Fernseher, Waschmaschinen und Körperkult haben eine Gemeinsamkeit: Sie konfrontieren mit unzähligen Möglichkeiten. In dieser Kolumne führt Stefan Gärtner aus, warum weniger Optionen mehr Freiheit bedeutet.
Dieser Beitrag erscheint zeitgleich bei y-nachten, einem Blog-Projekt junger Theolog*innen aus Freiburg. Morgen erscheint auf beiden Plattformen eine Response.
Bei meinen Eltern Fernsehen zu schauen, ist eine komplexe Angelegenheit. Sie haben eine Satellitenschüssel, die ihnen sowohl die japanische Originalübertragung eines Sumo-Ringkampfs als auch den Wetterkanal von Nordwestkanada auf den Schirm zaubert. Das Endgerät ist ebenfalls eindrucksvoll mit Bild-im-Bild Funktion, Aufnahmetaste, Wiedererkennung der Sehgewohnheiten und Klangoptimierung. Es gibt hundert Möglichkeiten, von denen sie aber nur einen Bruchteil nutzen. Beide haben mühsam eine Favoritenleiste mit zehn Sendern erstellt. Es erweist sich schon als schwierig den elften zu finden, den der Gast gerne sehen möchte.
Ungeheure technische Möglichkeiten, die brachliegen. Das ist keine Altersfrage. Die Programmtasten der modernen Waschmaschinen lassen sich auf jede Stoffsorte präzise abstimmen, doch eigentlich reichen Bunt- und Kochwäsche aus. Oder man lese einmal die Gebrauchsanweisung des eigenen Autos. Man wird überrascht sein über die vielen Funktionen, die es neben dem Fahren noch beherrscht.
Das Individuum will mit der beschleunigten Gesellschaft Schritt halten, … doch man kommt immer häufiger zu spät.
Hartmut Rosa weist in seiner Gesellschaftstheorie darauf hin, dass die Steigerung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen den Menschen gleichzeitig an neue Grenzen führt.[1] Die Menschen haben mehr Freiheiten, aber bei allem, was sie tun, merken sie auch, was sie nicht können. Autonomie als Selbststand wird durch die Dynamik der sozialen Veränderungen unterlaufen.
Das Individuum will mit der beschleunigten Gesellschaft Schritt halten, denn das Leben muss weitergelebt werden, doch man kommt immer häufiger zu spät. Wer dagegen stillsteht, dem rutscht der Boden unter den Füßen weg, weil sich die Welt um ihn oder sie herum permanent entwickelt. Autonomie wird unterstellt, sie droht jedoch selbstwidersprüchlich zu werden.
Der eigene Körper ist heute eine Gestaltungsaufgabe. Das Paradoxe: Der Idealzustand wird nie erreicht.
Die Komplexität der Technik ist nur ein Beispiel. Der eigene Körper ist heute kein Schicksal oder ein Wunder der göttlichen Schöpfung mehr, sondern eine Gestaltungsaufgabe. Gesundes Essen, genügend Sport, der Verzicht auf Nikotin, zurückhaltender Alkohol- und Medizingebrauch und eine ausgeglichene Work-Life-Balance gelten als Standardnorm. Darüber hinaus kann man seinen Körper auch direkt bearbeiten durch Krafttraining, Intimschmuck, Gewichtsabnahme, Tätowierungen oder plastische Chirurgie.
Das Paradoxe dieser Gestaltungsfreiheit ist, dass jemand den angezielten Idealzustand nie erreicht, weil sich die Parameter von Schönheit und Attraktivität ständig ändern. So wird man abhängig von einem Versprechen, das nicht einzulösen ist. Auch Gesundheit, insofern man diese breiter auffasst als die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung, erweist sich als Näherungswert.
Das Immer-mehr verspricht größere Freiheiten, doch schränkt es diese offenbar ein.
Ein Kollege von Rosa, der Amerikaner Richard Sennett, erwartet, dass dies alles zur Zersetzung der Idee der autonomen Persönlichkeit führt. Insbesondere die Arbeitswelt fordert Biegsamkeit von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Das führe zur Perforierung ihres Charakters.[2] Anders kann der Kampf um mehr Leistung und Effektivität nicht bestanden werden. Gleichzeitig sind die Folgewirkungen wie Überarbeitung, Herzkreislaufstörungen, Suchtverhalten oder psychische Probleme verdunkelt. Sie werden dem oder der Einzelnen angerechnet, damit der Rhythmus des kapitalistischen Wirtschaftens nicht aus dem Takt gerät.
Das Immer-mehr hat somit Folgen für die Lebensführung. Zwar verspricht es größere Freiheiten, doch schränkt es diese offenbar ein. Zudem gibt es Menschen, die von vorneherein von der Steigerung der Handlungs- und Selbstgestaltungsmöglichkeiten ausgeschlossen sind, etwa weil sie sich illegal im Land aufhalten, keinen Zugang zu elektronischen Medien haben, arm oder chronisch krank sind. Ihre Exklusion vom Autonomieversprechen kann so weit gehen, dass sie aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeblendet werden. Sie scheinen nicht zu bestehen und können somit die Logik der Steigerung nicht stören.
Die Steigerung aller Optionen hat zur Folge, dass der Mensch seine Autonomie verliert.
Immer mehr wird aber eigentlich zu immer weniger. Die Steigerung aller Optionen hat zur Folge, dass der Mensch seine Autonomie verliert. Neben dem erzwungenen Ausschluss bleibt nur der freiwillige Verzicht. Dem Steigerungszwang müsste der bewusste Verbleib in einer bestimmten Lebenssituation entgegengehalten werden und der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten die der qualitativen Gestaltung der bestehenden.
Der Verzicht auf Optionen führt zu mehr Autonomie.
Gerade der Verzicht auf Optionen führt zu mehr Autonomie. Der oder die Einzelne kann wieder Verantwortung für das eigene Leben und das anderer übernehmen. Was die Religionen und die Philosophie Askese nennen, bremst die allgemeine soziale Beschleunigung zwar nicht völlig ab. Das ist heute unmöglich geworden. Wohl schafft Askese eine relative Bewegungsfreiheit. Tiefgang ersetzt den strukturellen Zwang zur Oberflächlichkeit. Man schlägt Möglichkeiten in den Wind, um die wenigen, die man wählt, bewusst zu gestalten. Ein Ausstieg aus der Sozialwelt wäre naiv, aber man kann ihren Rhythmus durch Verzicht entschleunigen.
Friedrich Christian Delius lässt den Erfinder des Computers, Konrad Zuse, am Ende seines Lebens konstatieren: „Ich habe einiges dazu beigetragen, die Rechenleistungen zu vervielfachen und die Welt schneller zu machen. Jetzt erlaube ich mir den Luxus, nicht so dumm zu werden wie Herr Faust, der nie genug kriegen konnte, dem alles nicht schnell genug ging. Der Goethe lässt den Trottel Faust blind und dumm sterben, das soll ja wohl der Abschreckung dienen. Also, langsamer werden! Intensivierung statt Maximierung!“[3] Weniger entpuppt sich dann als mehr. Darum: Kauft den Fernseher, die Waschmaschine oder das Auto mit den wenigsten Knöpfen! Akzeptiert euren Körper wie er ist! Faulenzt auf der Arbeit!
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Stefan Gärtner ist Assistant Professor für Praktische Theologie an der Tilburg School of Catholic Theology, Niederlande.
Bild: pixabay
[1] Vgl. Hartmut Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, Berlin 22013, 243-257; 296-322.
[2] Vgl. Richard Sennett, The corrosion of character. The personal consequences of work in the new capitalism, New York 1998.
[3] Friedrich Christian Delius, Die Frau, für die ich den Computer erfand, Berlin 2009, 265.