadurch unterstrichen, dass es sich bei den meisten Engelsdarstellungen ikonographisch genaugenommen um Putten handelt. Ein Putto als Motiv ist maximal bedeutungsoffen, weil er ursprünglich gar keine Bedeutung hat. Putten sind ihrem Wesen nach Zier- und Füllmotive, keine Bedeutungsträger. Ansonsten erstreckt sich die Bedeutung eines Putto in seiner Bedeutungslosigkeit. Treffen sie genau deshalb vielleicht den Zahn der Zeit?
Hat Theologie bereits das Wichtigste in Hinblick auf das Gegenwartsphänomen der emanzipierten Engel verstanden, ohne es selbst zu merken?
Für die Theologie sind Engel zumindest im deutschen Sprachraum größtenteils bedeutungslos geworden. Hat sie so gesehen also bereits das Wichtigste in Hinblick auf das Gegenwartsphänomen der emanzipierten Engel verstanden, ohne es selbst zu merken? Auch hier werden wir Kontext, hintergründige Erfahrungswelt und Zeichenqualität nicht außer Acht lassen dürfen. Die entscheidende Frage scheint daher nicht annähernd beantwortet, sondern gerade erst gestellt zu sein.
Fortsetzung folgt:
Gott weiß, ich will kein Engel sein! Er selber ja auch nicht…
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Gerrit Spallek ist Theologe am Institut für Katholische Theologie der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net. Im Rahmen seiner Forschung verbringt er aktuell sehr viel Zeit auf dem größten Parkfriedhof der Welt.
Literaturempfehlung: Katechetische Blätter (KatBl) 135 (2010), Heft 6: Themenheft: Engel
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