Bereits im Mittelalter galt: Wissenschaft ist sexy. Jenseits von Romantisierung und Dekonstruktion analysiert Theresia Heimerl eine der großen Lovestorys der Geschichte und findet erstaunliche Bezüge zu heutigen Lebensverhältnissen.
„Von Heloise aber glaubte ich, dass sie sich mir umso lieber hingeben werde, als sie wissenschaftliche Bildung besaß und eine Vorliebe für die Wissenschaften hatte.“ (epistula I)
So beginnt eine der großen Lovestorys des Mittelalters, ein Maienlied, wie es in der Lyrik dieser Zeit heißt, das, anders als jenes von Tristan und Isolde, auch noch wahr ist. Wahr ist zumindest die Beziehung des für die Philosophie- und Theologiegeschichte wichtigen Petrus Abaelardus (1079 – 1142) mit einer jungen Frau, deren Namen er selbst als Heloisa überliefert und die ihm den Verlust seiner Geschlechtsteile sowie Berühmtheit über die heute doch ein wenig exotisch wirkende Universalienlehre hinaus eingebracht hat.
Wo sonst findet sich weibliche Bildung explizit als Grund für männliches erotisches Interesse?
Ob es in Wahrheit eine große Lovestory war? Generationen von Theologen und Philosophen haben sie ihren Studentinnen als solche erzählt, natürlich nur aus historischer Verzückung und ganz ohne Hintergedanken. Und gerade die intelligenten Studentinnen haben sie gerne gehört, diese mittelalterliche Liebesgeschichte. Wo sonst in der gesamten Weltliteratur findet sich weibliche Bildung so explizit als Grund für männliches erotisches Interesse? Wissenschaft ist sexy. Keine universitäre PR-Abteilung hat das jemals besser zu vermitteln verstanden als Abaelard in jenen wenigen Sätzen, in denen er erstens sich selbst, zweitens Heloise und drittens ihre wechselseitige erotische Attraktivität dank hoher Bildung beschreibt. Dass man auch nicht schlecht aussah, ist nonchalant in zwei Nebensätze verpackt.
Die Geschichte von Abaelard und Heloise wurde, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, von jenen Männern zur großen Lovestory gemacht, die selbst Wissenschaft sexy und in Abaelard ein mittelalterliches, ideales alter ego fanden, das sie selbst, bis hin zum berühmten Mediävisten Jacques LeGoff, vom akademischen Betrieb des 19. und 20. Jahrhunderts eingeengt, gerne gewesen wären: nonkonformistisch, kritisch, ein Star bei den Studenten, mit der politischen Elite per du – und von jungen, intelligenten Frauen begehrt. Soweit, so gendergeschichtlich dekonstruiert. Allerdings nur zur Hälfte.
Romantisierung und Dekonstruktion.
Die andere Hälfte des making of der großen Lovestory geht auf das Konto von Frauen, die vor allem in literarischen Überarbeitungen sich der Geschichte annahmen und eine Art kritische Fan-Fiction schrieben: Was Heloise, was der im mittelalterlichen Original nur mit einem Satz erwähnte Sohn der beiden, Astrolabius, gedacht und gefühlt haben könnten. Ihnen, allen voran der deutschen Autorin Luise Rinser, verdankt sich eine Wahrnehmungsverschiebung der Geschichte in Richtung Dornenvögel: Abaelard als zwischen Gott, theologieprofessoralem Ego und einer Frau hin- und hergerissenem Mann und eine Heloise, die hemmungslos unter der kirchlichen Moral leidet und ebenso hemmungslos den unerreichbaren Mann anschmachtet. Die Geschichte von Abaelard und Heloise funktionierte als große Lovestory in einem romantischen (im Sinn des 19. Jahrhunderts und seines Wissenschaftsverständnisses), kritisch-christlichen, akademischen Kontext.
Die Zeiten ändern sich und wie alle großen Erzählungen sind auch die großen Lovestorys vorläufig zu Ende: Professoren heute trauen sich einen Text wie den Briefwechsel Abaelards mit Heloise nur noch als Beispiel mittelalterlicher Geschlechterungerechtigkeit und Machtverhältnisse zu analysieren und ihre Studentinnen pflichten ihnen bei: Ein Professor, der unter dem Vorwand des wissenschaftlichen Privatissimums eine noch minderjährige, in einem Abhängigkeitsverhältnis stehende Frau ins Bett zerrt, das geht gar nicht. Damit es erst gar nicht passieren kann, dass die Hand des Lehrenden „an den Busen“ (epistula I) der Studentin wandert, bleibt entweder die Bürotür offen oder es wird gleich online gelernt.
Jenseits von Kitsch und politischer Korrektheit: ein dritter Annäherungsversuch in historischer Nüchternheit.
Nach der Romantisierung und der Dekonstruktion also ein dritter Annäherungsversuch, sozusagen jenseits von Kitsch und politischer Korrektheit. Unter Bedachtnahme des aktuellen Kenntnisstandes über mittelalterliche Lebens- und Geschlechterverhältnisse war die Beziehung zwischen Petrus Abaelardus und Heloisa, Nichte des Kanonikus Fulbert, im Paris des 12. Jahrhunderts wohl tatsächlich eine Lovestory. Die Alternative für die junge, offensichtlich sehr intelligente Heloisa zum deutlich älteren Philosophen wäre eine arrangierte Ehe gewesen mit der Aussicht auf weit mehr als eine Schwangerschaft und einem hohen Sterberisiko bei einer der Geburten. Ob sich dieser Mann ebenso für ihre Bildung oder eher für ihre Mitgift interessiert hätte, bleibt offen.
Diese Alternative lässt Abaelard Heloise selbst an späterer Stelle in einer Art und Weise beschreiben, dass man meint, Simone de Beauvoir oder Elisabeth Badinter zu lesen: „Wer kann sich mit Betrachtung der Schrift oder mit dem Studium der Philosophie abgeben und dabei das Geschrei der kleinen Kinder (…) hören? Wer mag die beständige widerliche Unreinlichkeit der Kinder gern ertragen?“ (epistula I) Literarischer Topos hin oder her: So etwas hört der katholische Familienverband gar nicht gern, und das kirchliche Lehramt würde sich ein Nihil obstat wohl auch schwer überlegen, wenn ein Professor eine Frau mit solchen Ideen in einer rechtlich unklaren Beziehung an seiner Seite hätte.
Die Frage nach Alternativen …
Zumindest bis zur Kastration Abaelards durch den bösen Onkel Heloisas war die junge Frau für mittelalterliche Verhältnisse tatsächlich in der raren Situation einer erotischen Liebesbeziehung, wie sie sonst nur Minnesänger imaginierten, dezente SM-Spielchen über offenen Büchern inklusive. Zugegeben: Dann wird es mühsam. Dem Philosophen bleibt nichts übrig, als sich seine Depravation spirituell schön zu reden, und Heloisa darf den Rest ihres Lebens in wechselnden Klöstern verbringen, von ihrem Ex-Liebhaber ständig ermahnt, doch den vergangenen Freuden nicht mehr nachzutrauern.
Mit Anfang zwanzig und entsprechender erotischer Vorerfahrung sicher frustrierend, aber auch hier muss man historisch nüchtern die Alternativlosigkeit konstatieren. Oder besser gesagt: Die noch schlimmere Alternative: Jemand heiraten, der die „entehrte“ Frau gnadenhalber nimmt? Das Kloster war, wie auch die feministisch-kritische Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, für Frauen im Mittelalter nicht jener schlimme Kerker, als den es Diderot dann im 18. Jahrhundert nicht ganz tendenzfrei ausmalt, sondern ein Ort relativer Autonomie, wie auch die späteren Briefe Heloises zeigen: Kalt, verlaust, arbeitsreich, aber das galt für alle Orte des Mittelalters und frau konnte zumindest selbst gestalten.
… und das akademische Spiel mit Zitaten.
Ob sie dabei wirklich allzu oft an die intimen Begegnungen mit Abaelard gedacht hat, wie der Briefwechsel behauptet, lässt sich historisch redlich nicht beantworten. Zum einen, weil diese Briefe, wie so viele Texte von Frauen dieser Zeit, natürlich auch von einem oder mehreren Männern überarbeitet worden sein könnten und vermutlich auch wurden. Zum anderen, weil es sich bei diesen Briefen auf beiden Seiten eben um Texte von akademisch gebildeten Personen handelt, die gerne zitieren und mit ihrer literarischen Vorbildung spielen.
Hier gilt dasselbe wie für die mittelalterliche Liebesmystik: Wenn Mechthild von Magdeburg das Hohe Lied und die Minnelyrik zitiert, kann sie trotzdem das Zitierte gefühlt haben. Und was das Geschlechterverhältnis als Machtgefälle betrifft: Das Verhältnis der Geschlechter war im Mittelalter, auch dank der theologischen und kirchlichen Lehre, kein gleichberechtigtes, sondern von Macht des Mannes über die Frau geprägt. Abaelard setzt immerhin auf Verführung durch seinen wissenschaftlichen Ruf, nicht auf naturgegebene Unterwerfung. Für mittelalterliche Verhältnisse also tatsächlich eine große Lovestory.
Selbstliebe und Fernliebe:
Konstanten an mittelalterlichen wie auch heutigen Universitäten?
Und heute? Was bleibt für eine relecture im Jahr 2017 übrig? Als erstes einmal die amüsante Erkenntnis, dass Hochmut, Neid und Selbstverliebtheit als Lieblingssünden an der Universität seit deren Entstehen unter maßgeblicher Beteiligung eben jenes Abaelards unverändert geblieben sind. Noch bevor Abaelard uns von Heloise erzählt, stellt er sich als akademischer Shooting-Star vor, der wohl jedes philosophische Quartett aufmischen würde. Dass er auf den Intellekt seines erotischen Interesses wert legt, ist auch im 21. Jahrhundert sehr erwähnenswert. Ist es unmoralisch? Nun ja. Erotisches Begehren entsteht in der Regel nicht unter vorheriger Abklärung aller Normen und codes of conduct.
Vor allem aber beachtenswert ist das Modell der „Fernliebe“, wie es bei einer anderen hochgebildeten Französin des Mittelalters, Marguerite Porete, heißt. Was bleibt, wenn er, möglicherweise sogar wegen Beziehung zu einer Studentin der Uni verwiesen, in der akademischen Welt herumreist, in Nogent-sur-Seine, Harvard, Freiburg lehrt und sie – und hier adaptieren wir die weiblichen Lebensverhältnisse an die Gegenwart – ebenso „auf irdischer Pilgerschaft“ (epistula IV) von einer Post-doc-Stelle zur nächsten flotiert?„Ich sagte mir, dass wir infolgedessen (i.e. der gemeinsamen Bildung und wissenschaftlichen Interessen) selbst in die Ferne schriftlich miteinander verkehren konnten“ (epistula I).
Skype, Facetime, Smartphone haben die Briefe längst ersetzt, das Modell der Fernbeziehung ist in jenen Kreisen aktueller denn je. Aber vielleicht ist die „Fernliebe“, liest man den mittelalterlichen Briefwechsel aus postmoderner Distanz, auch die notwendige Zutat zur langjährigen Liebesgeschichte, die aus der Erinnerung an ungezügeltes Begehren, lustvollem Ignorieren von Konventionen, nicht minder lustvoller Reue und kunstvoll-verspielten Zitaten lebt, deretwegen man ja einander damals erst nähergekommen ist.
Tatsächlich eine große Lovestory.
Wer dann nach Jahren oder gar Jahrzehnten noch etwas wie das Folgende lesen darf, hat wohl tatsächlich auch heute seine Lovestory erlebt: „Und nicht allein was wir getan, steht lebendig vor meiner Seele; nein, auch die Orte, die Stunden, in denen wir gesündigt, haben sich so fest meinem Herzen eingeprägt, dass ich immer wieder aufs Neue alles mit dir durchlebe und auch im Schlaf keine Ruhe finden kann. Dann und wann verrät eine unwillkürliche Bewegung des Körpers meines Herzens Gedanken oder ein Wort, das sich mir wider Willen auf die Lippen drängt.“ (epistula IV)
Literaturhinweise
Für alle, die im Wonnemonat Mai akademisch fundiert verführen oder verführt werden wollen: http://www.gutenberg.org/files/44051/44051-h/44051-h.htm.
Jacques LeGoff, Die Geburt Europas im Mittelalter, München 2004 (Kapitel Abaelard und Heloise: moderne Intellektuelle und moderne Lieben.)
Luise Rinser, Abaelards Liebe, Frankfurt/Main 1991.
Marion Meade, Stealing Heaven, New York 1985; verfilmt 1988 (dt. Titel: „Zeit der Dunkelheit“).
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Ao.Univ.-Prof. DDr. Theresia Heimerl ist Religionswissenschafterin in Graz.
Bild: https://www.google.de/search?q=heloise+und+abaelard&hl=de&site=webhp&source=lnms&tbm=isch&sa=X&sqi=2&ved=0ahUKEwiktN2OhrHTAhUCiiwKHXBTDWMQ_AUIBigB&biw=1680&bih=920#imgrc=-x7OOTjE2_vXGM: